Clark | Der Triumph der Geraldine Gull | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 400 Seiten

Clark Der Triumph der Geraldine Gull

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-293-30415-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 400 Seiten

ISBN: 978-3-293-30415-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am Rande der Hudson Bay, zwischen der Baumgrenze und dem ewigen Eis, liegt verloren und vergessen das Indianerdorf Niska. Hier soll Willa Coyle, die junge Kunstlehrerin, den Kindern in den Sommermonaten Zeichenunterricht geben. Nach und nach dringt Willa in die Geheimnisse des Dorfes ein. Es ist ständig vom Hochwasser bedroht, ein Fluch scheint über ihm zu liegen. Geraldine Gull, die hünenhafte, unbezähmbare Indianerin, die von allen gemieden wird, hütet einen geheimen Schatz. Welche Rätsel liegen über ihrer Vergangenheit? Was hat sie vor? Als das Hochwasser kommt und das Dorf versinkt, ist sie es schließlich, die mit ihrer Vision den Bann bricht.

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Eins
1
Stoße diesem Land ein Messer ins Herz, und dein Messer dringt in die Hudson Bay. Schlitze den Grund der Bay auf, rolle die Tundra zurück, und braunes Wasser schießt aus einer offenen Wunde, einem Mund voll mit Reihen scharfkantiger Zähne. Hinter dem Mund ist ein langer, gewundener Fluss, der sich nordwärts windet, vorbei an Tausenden von Seen. Schnitze mit der Spitze deines scharfen Messers eine kleine Kerbe neben dem Fluss, dort, wo er in die Bay mündet. In dieser Kerbe, diesem Kratzer, manche würden es auch eine Narbe nennen, lebt eine Hand voll Swampy Cree: die Familien Crow, Bird, Gull, Loon, Eagle und Hunter. Seit Menschengedenken folgte ihr Volk dem Karibu nach Norden und wanderte weiter, bis das Land zu Ende war. Hier am Rande der Tundra bauten sie ihre Tipis auf. Nördlich der Baumgrenze und südlich der Eisberge kauern sie sich wie Schlittenhunde im Sturm zusammen, ihr Herr und Meister die unheilige Dreieinigkeit von Kirche, Regierung und Hudson's-Bay-Laden. Quer durch das Dorf, waagrecht wie ein schmutziger Balken des Kreuzes Christi, führt ein wackliger Brettersteg. Der Priester lebt am einen Ende des Balkens in der Nähe der kleinen Schule, der Ladenbesitzer am anderen Ende. Wahllos dazwischen verstreut stehen Bretterbuden, Hütten, Häuser, ein oder zwei Tipis. 2
25. Juni 1978. Pater Aulneau geht vorsichtig über den Brettersteg, versucht, nicht auf zerbrochene Holzschwellen zu treten. Er geht zur Glocke, die neben der Kirche auf einer Plattform hängt. Er bewegt den Schwengel, als ob er Wasser pumpe. Die Glocke ertönt und ruft zum nachmittäglichen Katechismusunterricht. Der Klang der Glocke schwingt über die Hütten und Häuser, breitet sich über dem Fluss aus, erhebt sich über den Busch, bis er von der Weite des Wassers und der Tundra verschluckt wird. Nebenan im Abwassergraben hebt ein verwilderter Hund, der einmal Gerald Gull gehörte, den Kopf und jault. Es ist ein dünnes, klagendes Heulen, herzzerreißend, urzeitlich. Andere Streuner nehmen das Wehklagen auf, dann heulen die Hunde der Crows, dann die Hunde der Birds, der Loons. Die Laute werden den Brettersteg entlang zu den Hunden der Hunters getragen, bis es in einem traurigen Geheul, einem düsteren Missklang, einem Klagelied endet, das ein Dorf zu seinem eigenen Grab geleitet. