E-Book, Deutsch, 496 Seiten
Chu Zeitkurier
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-18443-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 496 Seiten
ISBN: 978-3-641-18443-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Erde hat sich in der Zukunft in ein verseuchtes Ödland verwandelt, und die Menschheit musste ins äußere Sonnensystem ausweichen. Dort, in den Weiten des Alls, sind Ressourcen allerdings ein seltener Luxus, und so bedient sich die menschliche Zivilisation der Zeitreise als letztes Mittel. Sogenannte Zeitkuriere reisen in die Vergangenheit, um dort nach Ressourcen und Antworten zu suchen. Bei seinem letzten Auftrag macht der Zeitkurier James Griffin-Mars jedoch den größten Fehler: Er greift in die Zeitlinie ein – und rettet eine Frau. Jetzt bleibt ihnen nur noch die Flucht in die Gegenwart …
Wesley Chu, 1976 in Taiwan geboren, wuchs in den USA auf und studierte Management und Informatik an der Universität von Illinois. Nach einigen Jahren als Berater, Banker und Stuntman wurde sein Erstlingsroman "Das Leben des Tao" ein großer Erfolg. Mit "Der Zeitkurier" hat Wesley Chu internationale Anerkennung gewonnen. Er lebt mit seiner Familie in Chicago.
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01
ENDZEIT
Ein Lichtbalken bohrte sich durch das Nichts und schoss zum Zentrum der taktischen Karte. Auf der Brücke hielten die Besatzungsmitglieder gleichzeitig den Atem an und verfolgten den Weg des Lichtstreifens durch das All. Im Raum herrschte Totenstille, wenn man von der monotonen Stimme absah, die die Sekunden bis zum Einschlag herunterzählte. Dann entstand eine Explosionswolke in der Größe eines Daumennagels, blähte sich auf, bis sie die Hälfte des Displays einnahm, und verblasste wieder.
Auf der Brücke brachen Jubelrufe aus, als das Flaggschiff der Neptune Divinity von der holografischen Anzeige verschwand. Der Jubel war jedoch nur von kurzer Dauer. Kapitän Dustinius Monk übertönte die Rufe.
»Stationsstatus!«, befahl er, und die unangenehmen Meldungen über den Zustand des Raumschiffs kamen herein.
»Schilde zusammengebrochen«, meldete ein Adjutant auf der Brücke.
»Manövrierdüsen offline«, fügte ein anderer hinzu.
»Hüllenbruch im Heck.«
Die Liste der Schäden wurde länger, je mehr verhängnisvolle Meldungen von den Stationen eingingen. Es war ein Wunder und ein Beweis für die Fähigkeiten der Mannschaft, dass die High Marker, das Flaggschiff der Technology Isolationists, überhaupt noch flog.
Grace Priestly gähnte gelangweilt. Sie war eigentlich immer gelangweilt, wenn sie sich mit den quälend langsamen Denkprozessen der Durchschnittsmenschen konfrontiert sah. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie lange sie warten musste, bis endlich einmal jemand etwas Interessantes sagte.
Monks Stellvertreter schien der Panik nahe, als er Bericht erstattete. »Kapitän, die Schockwelle der Explosion ist noch nicht vorbei!« Das Geplapper erstarb, und wieder breitete sich Totenstille aus.
»Können wir nicht wenigstens einen Schild aktivieren?«, fragte Monk.
