Coates | Der Wassertänzer | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 560 Seiten

Coates Der Wassertänzer

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-25936-5
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 560 Seiten

ISBN: 978-3-641-25936-5
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Bisher kannte Hiram Walker nichts als ein Leben in Ketten. Aufgewachsen in der Sklaverei, musste er als kleiner Junge miterleben, wie seine Mutter verkauft wurde und für immer verschwand. Doch sie hat ihm eine seltene Gabe vererbt. Als diese ihn vor dem Ertrinken rettet, beschließt er aus der Gefangenschaft zu fliehen.

So beginnt für Hiram eine abenteuerliche Reise von den Tabakplantagen West Virginias über geheime Guerillazellen in der Wildnis des amerikanischen Südens nach Philadelphia, wo ihn ein völlig neues Leben in Freiheit zu erwarten scheint.

Doch zuvor muss er noch eine alte Rechnung begleichen und die Frau, die er liebt, und die, die ihn aufzog, in die Freiheit führen.

Ta-Nehisi Coates, geboren 1975 in Baltimore, ist einer der angesehensten Intellektuellen der USA. Mit seinem Essay Plädoyer für Reparationen stieß er eine landesweite Diskussion zur Aufarbeitung der Sklaverei an. Zwischen mir und der Welt, für das er 2015 den National Book Award erhielt, ist in den USA eines der meistverkauften Bücher der vergangenen Jahre. In seinem Essay We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie (2017) stellte Coates die These auf, dass es sich bei Donald Trump um den ersten weißen Präsidenten der USA handele, da seine ganze Politik in klarer Abgrenzung zu Obama stehe. Coates schreibt regelmäßig für The Atlantic, größtenteils zum Thema struktureller Rassismus und 'White Supremacy'. Der Wassertänzer ist sein erster Roman. Er lebt mit seiner Familie in New York.

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1

Und ich kann sie nur auf der Steinbrücke gesehen haben, die Tänzerin, gehüllt in gespenstisches Blau, denn dies muss der Weg gewesen sein, auf dem man sie zurückgebracht hat, damals, als ich klein war, damals, als die Erde Virginias noch rot war wie Ziegel, rot und strotzend vor Leben; und auch wenn es viele Brücken über den Fluss Goose gibt, wurde sie sicher gefesselt über ebendiese Brücke gebracht, führt doch keine andere zu der Landstraße, die sich durch die grünen Hügel hinab ins Tal windet, bevor sie schnurgerade Richtung Süden führt.

Ich hatte die Brücke stets gemieden, weil ich sie besudelt fand von der Erinnerung an jene Mütter, Onkel, Vettern, die nach Natchez verschwunden sind. Da ich aber die überwältigende Kraft der Erinnerung kenne, da ich heute weiß, dass sie eine blaue Tür von einer Welt in die andere öffnen kann, dass sie uns von den Bergen hinab zu den Weiden, vom grünen Wald auf schneebedeckte Felder zu führen vermag, da ich weiß, dass die Erinnerung ein Land wie ein Tuch falten kann, und weiß, dass ich jede Erinnerung an sie ins »dort unten« meiner Seele gedrängt habe, da ich weiß, wie ich vergessen konnte, aber nichts vergaß, weiß ich nun auch, dass diese Geschichte, diese Konduktion, genau dort beginnen muss, auf dieser sagenhaften Brücke zwischen dem Land der Lebenden und dem Land der Verlorenen.

Und sie steppte den Juba auf der Brücke, einen irdenen Krug auf dem Kopf, vom Fluss stieg dichter Nebel auf, leckte an den nackten Fersen, die auf die Pflastersteine trommelten, dass ihre Muschelkette wippte. Der irdene Krug aber rührte sich nicht, schien ein Teil von ihr zu sein, und trotz ihrer hochgezogenen Knie, trotz ihrer Verrenkungen, Pirouetten, ausgestreckten Arme, saß der Krug auf ihrem Kopf so fest wie eine Krone. Und als ich dieses unglaubliche Kunststück sah, wusste ich, die da Juba tanzt, die in gespenstisches Blau gehüllte Frau, das war meine Mutter.