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Kinder rennen den Brettersteg entlang, hüpfen behände über kaputte Schwellen. Sie bewegen sich mit dünnarmiger, flinker Anmut, Lächeln blitzt in dunkeläugigen Gesichtern. In der Kirche wird es langweilig sein und stickig, aber sie gehen frohgemut hinein, weil sie wissen, dass alle später, nachdem sie zappelnd auf den Holzstühlen gesessen und für den Priester Antworten heruntergeleiert haben, ein Bonbon bekommen, das sie sich in die Backe stecken können. Geraldine Gull taucht aus dem Busch hinter der Kirche auf. Sie bleibt stehen, lauscht der abgehackten Stimme des Priesters, den eintönigen Antworten der Kinder. »Seht ihr gern den Sonnenschein?« Ja, wir sehen gern den Sonnenschein. »Hört ihr gerne Wasser sprudeln?« Ja, wir hören gerne Wasser sprudeln. Geraldine schnaubt. So eine Zeitvergeudung. Die Kinder heute in der Kirche! Sollten lieber im Sonnenschein spielen, statt drüber zu quatschen, auch wenn der Priester ihnen für die Antworten Bonbons zusteckt. Sind eh nicht seine Bonbons. Nazarene Rose, die Haushälterin des Missionshauses, sagt, sie kommen Weihnachten und Ostern von weißen Kirchenfrauen, sie kommen in Tüten, eine für jedes Kind. Der Priester leert die Tüten in eine Schublade in seinem Büro, wo er die blöden Jesus-Kalender aufbewahrt, die er an die Leute verteilt. Einen Teil der Bonbons lutscht er selber. Den Rest gibt er den Kindern dafür, dass sie an einem sonnigen Tag in der Kirche hocken. Das erste Mal seit Wochen ist es sonnig. Den ganzen Frühling über gab es nichts als Regen, Regen, Regen. Und Wind. Viel Wind. Niska ist ein windiger Ort. Vor allem in der Kirche. Weil der Priester ein aufgeblasener Sack ist. »Schaut ihr gerne Vögel und Tiere an?« Ja, wir schauen gerne Vögel und Tiere an. »Spielt ihr gern mit Haustieren?« Ja, wir spielen gern mit Haustieren. Dafür sollten sie eine ganze Hand voll Bonbons kriegen. Gibt keine Haustiere hier. Nur Hunde, nichts als ein Bündel Knochen mit Fell dran, die meisten halbe Wölfe, die vergessen haben, wie man jagt, und stattdessen herumlungern und im Abfall wühlen. »Jetzt wollen wir beten. Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Zu uns komme dein Reich. Dein Wille geschehe …« Geraldine wendet sich angeekelt ab. Auch für eine ganze Kiste voll O'Henrys-Schokoriegel würde sie sich Seinem Willen nicht beugen. Nicht mal für eine ganze Schiffsladung voll. Weil sie Bescheid weiß. Geraldine Gull ist herumgekommen. Sie weiß, dass es den Menschen anderswo viel besser geht. Auch der Priester weiß es, und trotzdem sagt er den Leuten, wenn sie beten, Gott lieben und in die Kirche gehen, wird alles besser. Was für ein Witz! Der Priester ist weiter nichts als ein einziger, riesiger Furz. Geraldine hockt in den Büschen, wartet, bis sie die Kinder auf den Schwellen entlanghüpfen hört, bis sie den Priester drinnen hört, das Tapptapp seiner spitzen Schuhe, hin und her auf dem Holzboden, ihn die Tür schließen und über den Brettersteg gehen hört. Nazarene Rose sagt, wenn er nicht rechtzeitig zum Essen kommt, lässt sie es kalt werden. Geraldine kommt aus dem Gebüsch, huscht an der Kirchenmauer entlang und drückt auf die Türklinke. Trottel. Er hat die Tür nicht abgeschlossen, wegen der Abendmesse. Sie findet die Katechismen sauber auf einem Tisch hinter der Tür gestapelt. Geraldine blickt sich nach etwas um, in das sie die Bücher packen kann, aber da ist nichts. Die Kirche ist leer, bis auf die Statuen, Kreuze, Kerzen und Bücher. Es riecht muffig, feucht und stickig. Die Fenster sind zugemalt worden. Geraldine trägt einen Armvoll Katechismen nach draußen, hinter die Kirche, wo sie die Bücher ins Gebüsch wirft. Als sie die Kirche mit der zweiten Ladung verlässt, schließt sie die Tür hinter sich. Sie will nicht, dass jemand die Tür offen stehen sieht und entdeckt, dass