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E-Book, Deutsch, Band 36, 264 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
Colette Chéri
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33155-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky und mit einem Nachwort von Dana Grigorcea
E-Book, Deutsch, Band 36, 264 Seiten
Reihe: Manesse Bibliothek
ISBN: 978-3-641-33155-9
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Macht Liebe selig? Lässt sie uns über uns hinauswachsen? Schenkt sie uns ewige Jugend? - Diese und andere zeitlos aktuelle Fragen verhandelt dieser vibrierende Roman über die Höhen und Tiefen einer Beziehung, die gegen alle gesellschaftlichen Konventionen verstößt und gerade deshalb etwas Erhabenes gewinnt. Chéri, der titelgebende Held, ist mit seinen vierundzwanzig Jahren ein Bild von einem Mann, unwiderstehlich in seiner Ungezwungenheit und Eleganz, vor allem aber in seinem ausgeprägten Hang zum Pariser Wohlleben. Als Filou, der sich gerne aushalten lässt, ist er für Léa, die weitaus ältere, selbstbewusste und genussfreudige moderne Frau, das perfekte Objekt der Begierde. Hingerissen wie ein junges Mädchen, kann sie der Versuchung einfach nicht widerstehen. Ihre leidenschaftliche Liaison mit dem unreifen Chéri hält für sie so manche Überraschung bereit, vor allem in der erotischen Liebe, deren Exaltationen hier bei aller Freizügigkeit höchst einfühlsam geschildert werden. Am Ende ist Léa um eine existenzielle Lebens- und Liebeserfahrung reicher, wobei dieser Roman einer Amour fou in gewisser Weise Colettes eigenen Ausspruch widerlegt: «Man stirbt nur am ersten Mann.»
Colette gilt in ihrer Heimat als Klassikerin der Moderne und genoss schon zu Lebzeiten allerhöchstes Ansehen. Sie wurde in die Académie Goncourt aufgenommen, und nach ihrem Tod ehrte sie Frankreich mit einem Staatsbegräbnis. Selbstverständlich wurden ihre Werke in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Im deutschen Sprachraum hat man sie hingegen lange unter «Boulevard» verbucht. Höchste Zeit also, das Vorurteil mit einer zeitgemäßen Neuausgabe zu korrigieren.
Sidonie-Gabrielle Colette (1873-1954) verbrachte ihre Kindheit in der Bourgogne und kam als junges Mädchen nach Paris. Ihre Karriere begann sie als skandalumwitterte Künstlerin der Belle Epoque und starb als weltberühmte Grande Dame der französischen Literatur. Ihren Ruhm hat sich die Außenseiterin aus der Provinz gegen mancherlei Widerstände erschrieben. Dem turbulenten Auf und Ab des eigenen Schicksals rang sie die Klarheit ihres Stils ab und stand im Leben wie in der Literatur für den Wandel im Verhältnis der Geschlechter. Selbstbewusst machte sie tabuisierte Formen von Erotik und Sinnlichkeit zum Thema höchst populärer Romane, so auch in Chéri, ihrem Hauptwerk. 1945 wählte man sie als zweite Frau in der Geschichte in die Académie Goncourt.
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«Léa! Gib sie mir, gib sie her! Hörst du mir zu, Léa? Gib mir deine Perlenkette!»
Es kam keine Antwort aus dem großen, schmiedeeisernen Bett mit ziseliertem Kupfer, das im Dunkeln schimmerte wie eine Rüstung.
«Warum willst du mir deine Kette nicht geben? Sie steht mir genauso gut wie dir, wenn nicht besser!»
Beim Klacken des Verschlusses begann die Spitzenbettwäsche zu rascheln, zwei prachtvolle nackte Arme mit zarten Gelenken hoben zwei schöne, träge Hände.
«Lass das, Chéri, du hast schon genug mit dieser Kette gespielt.»
«Es macht mir Spaß … Hast du Angst, dass ich sie dir stehle?»