Niemand sonst sah sie – Maynard nicht, der hinten in der neuen Millenium-Kutsche saß, die Dirne nicht, die ihn mit ihren Künsten in Atem hielt, und, höchst seltsam, auch das Pferd nicht, dabei heißt es doch, Pferde hätten einen Riecher für Dinge, die sich aus anderen Welten in unsere verirrten. Nein, ich allein habe sie vom Kutschbock aus gesehen, und sie war genauso, wie man sie mir beschrieben hatte, genauso, wie sie in der alten Zeit gewesen sein muss, wenn sie mitten in den Kreis meiner Leute sprang – Tante Emma, Young P., Honas und Onkel John –, und sie klatschten, schlugen sich auf die Brust und die Knie, feuerten sie an, schneller, immer schneller, und sie stampfte so wild auf den Sandboden, als wollte sie ein Krabbelvieh unter ihren Sohlen zerstampfen, kreiste und beugte die Hüfte, kreiste und beugte die abgewinkelten Knie, auch die Hände, den irdenen Krug fest auf dem Kopf. Meine Mutter war die beste Tänzerin in Lockless, so hatte man es mir erzählt, und ich erinnerte mich daran, weil sie mir nichts davon vererbt hat, vor allem aber erinnerte ich mich, weil ihr Tanz die Aufmerksamkeit meines Vaters geweckt hatte und ich letztlich so ins Leben fand. Mehr noch, ich erinnerte mich daran, weil ich mich an alles erinnerte – an alles, wie es scheint, nur nicht an sie.

Es war Herbst, die Jahreszeit, in der die Rennen in den Süden kommen. An jenem Nachmittag hatte Maynard mit einem Vollblut Glück gehabt, einem Außenseiter, und geglaubt, das würde ihm endlich die Anerkennung der Oberen Virginias einbringen, an der ihm so gelegen war. Doch als er in seiner Kutsche eine Runde um den großen Stadtplatz drehte, zurückgelehnt und breit grinsend, kehrten ihm die Honoratioren den Rücken zu und pafften weiter ihre Zigarren. Niemand grüßte ihn. Er war, was er immer sein würde – Maynard, der Trottel, Maynard, der Lahme, Maynard, der Narr, der faule Apfel, der meilenweit vom Stamm gefallen war. Er tobte und hieß mich, zum alten Haus am Rande unserer Stadt zu fahren, nach Starfall, wo er sich eine Nacht mit einer Dirne kaufte und auf die glänzende Idee kam, mit ihr zum großen Haus in Lockless zurückzufahren, um dann, in einem plötzlichen Anfall von Scham, verhängnisvollerweise darauf zu bestehen, dass wir die Stadt hintenherum verlassen und über die Dumb Silk Road bis zur alten Landstraße fahren sollten, die uns zurück ans Ufer des Goose führte.

Während ich fuhr, fiel kalter, steter Regen, Wasser tropfte mir vom Hutrand, durchsuppte meine Hose. Ich konnte hinter mir Maynard hören, wie er vor der Dirne mit seiner Manneskraft protzte. Ich trieb das Pferd an, fuhr so schnell ich konnte, denn ich wollte nur noch nach Hause, wollte mich von Maynards Stimme befreien, auch wenn ich mich in diesem Leben von ihm selbst niemals mehr würde befreien können. Maynard, der mich an der Kette hielt. Maynard, mein Bruder, zu meinem Herrn gemacht. Und ich gab mir alle Mühe, nicht hinzuhören, mich abzulenken – dachte ans Maisschälen, an Kinderspiele wie Blindekuh, doch weiß ich noch, dass all das nichts half. Stattdessen war da plötzlich eine Stille, die nicht bloß Maynards Stimme tilgte, sondern auch all die leiseren Geräusche dieser Welt. Und wie ich da in den Postfächern meines Gedächtnisses nachsah, fand ich die Erinnerungen der Verlorenen – Männer, die auf der Nachtwache ausharrten, Frauen, die einen letzten Gang über die Obstwiese machten, alte Jungfern, die Fremden ihre Gärten verboten, alte Käuze, die Lockless und das große Haus verfluchten. Legionen der Verlorenen, über diese unheilvolle Brücke gebracht; Legionen, die in meiner tanzenden Mutter Gestalt annahmen.

Ich riss an den Zügeln, doch es war zu spät. Wir rasten weiter; und was dann geschah, sollte mein Gespür für kosmische Ordnung auf immer erschüttern. Ich war dort, ich sah, was geschah und habe seither vieles gesehen, was die Grenzen unseres Wissens aufzeigt, aber auch vieles, das jenseits davon liegt.

Die Straße unter den Rädern verschwand, die gesamte Brücke brach in sich zusammen, und einen Moment lang spürte ich, wie ich auf einem blauen Licht dahintrieb, vielleicht auch ins blaue Licht hineintrieb. Und es war warm dort, für einen kurzen Moment, erinnere ich mich, denn kaum hatte ich zu treiben begonnen, war ich im Wasser, war unter Wasser; und selbst heute noch, wenn ich dies erzähle, spüre ich aufs Neue den eisigen Griff des Goose, wie das Wasser in mich strömt, und dann jene ureigene brennende Qual, die nur Ertrinkende kennen.

