E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Cole So Let Them Burn
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-96129-458-9
Verlag: KARIBU
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-96129-458-9
Verlag: KARIBU
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kamilah Cole ist eine in Jamaika geborene und in Amerika aufgewachsene Autorin. Tagsüber arbeitet sie im Verlagswesen, und nachts tippt sie verzweifelt Wörter, in der Hoffnung, dass sie eines Tages in einem Buch im Laden stehen. In der Vergangenheit hat sie auch als Journalistin und in einem Hotel gearbeitet, zwei Jobs, bei denen man auf Partys tolle Geschichten erzählen kann. Wenn man auf Partys gehen würde.
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KAPITEL 1
FARON
Faron Vincent war schon länger eine Lügnerin als eine Heilige.
Von klein auf hatte sie gelernt, dass Lügen eine Währung waren, mit der sich Freiheit oder Vergebung erkaufen ließ. Schneller als jede Magie konnten Lügen die Wirklichkeit verändern. Eine gut erzählte Lüge war an sich schon Magie, und Faron war darin mehr als überzeugend.
Heute Morgen hatte sie schon drei Mal gelogen, und jede einzelne Lüge hatte sich magisch angefühlt. Zu ihrem Lehrer hatte sie gesagt, dass sie sich mehr anstrengen würde, um bis zum Jahresende ihre Noten zu verbessern. Ihrer Schwester hatte sie versprochen, nach der Schule sofort nach Hause zu gehen. Und Jordan Simmons hatte sie versichert, keine Beschwörung zu benutzen, um ihn bei diesem Wettlauf zu besiegen.
War es ihre Schuld, dass die anderen ihr immer glaubten?
Fairerweise sei gesagt, dass Faron nicht immer wusste, dass sie gerade log. So hatte sie durchaus die Absicht gehabt, mindestens zwei ihrer Versprechen zu halten – vielleicht sogar alle drei, falls ihr der Sinn danach stand, sich besonders anständig zu verhalten. Dann hatte jemand auf dem Schulhof herumerzählt, dass sie den Unterricht schwänzen wolle, um an der Konferenz teilzunehmen, und schon hatte es Ärger in Gestalt von Jordan Simmons gegeben.
Die Erwachsenen auf der Insel San Irie sahen in Faron ein heiliges Kind, doch von ihren Mitschülern ließ sich das nicht behaupten. Jordan hatte sie draußen vor dem Schultor angesprochen, als sie Schlange stand, um sich eine Tüte Saft zu kaufen. Es war so heiß, dass sie es fast bedauerte, am Leben zu sein, und es verschaffte ihr auch keine Abkühlung, dass sie die Ärmel ihrer Hemdbluse hochgekrempelt hatte. Sehnsüchtig betrachtete sie die weißen Kälteschwaden, die aus dem offenen Wagen des Straßenverkäufers waberten, sodass sie Jordan erst bemerkte, als er direkt neben ihr stand.
»Schwänzen wir schon wieder die Schule, Vincent?«, feixte er, flankiert von zwei anderen Jungs aus der zehnten Klasse. Das alberne Gewieher, in das sie daraufhin ausbrachen, war der erste Misston an ihrem bisher so harmonischen Tag. Jedem anderen wäre dies wohl eine Warnung gewesen, dass Gefahr drohte. Doch Faron war nur gelangweilt. »Die Sache mit der Empyrien ist doch ein fauler Zauber, oder?«
»Wenn es ein guter Zauber wäre«, erwiderte Faron, ohne sich umzudrehen, »würde ich nicht mehr den Mist riechen, der aus deinem Mund kommt.«
Sie machte sich nicht die Mühe, über die Wirklichkeit des Krieges zu sprechen, über die ständigen Albträume oder die hohen Erwartungen, die an sie gestellt wurden, seit sie das Empyreische Kind war. Vor fünf Jahren, als die Götter ihr diesen Titel verliehen hatten und die damit verbundene, einzigartige Gabe, ihre grenzenlose Magie zu beschwören, hatte sie nur daran gedacht, San Irie zu schützen. Sie hatte nicht begriffen, wozu sie sich verpflichtete – oder worauf sie verzichtete.