Vor den rosaroten, sonnendurchfluteten Vorhängen tanzte er, ganz und gar schwarz, wie ein anmutiger Teufel vor loderndem Feuer. Als er sich rückwärts auf das Bett zubewegte, wurde er jedoch wieder ganz und gar weiß, vom Seidenpyjama bis zu den Wildlederpantoffeln.
«Ich habe keine Angst», antwortete die leise, sanfte Stimme aus dem Bett. «Aber du zerrst an der Schnur. Und die Perlen sind schwer.»
«Das sind sie», sagte Chéri anerkennend. «Von wem auch immer dieses Geschenk stammt, er hat sich nicht lumpen lassen.»
Er stand vor einem länglichen Spiegel, der zwischen beiden Fenstern an der Wand hing, und betrachtete sein Ebenbild, einen sehr schönen, sehr jungen Mann, weder groß noch klein, das Haar so bläulich wie das Federkleid einer Amsel. Als er sein Nachtgewand aufknöpfte, kam eine braune, glatte Brust zum Vorschein, die sich wölbte wie ein Schild, und es fiel ein und derselbe rosa Lichtstrahl auf seine Zähne, auf das Weiße in seinen dunklen Augen und auf die Perlen.
«Leg die Kette ab», insistierte die weibliche Stimme. «Hörst du, was ich sage?»
Der junge Mann, reglos vor seinem Spiegelbild, lachte ganz leise.
«Jaja, ich hab’s gehört. Ich weiß genau, dass du Angst hast, ich könnte sie dir stibitzen!»
«Nein. Aber wenn ich sie dir schenkte, würdest du sie sehr wahrscheinlich annehmen.»
Er rannte zum Bett und warf sich hinein, zu einer Kugel zusammengerollt.
«Allerdings! Um Konventionen kümmere ich mich nicht. Und ich finde es albern, dass ein Mann eine Perle oder zwei von einer Frau annehmen darf, als Krawattennadel oder Knöpfe, und sich entehrt fühlt, wenn sie ihm fünfzig schenkt …»
«Neunundvierzig.»
«Neunundvierzig, ich weiß. Dann sag doch, dass sie mir nicht steht! Sag doch, dass ich hässlich bin!»
Er beugte sich mit einem provokanten Lachen, das winzige Zähne und die feuchte Innenseite seiner Lippen preisgab, über die liegende Frau. Léa setzte sich im Bett auf.
«Nein, das werde ich nicht sagen. Du würdest mir ohnehin nicht glauben. Aber kannst du denn nicht lachen, ohne deine Nase derart zu kräuseln? Du wirst erst so richtig froh sein, wenn du drei Falten um die Nase hast, nicht wahr?»
Er hörte sogleich auf zu lachen, straffte die Stirn und spannte die Unterseite seines Kinns so geschickt an wie eine alte Kokette. Die beiden blickten einander feindselig an: sie mit aufgestützten Ellbogen inmitten ihrer Spitzenwäsche, er im Damensitz auf der Bettkante. Er dachte: «Ausgerechnet sie will mir von meinen künftigen Falten erzählen?» Und sie: «Warum ist er hässlich, wenn er lacht, er ist doch der Inbegriff von Schönheit?» Sie überlegte einen Augenblick und führte ihren Gedanken laut zu Ende: «Tatsächlich wirkst du so gemein, wenn du heiter bist … Du lachst nur aus Bosheit oder Spott. Das macht dich hässlich. Du bist oft hässlich.»
«Das stimmt nicht!», rief Chéri verärgert.
Die Wut führte seine Brauen an der Nasenwurzel zusammen, vergrößerte die herausfordernd funkelnden, wimpernbewehrten Augen, hob den herablassenden, keuschen Bogen des Mundes leicht an. Léa lächelte, als sie ihn so sah, wie er ihr gefiel: rebellisch und dann ergeben, halb angekettet, unfähig, frei zu sein; sie legte eine Hand auf den jugendlichen Kopf, der dieses Joch ungnädig schüttelte. Sie flüsterte so, wie man ein Tier besänftigt: «Na, na … Was hast du … was hast du nur …»
Er ließ sich auf die schöne breite Schulter fallen, drängte mit der Stirn, mit der Nase, grub sich an seinen gewohnten Platz, schloss bereits die Augen und wollte in den geborgenen Schlaf langer Vormittage versinken, aber Léa stieß ihn weg: «Nichts da, Chéri! Du sollst bei unserem Oberdrachen zu Mittag essen, und es ist zwanzig vor zwölf.»
