Clemm | AktenEinsicht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Clemm AktenEinsicht

Geschichten von Frauen und Gewalt
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-95614-375-5
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten von Frauen und Gewalt

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-95614-375-5
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gewalt gegen Frauen ist ein alltägliches Phänomen, auch wenn sie nur selten öffentlich wird. »AktenEinsicht« erzählt Geschichten von Frauen, die körperlicher und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, und vermittelt überraschende, teils erschreckende Einsichten in die Arbeit von Justiz und Polizei. Nach den neuesten Zahlen des BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Welche Lebensgeschichten sich hinter dieser erschreckenden Zahl verbergen, davon erzählt die Strafrechtsanwältin Christina Clemm, empathisch und unpathetisch. Alina ist nach Deutschland gekommen, um Geld zu verdienen. Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nur als Prostituierte wird arbeiten können, und kommt gut damit zurecht. Mit Vielem hat sie gerechnet, aber nicht damit, dass ein Bekannter ihres Bruders ihr nachstellt und - als sie ihn abweist - versucht, sie auf offener Straße zu töten. Eva verlässt ihren Freund, der sie in den Bauch tritt, als sie schwanger ist. Er verfolgt sie, schickt Morddrohungen. Siebzehn Mal hatte sie ihn vergeblich bei der Polizei angezeigt, als ihre Tochter sie tot in ihrer Wohnung findet. Faizah wird von ihrem deutschen Ehemann schwer misshandelt. Einmal gelingt es ihr, sich nach draußen zu retten. Er folgt ihr, prügelt weiter, würgt sie, bis Passanten ihn festhalten und die Polizei holen. Wie gewinnt man nach einer Gewalterfahrung die Selbstachtung zurück, die Selbstbestimmung über das eigene Leben? Wie geht man damit um, dass die Polizei einen angekündigten Mord nicht ernst nimmt? Dass man einem Richter gegenübersteht, der auf dem rechten Auge blind ist? Was macht es mit den Betroffenen, die Täter wiedersehen zu müssen und sich bohrenden Fragen zur Tat zu stellen? Christina Clemm nimmt uns mit auf eine Reise in die Gerichtssäle der Republik, an die Tatorte, in die Tatgeschehen. Es sind Geschichten, die man nicht mehr vergessen wird.

Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV.
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MARCELLA E.

Es ist Viertel vor acht, als Marcella E. endlich ihren dreijährigen Sohn zum Einschlafen gebracht hat. Sonst macht das meist ihr Mann, der mehr Geduld hat und oft neben ihm einschläft. Aber heute ist er auf Geschäftsreise. In der Wippe in der Küche liegt das sechs Monate alte Baby. Es spielt noch etwas vor sich hin und juchzt.

Als es klingelt, denkt Marcella E., dass es wie so häufig die Nachbarin von der Etage über ihr ist, die sich Mehl, Eier oder Butter borgen möchte. Marcella E. hat nur ein langes T-Shirt an, gerade macht sie sich fertig, um gleich gemeinsam mit dem Baby ins Bett zu gehen. Sie spuckt noch schnell die Zahnpasta aus, stellt die Zahnbürste in den Becher und geht zur Wohnungstür. Ohne in den Spion zu sehen, macht sie auf und hält noch den Finger vor den Mund, um der Nachbarin zu zeigen, dass sie wegen der Kleinen ruhig sein müsse.

Da ist schon der Fuß zwischen der Tür, Marcella E. wird ein wenig zurückgeschleudert, sofort drängen zwei Männer in die Wohnung, zivil gekleidet, groß und kräftig. Sie behaupten, dass sie Polizisten seien und ihren Mann suchten. Sie haben eine Kette mit einem Abzeichen um den Hals, einer deutet darauf, sagt noch einmal, dass sie von der Polizei seien.

In ihrer Aufregung kann Marcella E. nichts erkennen, kann nicht glauben, dass es sich um Polizisten handeln soll. Polizisten würden doch nicht einfach in ihre Wohnung stürzen, die hätten einen Durchsuchungsbeschluss, einen Haftbefehl, irgendetwas Schriftliches dabei und würden alles in Ruhe klären. Die würden nicht einfach hereinstürmen, zu zweit, abends. In Filmen sind sie immer mehrere, wenn sie eine Wohnung stürmen, dann sind sie bewaffnet, und man muss sich auf den Boden legen. Oder sie klingeln freundlich an der Tür und sprechen. So etwas wie hier gibt es in Filmen nicht zu sehen.

