E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Clines Der Raum
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-16493-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
ISBN: 978-3-641-16493-5
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Peter Clines wuchs in Maine, USA, auf und studierte Literaturwissenschaft, Archäologie und Quantenphysik. Er hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht, bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete. Peter Clines lebt und arbeitet in Südkalifornien.
Weitere Infos & Material
3
Mandy saß an ihrem Computer, den sie gebraucht gekauft hatte, und gab erneut ihre Daten ein. Weil sie nie gelernt hatte, richtig zu tippen, blieb ihr nur das Adlersuchsystem. Die Tastatur verwirrte sie sowieso. Warum waren die Buchstaben nicht einfach alphabetisch geordnet statt willkürlich verteilt? Sie strich sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und klemmte sie hinters Ohr, als sie ihr wieder in die Augen fiel.
Es war zu einem Ritual geworden, an jedem Monatsersten ihre Kreditwürdigkeit im Internet zu überprüfen. Sie hatte in Firefox (ein kostenloser Browser, zum Glück) nur ein paar Seiten mit Lesezeichen versehen, und die Hälfte davon gehörte zu Kreditbüros. Die andere Hälfte betraf Artikel darüber, wie man Schulden loswurde.
Wie erwartet, war ihre Bonität um zwei weitere Punkte gesunken. Sie stand jetzt bei 514. In einem Jahr über zweihundert Punkte verloren. Jetzt würde sie sich niemals ein Haus kaufen können. Oder ein Auto.
In einem Moment der Schwäche hatte sie vor acht Monaten im Pausenraum des Food4Less Bob, einem anderen Kassierer, ihre Kreditprobleme und die ständigen Anrufe der uneinsichtigen Inkassobüros gestanden. Er hatte entgegnet, dass sie sich ohnehin kein Haus oder Auto leisten könne. Wo war also das Problem? Sein Rat lautete, die Anrufe zu ignorieren. »Wenn man ganz unten ist«, hatte er gesagt, »was können sie einem dann noch antun?«
Die Inkassobüros riefen trotzdem weiter an und verdeutlichten ihr, dass es sehr wohl ein Problem gab. Sie glaubte ihnen. Schließlich wären sie nicht so gemein, wenn es um nichts ginge. Sie beleidigten sie und hörten ihr nicht zu. In den Artikeln stand immer, man solle mit den Gläubigern über die Rückzahlung verhandeln, und es klang so einfach, aber die Männer und Frauen am Telefon drohten nur, ihre Eltern und Großeltern anzurufen und ihnen zu erzählen, was für eine Versagerin sie geworden sei. Einmal hatte Mandy aufgelegt, weil sie sie zum Weinen gebracht hatten.
Ihre Mutter hatte keine Versagerin großgezogen. Mandy wollte nicht, dass ihre Mutter sie für eine von diesen Leuten hielt. Diese Leute waren diejenigen, die die Wirtschaft kaputtgemacht und Banken aus dem Geschäft gedrängt hatten, die Liberalen, die glaubten, man könne so viel ausgeben, wie man will, und brauche seine Schulden nicht zu bezahlen. Mandy gehörte nicht zu ihnen. Sie war nur zu sorglos gewesen und hatte eine Pechsträhne gehabt. Das sagte ihre Mutter immer: »Mike unten aus dem Laden, er hat eine Pechsträhne gehabt, nachdem seine Frau gestorben ist.«
Natürlich war das Entscheidende, dass die Leute sich selbst aus ihrer Pechsträhne befreiten. Sie hatte es versucht, aber es gab einfach zu viele Gebühren, und die Zinsen waren plötzlich viel zu hoch. Egal, was sie tat, es wurde immer schlimmer. Ihre Pechsträhne war zu einem schwarzen Loch geworden, in das sie gefallen war.