Doch selbst wenn sie über dies alles hätte sprechen wollen, hätten ihr Jordan und seine Gang nur einen Strick daraus gedreht. Niemand wollte hören, dass es eher ein Fluch als ein Segen war, von den Göttern dazu auserkoren zu sein, die Welt zu retten. Sie war eine Symbolfigur, und Symbolfiguren klagten nicht.
Stattdessen kaufte Faron mit einer Handvoll Kleingeld eine Tüte Ananassaft. Während sie eine Ecke der Tüte abbiss, um daraus trinken zu können, musterte sie Jordans berechnende Miene. Er gehörte zu den Mobbern, die taktisch vorgingen und niemals die Beherrschung verloren. Er überlegte sich, wie er seine Opfer am besten drangsalieren konnte, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholte. Und so war es keine Überraschung, dass er Faron da zu treffen versuchte, wo es besonders wehtat: in ihrem Stolz.
»Wenn du so toll bist, dann lauf doch nach der Schule gegen mich«, sagte er. »Ohne Götter und ohne Magie. Der Krieg ist vorbei. Es wird Zeit zu beweisen, dass du nicht besser bist als wir anderen.«
Faron hatte noch nie Ärger bekommen, den sie nicht selbst gesucht hatte. Und so streckte sie ihm grinsend die freie Hand hin. »Dreißig Rayes, wenn ich gewinne.«
»Abgemacht.«
Mit einem Handschlag hatte Jordan Simmons sein Schicksal besiegelt. Hatte sie in dem Moment jedenfalls gedacht.
Doch jetzt, nachdem sie unter dem Geschrei von Kindern aus der Nachbarschaft die Hälfte der vereinbarten Strecke zurückgelegt hatten, lag Faron deutlich hinter ihm.
Die locker geflochtenen Zöpfe, die unter ihrem Kopftuch hervorgerutscht waren, tanzten auf ihrem Rücken. Palmen wiegten sich im Wind. Den Rock hatte sie sich um die Taille gebunden, damit ihre flinken Füße ungehindert über braune Erde und glatte Steine flitzen konnten. Und trotzdem war sie drauf und dran, den Wettlauf zu verlieren, der an dem versteinerten Drachenei auf dem Marktplatz enden sollte.
Auf diesem Streckenabschnitt gab es keine Abkürzungen, die sie nehmen, und keine Hindernisse, die sie ihrem Gegner in den Weg legen konnte. Die Straße bis zum Ei war schnurgerade und der Vorsprung des Jungen viel zu groß. Abmachung hin oder her, das war nicht hinnehmbar.
Faron hielt das bisschen Luft an, das noch in ihrer Lunge war, und rief die Götter.
Die Zeit verlangsamte sich auf ein Schneckentempo, eine Sekunde dehnte sich zur Ewigkeit. Die Welt versank unter einem flüssigen Schleier, als wäre Faron in das kristallklare Glutmeer getaucht, das die Insel umgab. Und eine Stimme schwoll in ihrer Seele an und rief: Kommt zu mir, kommt zu mir, kommt zu mir …
Und wie immer erhörten die Götter ihren Ruf.
Irie erschien in einem Blitzstrahl, und wie ein Schwert durchbohrte ihre goldene Krone den Himmel. Sie trug einen golddurchwirkten, kapuzenlosen Umhang mit weiten Ärmeln, darunter ein hochgeschlossenes, weißes Kleid, das bis zu den Waden reichte. Ihre goldbemalten, vollen Lippen kräuselten sich missbilligend. Trotz ihrer pupillenlosen, bernsteinfarben leuchtenden Augen sah sie so aus, als wollte sie – die Sonnengöttin Irie, Herrscherin des Tages und Schutzgöttin der Insel – nach Port Sol ins Theater gehen und nicht einer Siebzehnjährigen in der iryanischen Kleinstadt Deadegg einen Besuch abstatten.
