Cinelli | Bittersüße Träume | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Cinelli Bittersüße Träume

Die Geschichte der Familie Campari - Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32589-3
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Geschichte der Familie Campari - Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-641-32589-3
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mailand 1882: Als Gaspare Campari, der Erfinder des berühmten Bitterlikörs, völlig unerwartet stirbt, übernimmt seine Frau Letizia erfolgreich die Leitung des Unternehmens und des berühmten Künstler-Cafés in der Galleria Vittorio Emanuele. Wenige Jahre später schickt die mutige Witwe ihren Sohn Davide nach Bordeaux, wo er bei einem Likörhersteller in die Lehre gehen soll. Anstatt sich seiner Ausbildung zu widmen, lässt sich der junge Heißsporn jedoch lieber zu einer Reise nach Paris überreden, wo er sich Hals über Kopf in die Soubrette Leda verliebt. Nach einem Jahr Bohème-Leben kehrt Davide schweren Herzens nach Mailand zurück. Fortan möchte er sich ganz auf seine Familie und die Leitung der Likörfabrik konzentrieren. Doch dann steht Leda vor seiner Tür – mit der Bitte, ihr in einer schrecklichen Lage zu helfen ...

Silvia Cinelli ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin, die an zahlreichen Fernsehserien wie z.B. »I Medici« mitgearbeitet hat.
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1
Mailand, Herbst 1882


Im Dezember waren die Pflanzen im Botanischen Garten des Palazzo Brera ein Versprechen zukünftiger Fülle, das Zeichen, dass es weitergehen würde. Von seiner Bank neben dem Fenster aus betrachtete Davide die kahlen Obstbäume, die ausgedünnten Rosenbüsche und Kameliensträucher, den nackten Stamm der Glyzinie, die mit Regenwasser gefüllten Bewässerungsbecken. Dieses kleine Fleckchen Erde, ein zwischen die Mauern der Stadt eingefasster Edelstein, war nicht immer ein botanischer Garten gewesen: Drei Jahrhunderte zuvor, als der Palazzo noch ein Kloster beherbergte, bauten die Jesuiten hier Gemüse und Heilpflanzen an. Dem Jungen kam es so vor, als könnte er sie vor sich sehen, die ehrwürdigen Mönche, wie sie sich über die Blumenbeete beugten, Unkraut jäteten und die Pflanzen wässerten. Wie sie ihre botanischen Schätze mit der gleichen Hingabe zum Blühen und Gedeihen brachten, wie sie ihre Andachten hielten. Zitruspflanzen, Rosmarin, Anis, Minze, Enzian: Diese weisen und fleißigen Männer kannten die geheimen Kräfte der Natur und gaben sie über Generationen weiter, von Mönch zu Mönch.

Sicher war es Gott selbst, der den Früchten, Blättern, Samen und Wurzeln Heilkräfte und aromatische Essenzen geschenkt hatte. Mit seinem Segen verwandelten die Mönche in ihren Laboratorien die Heilkräuter in Medikamente, gewannen aus ihnen Heilmittel jedweder Art, zum Wohl der Sterblichen. Aber wer weiß, ob es ebenjener Gott oder der Teufel war, der ihnen einflüsterte, aus den gleichen Zutaten, die man in Alkohol eingelegt, durch Destillierkolben geschickt und in Fässern gelagert hatte, Spirituosen und erlesene Liköre herzustellen, die den Gaumen erfreuten und als Allheilmittel für den Geist galten.

»Pst!«

Ein Stoß mit dem Ellbogen von Edoardo Brambilla brachte Davide wieder zurück ins Hier und Jetzt. Mit einer Bewegung des Kinns deutete der Banknachbar auf das Heft, auf dem ein großer Tintenklecks zu sehen war. Davide hielt noch immer die Schreibfeder zwischen den Fingern und versuchte hastig, den Fleck mit seinem Taschentuch wegzuwischen, aber vergeblich, der Schaden war angerichtet. In der Stille des Raumes klang das Zerreißen des Papiers wie das Prasseln eines Gewitterregens. Vom Pult aus blickte der Lateinlehrer über die Brillengläser hinweg durch das Schulzimmer, um die Ursache der Störung zu finden. Die Schüler saßen mit gesenkten Köpfen über ihrer Arbeit, während Davide rasch das Blatt zerknüllte und die Nase wieder in das zweite Buch der steckte.