Eine Woche nach ihrem Geständnis hatte Bob ihr den Computer »geschenkt«. Mandy wusste, was es bedeutete, wenn ein Mann in Los Angeles einer Frau einen »Gefallen« tat. Veek, eine ihrer Nachbarinnen von unten, hatte ein bisschen an dem Gerät gearbeitet und es für internetfähig erklärt. Mandy war ziemlich sicher, dass die Frau zwei kleine grüne Karten eingebaut und irgendwas mit dem Prozessor oder so gemacht hatte. Damals hatte Mandy befürchtet, Veek würde auch eine Gegenleistung für ihren »Gefallen« erwarten. Schließlich kam sie aus Europa oder Asien und war bestimmt viel lockerer, was solche Dinge anging. Mandy wusste nicht genau, ob sie so etwas mit einer Frau machen könnte, aber mittlerweile waren sechs Monate vergangen, und Veek hatte keine Gegenleistung verlangt.
Mandy war sich nicht sicher, was ein Punktestand von 514 bedeutete oder auf welcher Grundlage er berechnet wurde. Aber sie wusste, dass es sehr, sehr schlecht war.
Sie starrte eine Weile auf die dreistellige Zahl und bemerkte dann, dass sie zehn Minuten in Gedanken versunken gewesen war. Eigentlich hatte sie nur einen kurzen Blick auf ihre Bonität werfen wollen. Jetzt würde sie den Bus verpassen.
Sie schnappte sich ihre Bluse und die Jeans vom Bett, stellte fest, dass sie keine Zeit hatte, um sich umzuziehen, und stopfte die Sachen in den Leinenbeutel, den sie als Handtasche benutzte. Wenn sie in ihrem Sommerkleid auftauchte, würde der Geschäftsführer sie angaffen und »versehentlich« ins Bad kommen, während sie sich umzog. Damit musste sie fertigwerden. Es war ihre eigene Schuld, dass sie sich hatte ablenken lassen.
Sie öffnete die Wohnungstür und rannte beinahe gegen ein Bücherregal.
Es hing quer im Flur. Der Mann an einem Ende des Regals war auffällig dünn und hatte braunblondes Haar. Er musste mal wieder zum Friseur. Der andere Mann war stämmig und glatzköpfig und trug einen Spitzbart.
»Entschuldigung«, sagte der Mann mit dem zu langen Haar. »Ich ziehe gerade ein. Ich bin der neue Nachbar.« Er balancierte das Regal mit einer Hand, warf seinen Schlüssel hinein und streckte die andere Hand aus. »Nate Tucker.«
Mandy ignorierte seine Hand und schloss die Tür hinter sich ab. »Hallo«, sagte sie. »Tut mir leid, ich bin spät dran.« Sie schlüpfte an dem Regal vorbei und stürmte den Flur entlang.
»Die Leute hier sind so herzlich und nett«, sagte der Glatzkopf.
»Tut mir leid«, rief sie über die Schulter. »Ich verpasse meinen Bus.«
Mandy rannte die Vordertreppe hinab. Sie wusste, dass sie einen schrecklichen ersten Eindruck hinterließ. Ihre Mutter backte immer Plätzchen für die neuen Nachbarn. Andererseits hatte ihre Mutter auch noch nie in Los Angeles gewohnt. Hoffentlich war Nate Tucker nicht noch einer von diesen Nachbarn.
»Scharfe Nachbarin«, sagte Nate, als ihre Schritte sich auf der Treppe entfernten. »Könnte die Parkplatzprobleme aufwiegen.«
Sean, sein baldiger ehemaliger Mitbewohner, schüttelte den Kopf. »Glaub mir, selbst wenn du mit ihr ins Bett gehst, ist das nicht den Ärger wert, den du mit dem Parken an der Straße hast.«
Nate hatte die Bonitätsprüfung am Montagnachmittag bestanden und am Dienstagmorgen den Scheck eingereicht. Seine Ersparnisse waren dadurch aufgebraucht, und er musste im April doppelt Miete zahlen, aber die Wohnung gehörte ihm. Er drehte den Knauf und öffnete die Tür zu seiner neuen Bleibe.