die Bücher fehlen, bevor sie die Sache erledigt hat. Sie trägt die Bücher durch das niedrige Gestrüpp bis an den Rand der Tundra, wo sie sie in das feuchte Gras wirft. Sie versucht, die Bücher offen zu halten, aber die Buchdeckel klappen immer wieder zu, wenn sie sie loslässt. Sie hockt sich hin und hält jedes Buch offen, bis seine Seiten brennen. Dabei verliert sie die Geduld, so dass die letzten Bücher nur an den Rändern versengt werden. Geraldine hört im Gebüsch hinter sich Jungen johlen. Sie haben gegessen und werden jetzt draußen sein, bis es dunkel wird. Geraldine geht einen Pfad entlang, der zum Abwassergraben führt, wo die ärmsten Hütten stehen. Sie hört die Schläge von Geralds Hammer. Das bedeutet, er hat zu Abend gegessen und arbeitet, bevor er in die Kirche geht. Dummer Mann. Der einzige Mann in Niska, der jeden Tag zur Messe geht. Der einzige Mann, der alles Holz nimmt, das er finden kann, und ein dummes Floß baut. All die Jahre war er zu faul, um ihnen ein Haus oder einen Tisch oder ein Scheißhaus zu bauen. Aber seit ihn die Holy Rollers in Severn zu fassen gekriegt haben, baut Gerald an dem blöden Floß. Und wo wird das Floß hinfahren? Raus in die Bay zum Eis und zu den Eisbären! Wapusk wird übers Eis kommen und den dummen Gerald Gull auffressen. Geraldine lässt sich Zeit, als sie durchs Gebüsch streift; sie macht um den Brettersteg, der nach Abfall und Pisse stinkt, einen Bogen. Sie hat es nicht eilig, zu der Alten, Geralds Mutter, zurückzukehren, die den ganzen Tag vorm Zelt sitzt, kichert und lacht. Arbeitet nicht, redet nicht. Isst nicht, wenn Gerald sie nicht füttert. Es gibt sowieso nur kalten Porridge, Haferbrei. Sie essen Haferbrei, bis die Schecks vom Staat kommen. Der dumme Gerald gibt sein Geld für Nägel aus. Deshalb essen sie Haferbrei, wenn die Stütze aufgebraucht ist. Im Floß stecken so viele Nägel, dass es auf den Grund der Bay sinken wird. Geraldine zieht ihren letzten O'Henry-Schokoriegel raus, reißt das Papier ab und wirft es ins Gebüsch. Beißt die Hälfte ab. Sie passt auf, dass sie auf der guten Seite kaut, damit der schlechte Zahn nicht wehtut. Die Nüsse knirschen wie Kiefernzapfen, die klebrige Schokolade bedeckt ihre Zunge, macht ihre Spucke schlammig. Morgen, wenn sie im Laden ist, wird sie George wieder eine Hand voll klauen. Der O'Henry macht sie nicht satt. Ihr Magen fühlt sich hohl an. Sie dachte, sie würde sich nach dem Verbrennen der Bücher wohler fühlen. Stattdessen ist sie unruhig, fühlt sich unbehaglich. Ihre Haut prickelt, als ob sie von einem Stachelschwein gepiekst würde. Das Wasser läuft ihr im Mund zusammen. Was sie braucht, ist was zu trinken. Die letzte Flasche hat sie vor zwei Wochen geleert. Außer George ist Morris Mack der Einzige in Niska, der eine Flasche hat. Er hat letzten Monat eine halbe Kiste Rum bekommen. Geraldine sah, wie er dem Piloten an der Piste seinen Scheck überreichte,...


Clark, Joan
Joan Clark, geboren 1934 in Liverpool, Nova Scotia, studierte Theaterwissenschaften und arbeitete als Lehrerin. Ihren Mann, einen Ingenieur, begleitete sie durch ganz Kanada an seine Arbeitsorte und verarbeitete diese Erfahrungen in ihren Werken. Die preisgekrönte Roman- und Jugendbuchautorin lebt in Neufundland. 2010 wurde sie zum Mitglied des Order of Canada ernannt.

Bean, Gerda
Gerda Bean, geboren 1938 in Baden-Baden, war u. a. für das deutsche Fernsehen in Washington, D.C., tätig. Seit 1978 arbeitet sie als Übersetzerin von Belletristik sowie von Kinder- und Jugendbüchern. Sie lebt mit ihrem Mann in England.



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