Cohen | Witz | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 912 Seiten

Cohen Witz

Roman
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7317-6215-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 912 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6215-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Witz« - das heißt nicht nur Scherz, sondern auch Sohn. Benjamin ist der einzige Sohn und das dreizehnte Kind von Hausfrau Hanna und Rechtsanwalt Israel Israelien, die von Überlebenden der Shoa abstammen. Er kommt am letzten Weihnachten des letzten Jahrtausends vollständig ausgewachsen und mit Bart und Brille in New Jersey auf die Welt, als eine mysteriöse Seuche die gesamte jüdische Bevölkerung der USA dahinrafft. Benjamin überlebt als Einziger und wird zunächst zur Kultfigur, als das aufs Neue ausgerottete Judentum auf einmal schick wird. Doch in diesem Roman der Umkehrungen und Rollenspiele, in dem nun die Nichtjuden verfolgt werden, wird auch Benjamin wieder zum Ausgestoßenen und Gejagten und wiederholt das Leben in der Diaspora. Gegen die Verkitschung des Holocaust zieht Joshua Cohen, der vielbeachtete Autor von »Buch der Zahlen«, alle Register der Komik und Parodie, mischt Biblisches mit Stand-up-Comedy, Hochkultur mit Trash, Familiengeschichte mit Slapstick. So gelingt ihm ein fulminantes Opus magnum: mit »Witz«.

Joshua Cohen wurde 1980 in New Jersey geboren und hat vielfach ausgezeichnete Erzählbände und Romane veröffentlicht. Für seinen Campusroman Die Netanjahus erhielt er den National Jewish Book Award for Fiction und den renommierten Pulitzer Preis 2022. Er lebt in New York.
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Da Drüben, damals

AM ANFANG KOMMEN SIE ZU SPÄT.

Jetzt steht sie wüst und leer.

Und die Finsternis verstärkt das ferne Feuer um sie herum.

Eine Synagoge, noch unzerstört. Eine Überlebende. Wer ist das nicht?

Jetzt ist sie leer. Ein Magen, ein Gehäuse, ein letzter Bahnhof, nachdem der letzte Zug zur letzten Grenze des letzten Landes am letzten Abend der letzten Welt abgefahren ist; eine Schote, eine Schale – eine Synagoge, eine Schul.

Minche wird bei Sonnenuntergang gebetet, Maariw in der Dunkelheit.

Warum diese Verspätung?

Er nennt Gründe, und sie nennt Ausflüchte.

Lasset Gründe und Ausflüchte sein.

Und so ward es.

Ein letztes Schiff hinaus, warum waren sie da nicht mitgefahren? Sie hatten ihre Papiere nicht dabei? ihre Papiere waren nicht in Ordnung?

Er nennt Ausflüchte, und sie nennt Gründe.

Lasset Ausflüchte und Gründe sein.

Und so ward es, wenn auch erst im Nachhinein.

Mrs. Singer streicht über die Narbe ihres Mannes, als wolle sie ihn ruhig stimmen. Aber er weiß, was sie eine Narbe nennt, ist sein Mund.

Zu spät, weil sie im Traum vom einen oder anderen Exil feststecken; zu spät, weil das Abenteuer der Einsammlung der Verstreuten nicht ganz vertrauenswürdig zu sein scheint; zu spät, weil man ihnen Gelder schuldet, und davon kannst du verdammt noch mal ausgehen, dass sie die eintreiben … und wie viel ist es bei dir? Ich warte bloß darauf, dass dieses einmalige Geschäft durchkommt, und wenn es so weit ist, GOtt!, wenn es erst so weit ist, das kannst du mir aber glauben, dann bin ich hier weg …

Singer schweigt, bückt sich und hebt einen Schuh auf, der ihm zu groß ist, beim letzten Schritt vom Hutzelfuß gefallen.

Nu, so ist es seit seiner Geburt immer gewesen, und all die langen, harten Jahre zollten gleichsam vergangenen Tagen Tribut: der Brückenüberquerung, dem unverschämten Preis für ein löchriges Schiff mit Durchzug, einem vom Himmel herabgeworfenen Aeroplan, seiner Flügel beraubt. Dabei hat er sich ein Bein ausgerissen, um seinen Teil der Vereinbarung einzuhalten: sich immer weitergeschlängelt vom Garten Eden zum Grab, er gibt sich Mühe, kannst ihn ja fragen; hätte er nicht so vorteilhaft geheiratet, hätte er sich einen Ast zum Gehstock zurechtnagen müssen. Und dann wieder betest du um einen Splitter und bekommst stattdessen einen Baum, aus dessen Fleisch Papier gemacht und aus dessen Früchten Tinte gesaugt wird, und zusammen wirken sie an GOttes Verfassen der Gebote mit, deren Wörter und sogar Buchstaben dem HErrn sei Dank auf Sinn verpflichtet sind; und so empfangen wir Erkenntnisse wie die folgenden und die vorangegangenen und dies: Willst du nur stehen bleiben, so stürzt du, wirst verbannt, dann verflucht und geschmäht, verurteilt, über einen Kontinent zu ziehen, ohne zu wissen wohin, nur wann du erwartet wirst, nämlich jeden Freitag bei Sonnenuntergang, indes sind eure Kalender nie in Einklang gebracht worden, und was du immer für Westen gehalten hast, war in Wahrheit ein Linksabbiegen mit dem Rücken gen Norden, eilends und nach wenig Schlaf, und dann mit einem zunehmend beunruhigenden Mal auf der Stirn.

