E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Coates The Beautiful Struggle
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-641-27582-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Sound der Straße
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-27582-2
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
THE BEAUTIFUL STRUGGLE ist eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte über die Herausforderungen der gesellschaftlichen Realität, in die wir hineingeboren werden, und über die Liebe, die uns davor beschützt.
Ta-Nehisi Coates, geboren 1975 in Baltimore, ist einer der angesehensten Intellektuellen der USA. Mit seinem Essay Plädoyer für Reparationen stieß er eine landesweite Diskussion zur Aufarbeitung der Sklaverei an. Zwischen mir und der Welt, für das er 2015 den National Book Award erhielt, ist in den USA eines der meistverkauften Bücher der vergangenen Jahre. In seinem Essay We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie (2017) stellte Coates die These auf, dass es sich bei Donald Trump um den ersten weißen Präsidenten der USA handele, da seine ganze Politik in klarer Abgrenzung zu Obama stehe. Coates schreibt regelmäßig für The Atlantic, größtenteils zum Thema struktureller Rassismus und 'White Supremacy'. Der Wassertänzer ist sein erster Roman. Er lebt mit seiner Familie in New York.
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1
There lived a little boy who was misled …1
Sie stellten uns unten auf der Charles Street, und sie waren genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie schwenkten keine Fahnen, trugen keine Amulette, gaben sich keine geheimen Zeichen. Und trotzdem spürte ich ihren furchtbaren Namen aus Legenden aufsteigen. Sie waren der Wahnsinn. Trugen Hollis-Stetsons, aber kein Gold, ihre Schatten riesig, so als könnten sie dich aus einem Block Entfernung mit drei Hieben auf die Matte schicken – Jab, Uppercut, Jab. Sie hatten keine Augen. Sie brüllten, johlten, feuerten sich gegenseitig an, tanzten wie wild herum und riefen: Rock ’n’ Roll is here to stay. Der Mond duckte sich in seinen schwarzen Mantel, als die Murphy Homes anrückten und die Fell’s-Point-Dilettanten auf uns zustiefelten.
Schon ihre Zahl verriet sie – die anderen tauchten nie in solchen Rudeln auf. Sechs, acht um uns herum und Trupps an jeder Kreuzung. Ich war mit den Gedanken wie immer woanders, irrte durch die Caves of Chaos oder war noch ganz gebannt davon, wie Optimus Prime sich in einen Truck verwandelt hatte. Es dauerte, bis ich einigermaßen klar wurde. Big Bill sah sie von Weitem, wurde nervös, aber ich kapierte nichts, selbst dann nicht, als sie meinem älteren Bruder einen rechten Haken verpassten, wenn auch so ungeschickt, dass ich ihn für eine Begrüßung hielt.
Ich bekam erst mit, was abging, als seine Fäuste Löcher in die Luft boxten. Bill war k.o.; und Murphy Homes gingen auf mich los.
Baltimore war in jenen Tagen gespalten, aufgeteilt unter Gangs, die wie die örtlichen Bürgervereinigungen hießen. Walbrook Junction hatten das Sagen, bis sie es mit North und Pulaski zu tun bekamen, die einen feige und ehrlos vor der eigenen Freundin fertigmachen konnten.
Murphy Homes aber thronten über allen. Das Maß ihrer Skrupellosigkeit machte sie zum Mythos. Wo sie auch auftauchten – in der Old Town, im Shake & Bake oder im Hafen –, zertrümmerten sie Knie, schlugen Fressen ein. Im ganzen Land hatte ihr Name einen Klang: Murphy Homes verprügelten Nigger* mit Tankstutzen. Murphy Homes rissen dir das Rückgrat raus und streuten Salz in die Wunden. Murphy Homes hatten ihre Augen überall, kamen lautlos wie auf Fledermausschwingen und feierten schwarze Messen auf Druid Hill.
Ich wollte zu Bill, aber sie schnitten mir den Weg ab. Ein Goblin löste sich aus der Meute –
Fuck, wo willst du hin, Pussy?