»Nicht ohne umfangreiche Außenreparaturen.«
»Flickt mir einen verdammten Schild, damit ich die Druckwelle ablenken kann!«, brüllte Kapitän Monk in die angespannte Atmosphäre. Der Rest der Brückenbesatzung war vor Angst erstarrt. »Was ist mit dem Antrieb? Seitliche Schubdüsen? Können wir das Schiff bewegen? Gebt mir irgendetwas, verdammt!«
»Wir schweben antriebslos im Raum, Kapitän.« Der Adjutant, der neben ihm stand, schüttelte den Kopf. »Kraftwerksleistung ist auf sechs Prozent gefallen. Anscheinend wurde auch die Titanquelle beschädigt.«
»Leiten Sie sofort die Energie um.«
Der Adjutant erbleichte. »Kapitän, die Systemadjutantin berichtet, dass der Umsetzer zerstört wurde.«
»Zerstört? Wie ist das möglich?«
»Das weiß sie nicht, Kapitän.«
Monk öffnete ein Display und starrte die Druckwelle an, die vom Flaggschiff der Neptune Divinity ausging. Auf einem zweiten Bildschirm überprüfte er die Daten. Schließlich zuckte er zusammen und wurde kreidebleich.
Er blickte zu Grace, die kalt und gleichgültig zurückstarrte. Dann erteilte er rasch zahlreiche Befehle und tat alles, was er konnte, um die drohende Katastrophe abzuwenden. Alle Besatzungsmitglieder arbeiteten hektisch, während die Schiffsuhr die Zeit bis zum Aufprall der heranrasenden Druckwelle runterzählte.
Grace war klar, dass das alles nichts mehr nützte. Seit dem Moment, als die Fusionsrakete das feindliche Schiff getroffen hatte, waren sie dem Untergang geweiht. Hauptantrieb und Steuerdüsen waren außer Betrieb, alle drei Schilde waren inaktiv. Die High Marker war völlig wehrlos. Die Druckwelle würde sie aus dem Sonnensystem in Richtung der Heliopause schleudern. Von dort war noch nie ein Schiff zurückgekehrt.
Beiden, Grace wie auch Monk, war völlig klar, dass es höchstwahrscheinlich genau darauf hinauslaufen würde. Nachdem der Antrieb der High Marker ausgefallen war, hatte er sie um die ausdrückliche Genehmigung bitten müssen, trotz der geringen Entfernung eine planetenbrechende Rakete einsetzen zu dürfen. Obwohl alles dagegen sprach, hatte sie die Erlaubnis erteilt. Wenn sie schon sterben mussten, wollten sie wenigstens den Feind mitnehmen.
Der Kapitän und seine Crew kämpften, um die High Marker zu retten, doch soweit es Grace betraf, hätten sie ebenso gut versuchen können, die Toten zu erwecken. Davon gab es auf dem Schiff ohnehin schon genug.
Trotzdem amüsierte sie sich darüber, dass Monk sich so sehr bemühte, das Unausweichliche abzuwenden. Der Kapitän war ein kluger Mann und hatte seine achtzig Lebensjahre ausschließlich im Weltraum verbracht. Hätte Grace es nicht besser gewusst, dann hätte sie tatsächlich glauben können, dass der gute Kapitän sich die allergrößte Mühe gab, das Schiff zu retten. Natürlich durchschaute sie ihn. Wenn die Oberin der Technology Isolationists auf seinem Schiff starb, würde seine ganze Familie ewig in Schande leben.
Vielleicht verstellte sich Kapitän Monk auch gar nicht, sondern machte sich etwas vor und glaubte, er könnte wirklich ein Wunder vollbringen. Grace hoffte allerdings, dass dies nicht zutraf. Es wäre unerfreulich, wenn sie einsehen müsste, dass sie einen Schwachsinnigen zum Kommandanten des Flaggschiffs ernannt hatte. Nein, es gab keine Wunder, und Grace hatte keine Lust mehr, die sinnlose Übung zu beobachten. Die High Marker war dem Untergang geweiht.
Die Druckwelle erfasste das Schiff, es ruckte, und wer stand, wurde von den Beinen gerissen. Ein halbes Dutzend weitere Alarmmeldungen flackerten auf dem taktischen Display. Grace saß im Schwerkraftsessel und sah der Mannschaft zu, die sich beeilte, die neuen Gefahren zu bekämpfen, während die High Marker von der Welle mitgerissen wurde.