Ein Mahl nach dem Schacharit, dem Morgengebet, das GOtt preist, Der das Licht schuf, indem Er bloß sagte, es werde, und das scheint, während wir Ihm danken, dass wir nicht sind wie jene – die Tiere, Frauen oder Kranken; dass Er uns noch nicht dem Dunkel des Todes übergeben hat – Schatten ohne Seelen, für die zu beten wäre, was sie auch nicht könnten, da es ihnen an Stimmen und Herzen mangelt, und so schlurfen sie aufgedunsen und überfressen in die Schul: Uneingegliedert, schlüsselklirrend – das kann doch nicht sein! so viele Türen … namenlose, gesichtslose, fast gestaltlose Gojim, stille Riesengestalten, aus feuchtem Dämmer aufgetaucht, um ein Leben zu bestreiten, das eher ein Sterben ist. Es ist seltsam, niemand versteht’s: Sie wollen helfen, nicht zerstören. Ruhe bewahren. Der eine fegt sauber; ein zweiter säubert die Sitze abends von vergessenem Hab und Gut. Ein dritter stapelt Bücher auf dem Almemor, schiebt sie zusammen, durcheinander, zerknittert, feucht, stellt sie auf Bankablagen, legt sie auf nach hinten gerückte Plätze, die Rasierlogen, aus denen der Schammes herbeiächzt mit einem riesigen Eisenschlüssel an einer Kordel um den Bauch, tief unter seiner Wampe baumelnd, mit den Schritten mitschwingend, die weit ausgreifen wie die letzte Nacht, die er hier frei und unbekümmert verbringen wird.

Stunden später, als Stunden noch Stunden waren, erholsam und erleuchtet wie der ganze Schabbattag, nicht überirdische Ordnungen aus Zahlen und Aufzählungen, nicht die schmale Spurweite einer Kometenbahn, Sternenstichtag, verpasst, verfallen, die Uhren von Ankunft und Abflug und Ankunft, täglich aufs Neue – die Uhr als Tischschmuck unserer Zeittafeln, die uns nicht nur an den Zeitpunkt unseres Mahls gemahnen, sondern auch die letzte verbliebene Nahrung sind – die Eingegliederten kongregieren draußen, sammeln sich … bald hat sich dort eine Gemeinde gebildet: konfessionslos, denn was hat die Observanz schon zu bedeuten, vielleicht sogar religionslos, oder alle zusammengelegt, oben auf den brennenden Haufen geworfen, wer weiß, wer kann das angesichts der Sprachen sagen? Ihr Blut ist die Fahrkarte, zu gepfefferten Preisen erworben oder weit im Voraus für ’n Appel und ’n Ei. Eimerweise vorhanden. Sie sind paarweise aufgestellt, zwei von jeder Art, je ein Männchen und Weibchen. Sie sind ausgeruht, ausgewaschen, ausgekleidet; sie sind zum Duschen angetreten und zum Scheren. In der Luft hängt die Essenz der letzten Sommerrosen, flaues Parfum – oder ist es Rauch, sonderbar süß …

Mentschn bücken sich am Rinnstein, beugen die Knie, werfen die Finger aus und angeln in den Rosten des vormaligen Regimes und den Spätnachmittagspfützen nach allem noch nicht Verwehten: lappigen Seiten, blotiken Blättern, Daf-Jomi-Flecken, vergilbten Zeitungen, deren Druckerschwärze morgen mit der Gattin von gestern weggelaufen sein wird, Schnipselfetzen, Pergament oder ist das einfach Haut, GOtt, das ist Haut. Wenn die ganz alten Mentschn beim Bücken stürzen, helfen unwesentlich jüngere Mentschn ihnen wieder auf und diesen wiederum um ein Blinzeln, eine Runzel Jüngere, alle erfahren Wiedergutmachung, und nun ist die Zehnerzahl erreicht, der Minjan. Gossenwasser wird aus den Jarmulka gewrungen, Dreck mit Spucke weggerubbelt. Die Mentschn klauben die Fetzen auf, breiten sie gegen die Windstöße an der Tür mit Daumenmessern auf glasig kahlen Schädeln aus, als ob ihre Köpfe ohne diese alles verkorkenden Fitzel und Zettel gen Himmel stieben würden. Und seinem Gewölbe. Das Himmelsgewölbe nie zu vergessen. Windgezaust küssen sie den markierten Türpfosten. Ein Uneingegliederter an der Tür verteilt Bücher mit eingelegtem Ablauf, beides wird ebenfalls auf die Jarmulka gedrückt.