Er griff erneut nach der Feder, tauchte sie vorsichtig in das Tintenfass und schrieb die Übersetzung auf das neue, makellose Blatt.

Also denn, teurer Vater, setze dich auf unseren Nacken, ich selbst werde dich auf die Schultern nehmen, und diese Last wird mich nicht bedrücken.

Erneut wurde die Stille gestört, als es an der Tür klopfte. Einige Köpfe hoben sich, und der Lehrer rief ein verärgertes »Herein!«. Mit ehrerbietigem Blick tauchte an der Schwelle ein Bediensteter auf.

»Entschuldigt, Professore, Signor Campari wird im Hof erwartet.«

Jetzt drehten sich alle achtundzwanzig Köpfe der Klasse gleichzeitig zu Davide um.

»Was ist passiert?«, fragte der Junge und blieb sitzen. Die ungewohnte Freundlichkeit dieses Mannes ließ ihn misstrauisch werden, hinter seinem aufgesetzten Lächeln meinte er Mitleid zu erkennen.

»Komm, mein Junge. Nimm deine Sachen, wir gehen.«

Davide stand auf und folgte ihm ohne weitere Fragen durch die Flure des Palazzo bis zum Eingangshof, wo Maruchèt, der Geselle mit dem afrikanisch wirkenden Gesicht, schon auf sie wartete. Dieser kräftige, dunkelhäutige junge Mann stand schon seit Jahren in den Diensten der Familie Campari, trotzdem hatte sein außergewöhnliches Erscheinen im Kreuzgang des Gymnasiums gerade jetzt etwas Düsteres und Beunruhigendes. In einen schwarzen Wintermantel gehüllt, wirkte er zwischen den weißen Säulen der Arkaden wie ein dunkler Fleck, eine Präsenz, die nicht hierhergehörte. Alles in Davide schrie, er solle stehen bleiben, alles rückgängig machen, doch seine Füße bewegten sich unaufhörlich auf Maruchèt zu. Als er schließlich vor ihm stand, zog der junge Geselle eine Hand aus der Manteltasche und legte sie schwer auf Davides Schulter. Dann sagte er nur: »Es ist dein Vater.«

Den Weg vom Palazzo Brera zur Galleria Vittorio Emanuele II. legten sie fast im Laufschritt zurück.

»Sie haben ihn gefunden, er lag am Boden, kreidebleich. Gütiger Himmel! Deine Mutter hat den Arzt gerufen, er untersucht ihn gerade«, berichtete Maruchèt, der sich hinter dem Jungen hielt.

Das Café Campari, an der Ecke zwischen der Galleria und der Piazza del Duomo, war ausnahmsweise geschlossen. Überrascht von der ungewohnten Situation, standen vor dem Eingang noch Gäste, die von dem Unglück erfahren hatten. Einige Stammgäste erkannten Davide und grüßten ihn verlegen. Er beschleunigte seinen Schritt, trat durch den nur wenige Meter entfernten Hauseingang und stieg die Treppe empor, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Maruchèt blieb fluchend unten stehen und rang nach Atem.

Der Junge stürmte durch den Vorraum in die Wohnung und rief laut nach seiner Mutter, aber es war Antonietta, seine ältere Schwester, die ihm entgegenkam. Ihr unter der rotblonden Mähne sonst so strahlendes Gesicht war starr wie Marmor.

»Mama ist mit dem Arzt im Schlafzimmer«, sagte sie und knetete nervös ein tränenfeuchtes Taschentuch. Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn ins Wohnzimmer, wo Eva, Giuseppe und Guido sie erwarteten.

Eine halbe Stunde später erfuhr Letizia Campari die Diagnose, die wie ein Todesurteil wirkte: Herzinfarkt. Nachdem sie den Arzt zur Tür gebracht und ihm für sein schnelles Kommen gedankt hatte, kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Letizia war eine kleine, aber nicht gerade grazile Frau mit einer auffälligen roten Lockenpracht. Sie nahm auf dem samtenen Sofa Platz, inmitten der fünf Kinder, die sie inzwischen an Körpergröße überragten – alle bis auf den Jüngsten, der gerade einmal zehn Jahre alt war. Doch ihre innere Größe schmälerte das nicht.