Marcella E. ruft, dass ihr Mann verreist sei. »Auf Dienstreise, in Mannheim!« Zudem sagt sie immerfort: »Haftbefehl! Ich will den Haftbefehl sehen!« Und dass die Kinder schlafen, sie nicht in die Wohnung dürfen, sie vor die Tür zurückgehen sollen, dass sie alles klären können, die Polizei holen können, und dann werde man weitersehen. Immer wieder ruft sie nach Hilfe und Polizei. Die Männer schubsen sie durch den Flur, schieben sie zur Seite. Marcella E. weint, gerät zusehends in Panik.

Der eine Mann, groß, kräftig, durchtrainiert, hält ihr noch einmal kurz seine Marke vors Gesicht, lächelt und sagt, sie solle sich nicht so aufregen. »Nicht so hysterisch, Kleene, immer mit der Ruhe. Deinen Mann musst du uns schon überlassen. Ist jetzt erst mal vorbei mit deinem kleinen schönen Familienleben. Aber wir bringen ihn dir bald zurück, keine Sorge!«

Dass er nicht da sei, brüllt sie erneut. »Er ist auf Dienstreise!« Der zweite Mann läuft schon direkt ins Kinderzimmer. Sie brüllt, verbietet ihm, das Zimmer zu betreten, der Dreijährige ist aufgewacht, weint. Sie will den Mann zurückhalten, zu ihrem Kind ins Zimmer zu gehen, sie stürzt sich auf ihn, zieht an ihm. Er dreht sich um, schubst sie auf den Boden und sagt bestimmt, dass es jetzt gut sei. Sie solle sich mal nicht so haben. »Gib endlich Ruhe. Wir sind die Polizei, wir haben das Recht dazu, die Wohnung zu durchsuchen, und das machen wir jetzt. Dies ist eine Diensthandlung. Vielleicht kennst du unsere Gesetze nicht, und bei euch zu Hause ist es anders, aber hier, in Deutschland, hier ist das so.«

Zur Tür hinaus, um Hilfe zu holen, kann sie nicht. Da steht jetzt der andere, der ein Einbrecher sein muss. Sie weint immer mehr vor Verzweiflung. Jetzt fallen ihr nur noch spanische Worte ein. Vor zwölf Jahren ist sie mit ihrer Mutter aus Mexico City gekommen, als die Gewalt auf der Straße, im Alltag nicht mehr auszuhalten war. Ihr Cousin ist auf offener Straße getötet worden. Niemals wurde geklärt, von wem. Staat und organisierte Kriminalität arbeiten dort eng zusammen. Sie kennt die Angst, die in ihr aufkommt. Sie muss sich verteidigen, ihre Kinder verteidigen, ihrer aller Leben schützen. Sie muss den Mann aufhalten, der versucht in die Küche zu gelangen. Sicherlich will er das Baby entführen.

Wieder ergreift sie seinen Arm, hält ihn. Mit einer geübten Bewegung schleudert er sie gegen das Schuhschränkchen im Flur, das zerbricht, als sie rücklings darauf fällt. Ihr Rücken schmerzt, sie blutet am Hals. Ihr langes T-Shirt ist bis über den Busen hochgerutscht, sie trägt keine Unterwäsche. Einer der Männer starrt sie von oben bis unten an, lächelt, sieht ihr auf die Brüste, zieht die Augenbraue hoch. Ein kurzer Augenblick. Beide Männer gehen in die Küche. Sie erkennt, dass der Weg frei ist zur Wohnungstür. Schnell rappelt sie sich auf, rennt heraus, ruft im Treppenhaus nach Hilfe, schreit »Polizei«, »Hilfe«, »Überfall«. Ein Nachbar öffnet und ruft, was denn los sei. Da ist einer der Männer auch schon vor der Tür, ruft in beschwichtigendem Ton: »Kein Problem, die Polizei ist schon da. Alles gut. Das ist ein polizeilicher Einsatz. Bleiben Sie in der Wohnung.«