Von Gelb über Rot bis zu Braun über Schwarz, wenn ich’s recht erblinzle, ich hab meine Brille grad nicht auf, fällt es im Westen durch die Fenster. Also, es werde Licht, und es ward Licht, und das war gut, wenn auch nicht perfekt – naja, oder ist dir pah vielleicht lieber. Es gehört ihnen aber nicht: Einsicht ist den Versammelten verwehrt, hier zumindest, und wonach sie bei sich zu Hause trachten, wo gleich hinter dem Horizont das Verderben aufwartet, in ihrer freien Zeit, die fast abgelaufen ist, geht uns absolut nichts an. Zwei Lichter werden eines wird zwei: Der Schammes hat Kerzen angezündet, Flammen, aber das Feuer brennt draußen. Das Buntglas bleibt dunkel. Der Boden ist ein Schuttplatz: Überreste geborstenen Flechtwerks, Scherben der bleiverglasten Lanzett- und Rosettenfenster, aus Heizkostengründen längst ersetzt oder vermauert; Banktrümmer beiseite gehäuft, Sitzflächensplitter, ausrangierte verkümmerte Glieder – nützlich fürs Anfachen der Heizkessel.

Sie kommen immer noch zu spät – es ist ein langer Weg, und in diesen Schuhen …

Wer sich noch nicht verspätet hat, geht jetzt teils nach links, teils nach rechts und die Treppe hoch auf die Empore: die billigen Plätze, die Frauen, Vergebung; einige haben vergessen, ihnen wird aber vergeben, sie werden erinnert. Beim Eintreten schüttelt das Publikum Hände; man umarmt und küsst sich und zieht mit den nicht schüttelnden Händen Erkundigungen ein. Der Hall von Schuhen auf Stein. Man streicht über Anzüge, rafft Röcke, zupft Hosen, setzt sich, puh. Die Alten sollten sich zuerst setzen, aber die Kinder von heute werfen den Respekt den Hunden zum Fraß vor, in der Ferne die ganze Nacht Gebell. Kissen, wo es vorne in den ersten Reihen Kissen gibt, schnaufen Staub auf. Husten und Niesen ergibt sich, Allergien. Die einen sitzen auf Bänken, die anderen auf Sitzen an der Wand, auf Ständern, ein Gruß an die alten Traditionalisten: Ein Griff an die Hutkrempe, eine leichte Verbeugung, die Aufrechten verneigen sich und werden grüßend zu Gefallenen, der Worte beraubt, wo über den Dialekt noch beraten wird. Alle sind erledigt, der Tag ist erledigt … Aj-aj-aj und der ganze Kitsch, das war mal. Ein paar sitzen in Bänken, sie wirken beschämt, abgeschieden, ganz hinten gibt es Klappstühle. Der Raum füllt sich, es gibt nicht genug Plätze, gibt es nie, keinen Platz, keinen Raum, keine Luft: Einige wiegen sich zum Aufwärmen im Stehen, als wären sie ihre eigenen Mütter, andere sitzen auf Grabsteinen, die auf dem Friedhof nebenan entweiht und hergeschleppt worden sind; draußen stehen...


Cohen, Joshua
Joshua Cohen wurde 1980 in New Jersey geboren und hat vielfach ausgezeichnete Erzählbände und Romane veröffentlicht. Für seinen Campusroman Die Netanjahus erhielt er den National Jewish Book Award for Fiction und den renommierten Pulitzer Preis 2022. Er lebt in New York.

Blumenbach, Ulrich
Ulrich Blumenbach, geboren 1964 in Hannover, studierte Anglistik, Germanistik und Geschichte. Er hat neben vielen anderen Autoren David Foster Wallace ins Deutsche u¨bertragen, erhielt hierfu¨r zahlreiche Preise und konnte bislang von der Sucht des Literaturu¨bersetzens nicht geheilt werden. Im Dörlemann Verlag erschienen in seiner Übersetzung Raja Raos Roman Kanthapura und Dorothy Parkers Gedichte Denn mein Herz ist frisch gebrochen sowie Unbezwungen.

"Joshua Cohen wurde 1980 geboren und hat Erzählbände und Romane veröffentlicht. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Pushcart Prize (2012) und den Award for Young Promising Jewish Writer/Poet (2013). Die Zeitschrift Granta wählte ihn 2017 zu einem der zehn besten jungen amerikanischen Autoren der letzten zehn Jahre. Im Wintersemester 2017/2018 war Joshua Cohen Samuel-Fischer-Gastprofessor an der FU Berlin. Für seinen Campusroman »Die Netanjahus« - erscheint im Frühjahr 2023 bei Schöffling & Co. - erhält er den National Jewish Book Award for Fiction und den renommierten Pulitzer Preis 2022.Ulrich Blumenbach, übersetzt seit 1993 aus dem Englischen und hat u. a. Werke von Stephen Fry, Jack Kerouac und Arthur Miller sowie Gedichte von Dorothy Parker ins Deutsche gebracht. Für die Übersetzung von David Foster Wallace" »Unendlicher Spaß« wurde er u. a. mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Für die Arbeit an »Witz« erhielt er das Zuger Übersetzerstipendium und den Kulturpreis der Stadt Basel."



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