Cobanli / Reichenberger | Der halbe Mond | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Cobanli / Reichenberger Der halbe Mond

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7844-8230-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-7844-8230-9
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Herrenhaus in Mecklenburg, ein Palais am Bosporus …

Frauen waren seine Leidenschaft. Inmitten zweier unterschiedlicher Kulturen wächst der junge Feridun auf. Als Sohn des Dardanellen-Helden Cevat Pascha wird er im Kadettenkorps in Berlin zum Gardejäger gedrillt und ist Gast auf den Gütern adliger Familien in Preußen. Als Diplomat, protegiert von Atatürk, Frauenheld und charmanter Exot erlebt er die bewegende Weltgeschichte zwischen 1920 und 1960. Sein Sohn Hasan, wie der Vater weder in der Türkei noch in Deutschland wirklich zu Hause, erzählt diese wechselvolle Familiengeschichte und schlägt den Bogen über hundert Jahre bis in das Jahr 2013, als er am Gezi-Park eine unerwartete und berührende Bekanntschaft mit einer jungen Demonstrantin macht …

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1920 Hadije Soraya Vom Bosporus herauf schmeichelte sich das Tuten eines englischen Panzerkreuzers in sein Ohr. »Feridun!«, rief die Mutter. Unten auf der Terrasse vor dem alten, hölzernen Herrenhaus stand für den Sohn des Paschas das Frühstück bereit. Silberne Teekanne, Porzellantasse aus Limoges, Toast, Orangenmarmelade, ein Schälchen mit Gurken, eins mit Oliven, eine Schale frischer Joghurt, den die Haushälterin allmorgendlich vom Straßenhändler mit dem Joch über der Schulter kaufte, wenn er sich am Tor mit seinem Ruf »Yogurtcuuuu!« meldete. Milder Morgenwind stieg vom Bosporus herauf, strich durch den Park, fing sich in der Fassade des Paschasitzes, griff in die Zweige dreier riesiger Zedern und ließ die Blätter der beiden Palmen vor Feriduns Fenster rascheln. Im Sonnenschein warfen die Palmenblätter riesige Schattenspinnen, die über Holzfassade und die aufgeklappten Fensterläden hoch und höher krochen. Die Luft roch nach Erde und Wasser, rund um einen Kreis aus mannshohen Rosenbäumen sprengte der Gärtner seine Beete. Im kriegsgezeichneten Konstantinopel erweckte das Anwesen auf den Hügeln von Nisantasi den Eindruck einer ungefährdeten Idylle. »Feridun, Frühstück!« Hadije Soraya erwartete ihren Sohn auf der Terrasse, neugierig auf weitere Geschichten von deutschen Aristokraten, den Roons und den Bassewitzens. Mit Frontabenteuern brauchte Feridun ihr nicht zu kommen. Der große Krieg war verloren, und Hadije Soraya froh, Mann und Sohn wieder heil um sich zu wissen. Doch von den preußischen Grafen auf ihren Gütern hörte sie den Heimkehrer aus dem untergegangenen Reich des Kaisers gar zu gerne erzählen. Feridun tat ihr den Gefallen nach Kräften, erfand notfalls hinzu, wenn ihm der Stoff ausging, er sprach sogar freundlich von den Comtessen. Das Magdolna-Kapitel ließ er weg, seine Mutter brauchte nicht alles zu wissen. Feridun war noch nicht wirklich zu Hause angekommen. Er sprach und träumte Deutsch. Sein Türkisch war das eines Zehnjährigen, es machte ihn verlegen, wenn die Eltern ihn verbesserten wie einen Abc-Schützen. Lieber war es ihm, wenn zu Hause Deutsch oder Französisch konversiert wurde, was zum Glück häufig der Fall war. Nachhilfe in Straßentürkisch holte er sich lieber vom Dienstpersonal. Der Vater war heute schon sehr früh ins Ministerium gefahren. Es gab wieder Ärger. Die Demobilisierung der Sultansarmee schien ins Stocken zu geraten, was die Aliierten auch dem zuständigen Generalstabschef anlasteten. Engländer, Franzosen und Italiener hatten die Stadt in Zonen aufgeteilt, um – jeder auf seine Weise – die Forderungen der Siegermächte durchzusetzen. Hunderte Carabinieri, aus Italien herübergeholt, nahmen in allen Sektoren die Polizeiaufgaben wahr. Der Sultan ließ alle Demütigungen über sich ergehen. In den Weiten Anatoliens jedoch verpufften die Drohgebärden der Sieger. Dorthin hatte sich der Kriegsheld Mustafa Kemal Pasa mit seinen Getreuen zurückgezogen, ins fünfhundert Kilometer östlich gelegene Ankara. In seinem Hauptquartier tagte die von ihm einberufene »Nationalversammlung« und versuchte auf das Parlament des Sultans am Bosporus Einfluss zu nehmen. Auch auf seinen Weggefährten Cevat Pasa konnte er dabei zählen. »Feridun, nun komm doch endlich!