– und hätte mich mit seiner Rechte fast ausgeknockt. Im selben Moment wurden meine Converse zu Stollenschuhen; ich schoss los, trat Dellen und Riefen in den Beton. Das Straßenlicht flackerte, wogte um mich herum, während ich ein paar Knöchel brach, vorbeiflog, und als die Banditen nach mir langten, mich aufhalten wollten, war ich bloß noch Wunschvorstellung und Lufthauch. Ich rannte zurück zum Lexington Market. Von Bill keine Spur. Ich schaffte es zu einer Telefonzelle.
Dad, sie sind hinter uns her.
Okay, Sohn, such dir einen Erwachsenen. Bleib möglichst in seiner Nähe.
Ich steh vorm Lexington Market. Hab Bill verloren.
Sohn, ich bin unterwegs.
Ich hatte eine Grenze überschritten, was schlimmer war als Dads schwarzer Ledergürtel – ich wusste, wie das enden würde. Aber ich schwör’s bei Tuckers Kobolden, das, was da in Kohorten kam, das waren lost boys, die nichts zu verlieren hatten, die in Rudeln um die Blocks zogen, überall Randale machten, eine echte Meute, grausam und wahllos. Und als könnten Lebensjahre mich schützen, stellte ich mich zu einem Mann in Dads Alter, der an der Bushaltestelle wartete. Er musterte mich ungerührt und blickte dann wieder in die Straßen, auf das anschwellende Schlachtgewühl rasender Jugendlicher.
An diesem Abend wollten wir zum Wrestling, unsere neuste Leidenschaft. Wrestler veredelten Kneipenprügeleien zu Kampfkunst, stürmten in den Ring, aufgepeitscht von Jubel und Applaus – wummernde weiße Musik, flatterndes Van-Halen-Haar –, das Kinn gereckt, als wären ihre Egos auf Augenhöhe mit Gott. Griffe wurden erfunden, benannt, patentiert, gefürchtet – Bob Backlund im Camel Clutch, Gott steh ihm bei –, und wir liebten dieses Sprachgebräu, das einer Prügelei Stil und Anmut verlieh, das einen Schlag aufs Auge zur rituellen Handlung kürte.
Samstagmittags lümmelten wir meist auf dem Wohnzimmerboden rum und richteten die Kleiderbügelantenne an unserem gebraucht gekauften Farbfernseher aus, bis aus Wellengeflimmer und statischem Geflacker die Fabulous Freebirds auftauchten, Baby Doll und Ron Garvin. Diese Wrestler tourten durchs Land und perfektionierten ihre irre Show. Sie waren voll von der Rolle, salbaderten im Rhythmus Schwarzer Prediger, trugen Seidenroben, Bikinis und paillettenbesetzte Gürtel, hielten Sonnenschirme und rezitierten Gedichte. Aus dem Nichts tauchten Hochglanzpostillen auf, verbreiteten ihr Evangelium, zeigten ihre finsteren Visagen, druckten ihre leeren Drohungen und ihre Weisheiten. Diese Typen gaben Interviews in der Garderobe und hieben in die Luft, wenn sie Klartext reden wollten. Geschichte wurde geplündert, Mythen wurden ausgeschlachtet, bis Hercules Hernandez vom Olymp herabstieg und Iron Sheik dem Mittleren Westen den Nahen Osten erklärte. Sie hielten Gipfeltreffen ab und gingen in Verhandlungen, die jedes Mal mit einem Hagel Fausthieben endeten.
Es gab Fans, die ihren Hulkster liebten, andere den goldenen Von Erich, für mich aber gab es nur The American Dream. Zu Feuerwerk und tosendem Applaus wuchtete er sich in den Ring. Die Wampe quoll übers Bikinihöschen, in den Augen finstere Storys.