Aber das war ihr Problem. Faron hatte gerufen. Irie war gekommen. Fünf Jahre, und nichts hatte sich daran geändert.
Verleihe mir deine Stärke.
Faron stöhnte, als sie fühlte, wie Iries Kraft ihren Körper durchströmte. Beschwörer mussten jahrelang trainieren, bis sie die Magie von nur einem ihrer Ahnengeister, der sogenannten Astrale, festhalten konnten, ohne daran zu sterben. Nicht einmal die besten Santi – Beschwörer, die ihr Leben den Tempeln gewidmet hatten – wagten es, mehr als fünf Astrale gleichzeitig anzurufen. Doch auf der ganzen Insel San Irie gab es keinen einzigen Beschwörer, der sich an einen Gott wenden konnte.
Bis auf sie.
Faron hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen, eine Sekunde lang, eine Minute, eine Stunde, ein Leben lang. Ihre Nerven zuckten, als würde sie geschüttelt, als drückte Irie von innen gegen ihre schlecht sitzende Haut, um Platz zu schaffen, damit ihr Körper mehr Magie aufnehmen konnte. Ihr Blick trübte sich. Ihre Ohren brausten. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie fürchtete, es könnte stehen bleiben.
Dann war es vorbei. Irie war in ihr, aber Faron hatte die Kontrolle.
Und sie hatte einen Wettlauf zu gewinnen.
Eine Schweißperle rollte ihr über die Wange, als sie sich in die Gegenwart zurückblinzelte. Das wilde Gejohle der Menge drang wieder an ihr Ohr. In der Ferne lugte das Drachenei hinter dem Dach des Eckladens hervor. Und Jordan lag immer noch vor ihr.
Aber nicht mehr lange.
Mithilfe der göttlichen Magie, die sie nun zur Hand hatte, trieb Faron ihren Körper über seine Grenzen hinaus. In den fünf Jahren, die sie nun schon mit den Göttern im Bund stand, hatte sie für Iries Kräfte kreativere Verwendung gefunden, als nur Brotfrüchte zu rösten. Die Sonne war Feuer, Energie, Kraft. Und diese Kraft leitete Faron nun in ihre erlahmenden Muskeln und pfeifende Lunge, und sie spürte, wie Iries Magie an der offenkundigen Missbilligung der Göttin vorbeiströmte.
Eine Minute lang konzentrierte sich Faron nur darauf, nicht in Ohnmacht zu fallen, ehe sie im Ziel war. Dann holte sie langsam auf, bis sie so dicht hinter Jordan war, dass sie seine Locken zählen konnte.
Er warf ihr einen erbosten Blick zu. »He, Vincent! Das ist nicht fair!«
»Klär das mit meiner Schutzgöttin«, trällerte sie zurück. »Eine Statue von ihr findest du in jedem Tempel.«
Jordan fluchte so herzhaft, dass Faron lachen musste, als sie an ihm vorbeisprintete und er den Staub schlucken musste, den ihre Füße aufwirbelten.
Der Marktplatz tat sich vor ihr auf, umsäumt von hölzernen Ladenfronten, die zu niedrig waren, um die Sonne auszusperren. Einen Augenblick später schlug ihre Hand gegen die niedrige Backsteinmauer, die das Ei umgab. Eigentlich endete hier das Rennen, doch das Adrenalin und die geborgten Zauberkräfte pulsierten noch durch ihren Körper. Sie sprang über die Mauer und lief weiter bis zum Ei, dann hob sie die Hand und griff nach einer der mächtigen Schuppen, die seine kränklich graue Schale bildeten. Die Mauer war gebaut worden, um Leute eben davon abzuhalten, was Faron jetzt tat, aber sie war nicht der erste Teenager aus Deadegg, der auf das Ei kletterte, und sie würde nicht der letzte sein. Das Ei war älter als die Stadt, wahrscheinlich sogar älter als die Insel, nach den versteinerten Schuppen zu...