»Er wird es schaffen«, sagte sie und schaute von einem zum anderen; der düster wirkende Raum wurde nur vom flackernden Schein des Kaminfeuers erhellt. »Euer Vater ist stark, sein Körper ist zäh, aber wir müssen beten und vertrauen. Zuerst auf Gott und auch ein bisschen auf die Wissenschaft.«

Aber nur Guido, der Jüngste, schenkte ihrer Lüge Glauben. Antonietta war eine erwachsene Frau, sie war zweiundzwanzig, Eva und Giuseppe nur wenig jünger: alt genug, um zu wissen, was passieren würde. Davide schaute in ihre bleichen Gesichter, ahnte, dass auch er verstanden hatte, und entdeckte zu seiner Überraschung, dass er plötzlich erwachsen geworden war.

In dieser Nacht fand er keinen Schlaf. Die Geräusche im Haus kamen ihm in der Dunkelheit lauter als sonst vor: Guidos Schnarchen im Bett nebenan, die Stimmen seiner Mutter und der älteren Geschwister, die ebenfalls nicht schlafen konnten, selbst das Bohren eines Holzwurms drang durch die dünnen Wände. Er wälzte sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite, versuchte, bis hundert zu zählen. Er kam bis vierzig, dann stand er auf.

Das Zimmer am Ende des Flurs wurde vom schwachen Schein einer Kerze erhellt. Davide ging barfuß darauf zu, immer eng an die Wand gepresst, und blieb auf der Schwelle der geöffneten Tür stehen. Im Halbdunkel konnte er die unverwechselbare Silhouette seines Vaters erkennen, diesen wohlgenährten, rundlichen Körper, auf den dieser immer stolz gewesen war: »Ich habe immer für mich selbst gesorgt und bin groß und stark geworden.«

Er betrat das Zimmer und setzte sich an das Kopfende des Bettes. Das vertraute Gesicht erschien ihm plötzlich wie eine verblühte Blume, als ob alle Schmerzen und Mühen eines Lebens sich darin eingeprägt hätten. Er versuchte sich seinen Vater als jüngeren Mann vorzustellen, eines der Bilder aus der Vergangenheit zurückzuholen, stellte aber fest, dass es verschwommen blieb.

Als er vor fünfzehn Jahren geboren wurde, war die Familie gerade in die Galleria gezogen, und Gaspare Campari arbeitete Tag und Nacht, um das Café zum Laufen zu bringen. Aus frühen Kindertagen erinnerte sich Davide noch gut an das Rascheln von Mutters Röcken zwischen den Tischen der Bar, an ihre damals noch feuerroten Haare, an die Finger, die auf die Kasse trommelten, und an das besondere Lächeln, das sie den Gästen zusammen mit der Rechnung präsentierte. Aber an seinen Vater hatte er fast keine Erinnerungen. Gaspare war immer im Keller, stellte Liköre her, mischte, destillierte und füllte in Flaschen ab. Eine schwer greifbare Gestalt aus dem Untergrund: Sie war irgendwo dort unter der Erdoberfläche, man konnte sie aber nicht sehen.

»Papa ist bei der Arbeit, wage es bloß nicht, ihn zu stören«, warnte Letizia stets und setzte ihn auf einen Barhocker, der zu hoch war, um alleine wieder herunterzuklettern. Dann schaukelte er mit den Beinen und beobachtete das Kommen und Gehen der Gäste: elegante Herren, herausgeputzte Angestellte, mit Juwelen behängte adlige Damen und zu stark geschminkte junge Frauen, heitere Grüppchen und einsame Kunden, die an den Tischen oder am Tresen saßen. Sie alle litten unter einem unerklärlichen Durst, und um diesen zu stillen, brauchte es die mannigfachen Spezialitäten des Hauses Campari:...


Cinelli, Silvia
Silvia Cinelli ist Schriftstellerin und Drehbuchautorin, die an zahlreichen Fernsehserien wie z.B. »I Medici« mitgearbeitet hat.



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