Marcella E. rennt wieder in die Wohnung, schnappt ihr Handy, das auf dem Küchentisch liegt. Die Männer stehen nun gelassen im Flur. Sie haben in allen Zimmern nachgesehen, den Mann haben sie nicht gefunden. Sie sagen, sie solle sich mal beruhigen und wieder runterkommen. Den Sohn hat sie ins Badezimmer verfrachtet, den Stuhl davorgestellt, die Tür verbarrikadiert. Er hämmert an die Tür und ruft immer verzweifelter. Das Baby ist jetzt auf ihrem Arm, schreit. Sie wählt die 110 und ruft, stockend, weinend, aufgelöst, dass sie einen Überfall melden will: »Zwei Männer brechen bei mir ein. Sie sind brutal. Ich bin verletzt.« Da reißt ihr der eine Mann das Telefon aus der Hand und spricht: »Keine Sorge, Kollege, alles unnötig. Wir sind vor Ort, ich sag mal – aufgewühlte Klientin. Latina, südländisches Temperament, du kannst dir die Situation wahrscheinlich vorstellen. Wir haben alles unter Kontrolle. Wir brauchen keine Unterstützung.« Er teilt ihm die Dienstnummer mit, seine Dienststelle und beendet lächelnd das Gespräch.

Jetzt zeigt er Marcella E. den Vollstreckungsbeschluss. Sie liest. Ihr Mann soll zwei Strafzettel über je fünfzehn Euro nicht bezahlt haben, auf Mahnungen nicht reagiert haben, und deshalb gab es nun einen Vollstreckungshaftbefehl. Den könnte man abwenden, wenn man umgehend das Geld bezahlen würde, steht dort. Dass sie die Betroffenen von dieser Möglichkeit zu unterrichten haben, steht dort nicht.

Marcella E. sieht keinen Durchsuchungsbeschluss. Sie fragt danach, die Männer antworten, dass sie keinen bräuchten. »Wir kennen die Gesetze«, sagen sie noch und dass sie sie jetzt allein lassen würden. Oder bräuchte sie vielleicht psychologische Unterstützung? »Können Sie die Kinder gut versorgen?« Ob alles in Ordnung mit ihr sei, »oder sollen wir jemanden vom Jugendamt vorbeischicken?«.

Fürsorge, die nach Bedrohung klingt.

Sie lassen das Papier bei ihr, verabschieden sich kurz und sagen, dass sich ihr Mann melden soll. »Den Ärger hätte er dir sparen können, dein geliebter Ehemann. Man muss einfach zahlen, ist ja nicht so schwer zu verstehen. Ist überall auf der Welt so, nicht nur in Deutschland. Wenn man sich an die Gesetze hält, passiert auch nichts. Süße Kinder habt ihr da.«

Die ganze Nacht liegt sie, ihre beiden Kinder umklammernd, wach im Bett. Ihr Ehemann hat sich sofort auf den Weg gemacht, ihre Mutter ist ein paar Stunden später in der Wohnung. Am nächsten Morgen gehen sie alle gemeinsam zur Hausärztin, die multiple Prellungen, ein HWS-Syndrom, eine Schürfwunde am Hals und eine Rippenprellung feststellt.

Noch in der Nacht hat sie, nachdem die Männer gegangen sind, wieder die Polizei angerufen. Nach ihrem dritten Anruf ist endlich ein Streifenwagen gekommen und hat ihr erläutert, dass es ein völlig harmloser Polizeieinsatz gewesen sei. Wenn sie sich nicht so falsch verhalten hätte, wäre gar nichts passiert. Sie hat dennoch darauf bestanden, die Polizeibeamten wegen Körperverletzung anzuzeigen.

Auf Anraten ihrer Mutter sucht Marcella E. eine Rechtsanwältin auf, die ihr rät, ein Gedächtnisprotokoll zu erstellen. Die Anwältin hätte ihr nicht unbedingt zur Anzeige geraten, aber dies war nun nicht mehr rückgängig zu machen.

Also meldet sich die Anwältin für Marcella E. bei der Polizei, schildert zunächst schriftlich den Vorgang. Monate dauert es, bis Marcella E. zur Vernehmung geladen wird. Sie hat Angst, als sie an der Seite ihrer Anwältin das Polizeipräsidium betritt. Allein der Umstand, dem polizeilichen Zugriff direkt ausgeliefert zu sein, lässt sie schaudern. Der Vernehmungsbeamte ist freundlich, sagt aber gleich, dass er nicht denkt, dass man sich die Mühe machen sollte. Es sei nun einmal so, dass die Polizei Straftäter verfolgen und Bußgelder vollstrecken müsse, da könne man nicht zaudern. Die Wohnung musste gesichert werden, nicht dass der Mann aus dem Fenster springe. Das müsse man als Polizei verhindern, schon aus Fürsorgegesichtspunkten. Man könne sich das als...


Clemm, Christina
Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV.

Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV.



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