« »Oui, Maman!« Er blieb im Bett liegen und blinzelte in den Morgen. Versuchte sich zu erinnern, wie es früher hier oben ausgesehen hatte, wenn er als Kind die Augen aufschlug. Sein Zimmer im dritten Stock war nun für Gäste eingerichtet, die über Nacht blieben. Die beiden Palmen in Feriduns Alter, die der achtjährige Junge einst mithilfe des Gärtners vor dem Hauptgebäude gepflanzt hatte, waren in den vergangenen zwölf Jahren zu stolzer Höhe emporgewachsen und spendeten nun den oberen Stockwerken des Konak ihren Schatten. Ihre Blätter nestelten an den Fensterläden und schreckten Feridun manchmal nachts aus dem Schlaf. Das Geräusch machte ihm die unfassbare Ruhe bewusst, die er nach all den Jahren in Kaserne und Krieg nicht mehr kannte. Im Schlafsaal der Kadettenanstalt hatte er sie unter Tränen herbeigesehnt. Zurück im Elternhaus dauerte es Monate, bis er die Abwesenheit jahrelang gewohnter Belästigungen – schnarchende Kameraden, ferner Geschützdonner, Alarmglocken, Motorenlärm, Befehlsgebrüll – als Normalzustand genießen konnte. War auch die im Herzen für immer bewahrte Einrichtung des Kinderzimmers verschwunden, etwa seine geliebten ledernen Schattenspielerpuppen Karagöz und Hacivat, klopften doch jede Nacht die beiden Palmen sanft ans Fenster, um ihn daran zu erinnern, wie grausam man ihn aus seiner Kindheit gerissen hatte, um ihn hinter preußischen Kasernenmauern zum Krieger zu erziehen. Oft machte er Streifzüge durchs Haus, in der Hoffnung, die Räume würden ihm erzählen, was er alles versäumt oder vergessen hatte. Cevat Pasa Konak war von außen ein herrschaftliches, innen gleichwohl sehr behagliches Gebäude, Mitte des 19. Jahrhunderts im osmanischen Stil errichtet von Cevats Vater Arapkirli Sakir Pasa. Mehrere mit weißer Ölfarbe lackierte Holztreppen wanden sich in die oberen Stockwerke, in der Mitte des Hauses befand sich die breite Haupttreppe aus Marmor. Jedes Stockwerk verfügte über einen größeren Salon und mehrere Schlafzimmer, die zum Teil für Gäste eingerichtet waren. Der Hausherr und seine Frau bewohnten getrennte Zimmer: Cevat ein spartanisch-elegant eingerichtetes Refugium mit einer Couch, auf der ein Kelim lag, einem Schreibtisch und zwei Sesseln für Besucher. In der Mitte des Raums thronte eine Büste seines Vaters auf einer Marmorsäule. Das Reich der Hausfrau war eine Suite, bestehend aus klassischem Damenschlafzimmer nach französischem Vorbild mit großem Baldachinbett, einem Toilettentisch mit Spiegel sowie einem Schreibtisch, darauf ein Dutzend Bilderrahmen und eine Sammlung silberner Becher und Döschen, die täglich vom Personal entstaubt wurden. An den Wänden hingen Stiche und Ölbilder der sogenannten »Orientalisten« aus Frankreich und Deutschland, aber auch Jagdtrophäen – in Silber gefasste Wildschweinhauer und dunkelrotbraune Schildkrötenpanzer. Im zweiten Stock befand sich die Bibliothek mit etwa zweitausend französischen, arabischen, persischen, deutschen und türkischen Büchern, dazu alte Handatlanten, Biografien berühmter Paschas, Wesire, Sultane und ausländischer Fürsten, ledergebundene Folianten mit wissenschaftlichen Illustrationen aus kolorierten Kupferstichen. Hohe Mahagonileitern standen bereit, wenn man sich ein Buch von weiter oben herunterholen