Keine Empfindung ähnelt dem Ertrinken, denn man spürt nicht bloß die Qual, sondern auch so etwas wie Fassungslosigkeit angesichts der fremdartigen Umstände. Der Verstand glaubt, da müsse Luft sein, weil Luft doch immer da ist; und der Drang zu atmen ist so instinktiv, dass es Mühe macht, dem Gegebenen Geltung zu verschaffen. Wäre ich von der Brücke gesprungen, wäre es mir sicher möglich gewesen, meine neue Lage zu erfassen. Wäre ich übers Geländer gefallen, hätte ich dies verstanden, und wenn auch nur, weil es vorstellbar war. Jetzt aber war es, als hätte man mich aus dem Fenster direkt in die Tiefen des Flusses gestoßen. Ohne jede Warnung. Ich wollte weiteratmen. Ich erinnere mich, wie ich nach Luft schrie, und ich erinnere mich auch an die qualvolle Antwort, die ich bekam, an das Wasser, das in mich eindrang, und daran, was ich mit offenem Mund auf diese Qual antwortete und so nur noch mehr Wasser schluckte.

Irgendwie aber beruhigten sich meine Gedanken, irgendwie begriff ich, dass ich mit meinem Gezappel nur meinen Untergang beschleunigte. Und kaum hatte ich das begriffen, fiel mir auf, dass in der einen Richtung Licht war und in der anderen Dunkelheit, und ich verstand, dass das Dunkel in die Tiefe führte, das Licht aber nicht. Ich strampelte mit den Beinen, streckte die Arme dem Hellen entgegen, drängte mich durchs Wasser, bis ich endlich, keuchend, würgend, die Oberfläche durchbrach.

Und als ich auftauchte, durchs dunkle Wasser ins Diorama der Welt – an unsichtbaren Fäden hingen Gewitterwolken, daran geheftet eine rote Sonne, die Hügel mit Gras bestäubt –, blickte ich zurück zur Steinbrücke, die, mein Gott, mindestens eine halbe Meile weit entfernt war.

Sie schien vor mir davonzujagen, so rasch zog mich die Strömung dahin, und auch als ich versuchte, ans Ufer zu schwimmen, war es wieder die Strömung oder ein unsichtbarer Wirbel, der mich weiter flussabwärts zog. Von der Frau, deren Zeit Maynard so leichtfertig gekauft hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Doch welchen Gedanken über sie ich auch nachhing, sie wurden durch Maynard gestört, der schreiend und zeternd auf sich aufmerksam machte, fest entschlossen, die Welt so zu verlassen, wie er sie bewohnt hatte. Er war in der Nähe, wurde von derselben Strömung mitgerissen. Und er schlug um sich, schrie, trat ein bisschen Wasser und ging unter, nur um Sekunden später wieder aufzutauchen, zu brüllen, zu treten, zu zappeln.

»Hilf mir, Hi!«

Da war ich also, mein eigenes Leben baumelte über schwarzem Abgrund, und doch wurde ich aufgefordert, ein anderes zu retten. Bei so mancher Gelegenheit hatte ich versucht, Maynard das Schwimmen beizubringen, er aber nahm meinen Unterricht hin wie jeden Unterricht, achtlos, jede Mühe scheuend, doch störrisch und wehleidig, wenn seine Trägheit keine Früchte trug. Heute kann ich sagen, dass die Sklaverei ihn umgebracht hat, dass die Sklaverei ihn zum Kind gemacht hat, weshalb Maynard jetzt – in eine Welt geworfen, in der die Sklaverei bedeutungslos war – in ebendem Moment starb, da er das Wasser berührte. Ich war stets sein Schutz gewesen. Ich war es, der Charles Lee allein mit guter Laune und beschwichtigenden Worten daran...


Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geboren 1955, ist seit 1992 als Übersetzer tätig. Er übertrug und überträgt u.a. die Werke von Ian McEwan, John Burnside, John Williams und Salman Rushdie ins Deutsche. 2003 wurde er mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Er lebt in Brunne, Brandenburg.

Coates, Ta-Nehisi
Ta-Nehisi Coates, geboren 1975 in Baltimore, ist einer der angesehensten Intellektuellen der USA. Mit seinem Essay Plädoyer für Reparationen stieß er eine landesweite Diskussion zur Aufarbeitung der Sklaverei an. Zwischen mir und der Welt, für das er 2015 den National Book Award erhielt, ist in den USA eines der meistverkauften Bücher der vergangenen Jahre. In seinem Essay We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie (2017) stellte Coates die These auf, dass es sich bei Donald Trump um den ersten weißen Präsidenten der USA handele, da seine ganze Politik in klarer Abgrenzung zu Obama stehe. Coates schreibt regelmäßig für The Atlantic, größtenteils zum Thema struktureller Rassismus und »White Supremacy«. Der Wassertänzer ist sein erster Roman. Er lebt mit seiner Familie in New York.



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