Grace stand auf und sah ihren Knecht an. »Komm mit, Swails. Wenn der gute Kapitän bereit ist, Bericht zu erstatten, kann er mich in meiner Kabine aufsuchen.«
Der Knecht stand auf und schritt neben ihr her. Mit ihren runzligen Händen streichelte sie sein makelloses Gesicht. Der arme Idiot war unfähig zu begreifen, was gerade geschah. Wahrscheinlich war in seinem schönen Kopf noch nie ein eigenständiger Gedanke entstanden, aber genau so mochte sie ihre Knechte. Die Brückenbesatzung unterbrach die Arbeit und hielt respektvoll inne, als sie vorbeiging.
»Oh, versucht nur weiter, das Schiff zu retten«, sagte sie, als sie hinausschwebte. Die Trottel würden sich bei diesem sinnlosen Spiel zu Tode schuften. Was für eine Verschwendung. Eigentlich hätte Grace doch gedacht, dass sie die Technology Isolationists zu größerer Klugheit angeleitet hatte.
»Komm schon, Knecht«, sagte sie und winkte Swails, als sie den mit Trümmern übersäten Gang hinunterlief. Die High Marker war das modernste Schiff, das die Menschheit je gebaut hatte. Was es den Technology Isolationists an Personal und Ressourcen mangelte, machten sie durch Fortschritte in der Energieerzeugung und andere technische Errungenschaften mehr als wett. Andererseits konnte ein zahlenmäßig überlegener und mit besseren Ressourcen gesegneter Gegner diese Macht bezwingen, und genau das hatte die Neptune Divinity getan. Ohne ausreichende Ressourcen konnte sich keine Fraktion lange halten.
Die High Marker war kurz nach dem Rendezvous mit dem Stützpunkt auf Eris in den Hinterhalt geraten. Das Flaggschiff, zwei Begleitschiffe und rund ein Dutzend Verstärkungseinheiten vom Planeten hatten die mehr als sechzig Einheiten der Neptune Divinity bekämpft und gesiegt. Ein Pyrrhussieg mochte kein echter Triumph sein, doch er war immer noch besser als die Alternative.
Auf beiden Seiten waren in der gewaltigen Schlacht so gut wie alle Schiffe vernichtet worden. Die einzige nennenswerte Ausnahme war die High Marker, die jetzt aus dem Sonnensystem geschleudert wurde. Sofern sie nicht den Antrieb reparieren konnten, was bisher allerdings noch keinem Raumschiff außerhalb des Docks gelungen war, würden sie entweder im kalten Weltraum sterben oder beim Zusammenprall mit irgendeinem Objekt untergehen. Grace hoffte, die High Marker werde wenigstens auf etwas Interessantes wie eine Plasmawolke oder ein schwarzes Loch treffen. Natürlich aus rein wissenschaftlicher Neugierde.
Sie beschloss, die restliche Lebenszeit sinnvoll zu nutzen und sich von ihrem Knecht besinnungslos vögeln zu lassen. Wenn sie schon sterben musste, dann wollte sie dabei wenigstens glücklich sein.
Sie erreichten einen besonders stark beschädigten Bereich des Schiffs. Eine Metallstrebe und mehrere große Trümmerstücke blockierten den Gang. Aus dem Schutt ragte ein verkohlter Beinstumpf. Grace wich vorsichtig aus, um ihr Kleid nicht zu beschmutzen.
»Knecht, hilf mir«, sagte sie.
Er gehorchte willig und hielt sanft ihre Hand, als sie langsam über die Strebe stieg. Für eine Dreiundneunzigjährige bewegte sie sich sehr gewandt. Hinter ihr sprang Swails über das Hindernis und lief neben ihr weiter. Irgendetwas an ihm entsprach nicht dem Bild, das sie von ihm hatte. Sie hatte es gleich bemerkt, als sie an Bord gekommen war. Swails war heute anders als...