Die Four Horsemen drängten Dream in die Seile und prügelten auf ihn ein, bis sein Haar nur noch eine blutblonde Masse war. Ich wand mich, trommelte auf den Boden, schrie, er solle endlich aufstehen. Bill aber hielt es stets mit den Bösen und gackerte vergnügt, als Ric Flair in den Ring stolzierte und sich das Haar seiner platinblonden Perücke in den Nacken warf. Endlich ging Dream zum Angriff über, ein Figure Four Leglock, dann sein Bionic Elbow und gleich darauf der Sonny-Liston-Haken. Die Gegner geschlagen – Tully Blanchard zu Boden gestreckt, Arn Anderson erledigt –, blieb er mitten im Ring stehen, blickte über die aufgepeitschte Menge und schnappte sich das Mic wie KRS:
Ich bin der Größte. König im Ring. Hab’s euch doch gesagt: Der Dream, das ist professionelles Wrestling. Ich bin ganz oben, und noch wurde der Höllenhund nicht geboren, der mich von hier vertreibt.
Wir mussten sie unbedingt sehen, was aber nur mit der Erlaubnis von Dad möglich war, für den das Leben allein aus Arbeit bestand. Er schuftete sieben Tage die Woche. Big Bill nannte ihn den Papst, denn als hätte er zu Gott einen direkten Draht, erließ er Woche für Woche umfangreiche Edikte. Mit einer schmerzlichen Predigt verbot er uns, an Thanksgiving zu essen. Klimaanlagen, Videorekorder und Atari erklärte er für tabu und schickte uns mit einem Handmäher auf den Rasen. Morgens lief NPR, der öffentlich-rechtliche Rundfunksender, und Dad fragte nach unserer Meinung, nur um zu widersprechen und eine Diskussion vom Zaun zu brechen. Einmal analysierte er mehrere Tage hintereinander Tarzan und The Lone Ranger, bis ich, mit gerade mal sechs Jahren, an meinen Helden den Schandfleck der kolonialen Macht entdeckte. Witzigerweise hat ihn genau das auf unsere Seite gebracht, da bin ich mir sicher.
Er schenkte uns zwei Tickets fürs Wrestling und machte einen Witz:
Geht, seht ihn euch an, Kamala, The Ugandan Giant, dann wird euch wie mir klar, dass dieser Nigger aus Alabama stammt.
In der Baltimore Arena waren wir in unserem Element. Von unseren billigen Plätzen ganz oben gafften wir in den Ring wie in eine Geschenkbox. Überall Weiße, so viele, wie ich noch nie auf einen Schlag gesehen hatte. Sie trugen Schirmmützen, abgeschnittene Jeans und hüteten Scharen von Kids, die Hotdogs und Popcorn in sich reinstopften. Ich fand, sie sahen prollig aus, und wurde zu einem stolzen Rassisten.
Ich würde euch gern erzählen, was dann passiert ist, aber ich erinnere mich nicht. Ich war zu allem bereit und wollte dem Birdman zujubeln, der beknackt aussah mit seiner Wraparound-Sonnenbrille, den Jheri-Locken und den goldblauen Lycrapants. Seine Einlaufmusik schien er nie zu hören. Er hatte seinen eigenen Rhythmus im Kopf, aber sicher tänzelte er auch an diesem Abend federnd zum Ring, fuchtelte dabei mit den Armen und plauderte mit den Sittichen, die links und rechts auf seinen Schultern hockten. Ich wollte The American Dream auf dem Höhepunkt seiner Fehde mit den Horsemen sehen, wie er sich Guerillataktiken zu eigen machte – Masken, Capes, Hinterhalte –, Kämpfe, die sich bis auf die Parkplätze, Zufahrten und Fantreffen ausweiteten. Aber nichts davon habe ich mitgekriegt, und wenn ich in meinen Erinnerungen von diesem Abend krame, sehe ich nur die Tentakel der Murphy Homes gegen den Kopf meines Bruders klatschen. Big Bill war schon immer ein Straßenkid gewesen, dieser Angriff aber, dieser hinterhältige Übergriff auf unser Selbst, riss eine Grenze ein. Er hatte die Verzweiflung gespürt und wusste jetzt voll und ganz, was auf dem Spiel stand.
Ich weiß, dass Dad und Ma mich gerettet haben, weiß, dass sie irgendwann mit ihrem silbernen Rabbit vorgefahren sind und Dad sich ins nächtliche Gewusel stürzte, um seinen ältesten Sohn zu finden. Zum ersten und einzigen Mal hatte ich Angst um ihn. Ich weiß auch, dass Linda, Bills Mutter, zum Hafen jagte und dass...