wollte. Juwel der Sammlung war eine Erstausgabe des Buches »Unter dem Halbmond«. Der Autor, Reichs-Mitgründer und späterer preußischer Generalfeldmarschall Hellmuth Graf Moltke, hatte dem Sultan als Militärberater gedient und seine Erinnerungen 1870 Cevats Vater Sakir Pasa persönlich gewidmet. Der Bestseller lehnte an Napoleons Memoiren in Französisch und Deutsch, die unschöne Kindheitserinnerungen Feriduns an seine Hauslehrerin Madame Strüth aus Reichshoffen lebendig hielten. Zweimal war ihr elsässischer Heimatort militärisch in Erscheinung getreten, einmal marschierte Napoleon Bonaparte auf seinem Schlachtzug nach Osten vorbei, das andere Mal, 1870, war es Schauplatz einer vernichtenden Niederlage, die Preußen, Sachsen und Bayern den Franzosen beibrachten, was das Hoffen aufs Reich zwar binnen einen Jahres in Erfüllung gehen ließ, aber auch nur bis 1918. Reichshoffen hatte also nicht viel Freude gehabt an seinem irreführenden Namen, genauso wenig wie Feridun mit Madame Strüth. Die Salons waren sehr unterschiedlich eingerichtet. Die türkischen, im alt-osmanischen Stil gehalten, erschienen schlicht, hell, sonnendurchflutet von zwei Fensterfronten, da sie an den Ecken des Hauses lagen. Zwei französische Salons, prachtvoll möbliert mit Boulle-Möbeln und Louis-XVI-Schreibtischen, hielt man schattig-düster, um die europäischen Antiquitäten nicht der Sonne auszusetzen. Auf den Schreibtischen, Kommoden und Demi-Lune-Konsolen der französischen Salons standen Bilder in großen silbernen oder elfenbeinernen Rahmen: Freunde, Kinder, berühmte Bekannte, meist mit Signatur. Cevat Pasa besaß sogar ein ihm gewidmetes, handsigniertes Porträt des deutschen Kaisers. Auf einer Kommode stand – aus schwarzem Marmor mit vergoldeten Intarsien – eine Boulle-Uhr mit Stunden- und Mondphasen-Zifferblatt und einem weiteren für Tages-, Wochen- und Monatsanzeige. An anderer Stelle prunkte ein mächtiger silberner Samowar. Die Wände waren zum Teil im üppigen Stil der Gründerjahre tapeziert, die über vier Meter hohen Decken mit floralen Mustern bemalt. Die Böden hatte Cevat kurz vor dem Krieg mit Parkett veredeln lassen, auf ihnen lagen kostbare Teppiche. In einem der beiden Salons stand an der kurzen Seite und längst nur noch als Ablage für Bilder und Vasen benutzt ein französisches Pleyel-Piano, das die Mutter einst für den Knaben Feridun angeschafft hatte. Madame Strüth, an einem elsässischen Mädchenpensionat als Musik- und Deutschlehrerin beschäftigt, bevor sie ihrem Ehemann nach Konstantinopel folgte, hatte Hadije Soraya beim Kauf des Instruments beraten und Feridun dann drei Jahre lang Klavierunterricht erteilt. Die Liebe zur klassischen Musik konnte sie bei ihm nicht wecken, doch ihr osmanischer Schüler brachte es immerhin so weit, dass er die Lehrerin beim Vortrag französischer Chansons begleiten konnte. Am liebsten schmetterte sie mit ihrer Krähenstimme die Marseillaise. Feridun mochte die Melodie immer gut leiden, auch wenn er sich vom Text abgestoßen fühlte. Haftete ihm doch ein Odeur von Tod und Blut und Boden an, der...


Hasan Cevat Cobanli, geboren 1952 in Istanbul, wo er seine Kindheit verbringt. Studium der Amerikanistik und Romanistik, Absolvent der Deutschen Journalistenschule. Schrieb u. a. für Stern, Wirtschaftswoche und Capital. Als TV-Reporter, Moderator und Produzent drehte er zum Teil preisgekrönte Reisedokumentationen. Der Autor lebt in München.

Stephan Reichenberger, geboren 1957 in Bayreuth. Drehbuchautor und Ghostwriter. Er entwickelte TV-Sendungen wie Leo's Magazin, Frontal, Leute heute, drehte zahlreiche TV-Dokumentationen für ARD und ZDF und schrieb Drehbücher für TV-Komödien. Für seine Arbeit erhielt er den Adolf-Grimme-Preis. Stephan Reichenberger lebt in München.



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