»Das ist es«, sagte Nate.
»Wahnsinn.« Sean sah aus dem Fenster auf das Observatorium. »Was für ein Ausblick.«
»Das kann man wohl sagen.«
»Du hast echt Schwein gehabt, die Wohnung zu finden.«
»Ich weiß.«
»Das Parken nervt trotzdem.«
Sie gingen wieder hinunter auf die Straße, wo Seans Pick-up mit dem Rest von Nates Möbeln stand. Jetzt, da sie mit dem Treppenhaus vertraut waren, schafften sie das nächste Regal schneller nach oben. Der Fernsehschrank war so klein, dass er trotz seines Gewichts kein Problem darstellte.
Zwanzig Minuten später trugen sie den Schreibtisch in die Eingangshalle und blieben stehen, um umzugreifen. Ein kräftig wirkender Mann mit dunklen Locken, der selbst einen Karton trug, kam aus dem Flur. Er warf einen Blick auf den Schreibtisch. »Ziehst du ein?«
»Ja«, sagte Nate. Er stellte seine Seite ab und streckte die Hand aus. »Nate Tucker. Ich ziehe in die Achtundzwanzig.«
»Carl«, sagte der Mann. Er klemmte sich den Karton unter den Arm und schüttelte Nates Hand. »Ich ziehe aus der Fünf aus.«
»Wirklich?«
Carl nickte. »Wenn ich es mir leisten könnte, hätte ich schon vor Monaten gekündigt.« Er ließ den Blick über den Putz und das Holz der Wände schweifen. »Ich war noch keine sechs Wochen hier, da wäre ich am liebsten wieder ausgezogen.«
»Wegen dem Parken?«, fragte Sean. »Ich habe ihm gleich gesagt, das Parken nervt.«
»Das Parken nervt«, stimmte Carl ihm zu, »aber es liegt an dem Haus. Es geht einem an die Nieren. Ich habe mich hier nie einleben können, egal, was ich getan habe. Ich habe keine einzige Nacht gut geschlafen.«
Nate spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Ist es laut?«
»Nein, es ist … es ist einfach kein gemütlicher Ort. Ich habe mich hier nie wohlgefühlt. Glaubt ihr an Feng Shui?«
Nate und Sean schüttelten den Kopf.
Carl verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich auch nicht, aber besser kann ich es nicht erklären. Das Haus fühlt sich einfach seltsam an. Hier zu wohnen war, als würde man den Fuß in den falschen Schuh stecken. Es ist einfach … falsch.« Er schüttelte den Kopf. »Entschuldigung. Das ist eine beschissene Begrüßung.«
»Nein«, sagte Nate, »ich höre es lieber gleich, als es auf die harte Tour rauszufinden.«
Carl zuckte die Achseln. »Es gibt tausend gute Gründe hierzubleiben, wenn es einem gefällt. Die Dachterrasse ist großartig. Probier mal den Mexikaner ein Stück weiter die Straße hoch aus. Der Thai an der Ecke ist auch ganz gut, wenn man was Scharfes bestellt.« Er nahm den Karton wieder in beide Hände. »Viel Glück.« Er ging durch die Tür.
Nate und Sean schafften den Schreibtisch in die erste Etage. Während sie ihn zur nächsten Treppenflucht herumdrehten, sagte Sean: »Mann, bin ich froh, dass ich zurück in die Bay Area ziehe.«
Nate hievte sein Ende des Schreibtischs hoch. »Warum?«
»Dann bin ich nicht hier, um dir in sechs Monaten beim Auszug zu helfen.«
»Er hat überreagiert. Manche Leute mögen einfach manche Häuser nicht.«
»Wie deine Nachbarin, die aus dem Gebäude gerannt ist.«
»Sie war spät dran.«
»Kann sein«, sagte...