«Wirklich? Ich esse bei der Chefin? Du auch?»
Léa glitt träge in die Kissen zurück. «Ich nicht, ich habe Urlaub. Ich werde um zwei zum Kaffee erscheinen … oder zum Tee um sechs … oder um Viertel vor acht für eine Zigarette … Keine Sorge, sie bekommt mich oft genug zu Gesicht … Außerdem hat sie mich nicht eingeladen.»
Chéri, der schmollend aufgestanden war, strahlte nun hinterhältig. «Ha, ich weiß, warum! Weil wir vornehmen Besuch haben werden! Die schöne Marie-Laure und ihr biestiges Kind!»
Léas Blick aus großen blauen Augen wurde plötzlich scharf.
«Ach ja? Bezaubernd, die Kleine. Etwas weniger als ihre Mutter, aber doch bezaubernd … Leg endlich diese Kette ab.»
«Schade», seufzte Chéri und öffnete den Verschluss. «Sie wäre eine Zier für die Schatulle.»
Léa stützte sich auf einen Ellbogen auf.
«Welche Schatulle?»
«Meine», sagte Chéri gespielt hochtrabend. «Meine Schatulle mit meinem Schmuck für meine Hochzeit …»
Er sprang in die Luft, landete nach einem sauber ausgeführten entrechat six1 auf beiden Füßen, stieß die Portiere mit einer Kopfbewegung auf und verschwand mit dem Ruf: «Mein Bad, Rose! Ein bisschen plötzlich! Ich speise bei der Chefin!»
«Aber ja», dachte Léa. «Ein ganzer See im Badezimmer, acht triefnasse Handtücher und Bartstoppeln im Waschbecken. Hätte ich nur zwei Badezimmer …» Doch dann fiel ihr wie jedes Mal ein, dass man dafür einen Wandschrank hätte opfern und das Frisierzimmer hätte verkleinern müssen, und so kam sie wie jedes Mal zu dem Schluss: «Bis Chéri heiratet, werde ich mich wohl gedulden.»
Sie legte sich wieder hin und stellte fest, dass Chéri am Vorabend seine Strümpfe auf den Kamin geworfen hatte, seine Unterhose auf den Damenschreibtisch, seine Krawatte um den Hals einer Büste von Léa. Angesichts dieser heimeligen männlichen Unordnung musste sie lächeln und schloss halb ihre großen Augen, deren Blau so jung war und die sämtliche kastanienbraunen Wimpern bewahrt hatten. Mit neunundvierzig beendete Léonie Vallon, bekannt als Léa de Lonval, eine erfolgreiche Laufbahn als vermögende Kurtisane und gutherziges Mädchen, dem das Leben ehrenvolle Schicksalsschläge und edlen Kummer erspart hatte. Ihr Geburtsdatum behielt sie für sich, aber sie räumte mit einem genüsslich herablassenden Blick auf Chéri gern ein, dass sie in das Alter kam, in dem sie sich die eine oder andere kleine Annehmlichkeit gönnen durfte. Sie schätzte Ordnung, feine Wäsche, gereifte Weine und wohlbedachte Küche. In ihrer Jugend als gefeierte Blondine und später als reiche Halbweltdame hatte sie weder fragwürdigen Glanz noch unklare Verhältnisse geduldet, und ihren Freunden war ein Pferderennen um 1895 in Erinnerung geblieben, als Léa dem Redaktionssekretär des «Gil Blas»2, der sie als «verehrte Künstlerin» bezeichnete, antwortete: «Künstlerin? Oh! Wie geschwätzig meine Liebhaber sind, teurer Freund …»
Frauen ihres Alters missgönnten ihr die eherne Gesundheit, die Jüngeren, denen die Mode von 1912 ohnehin Rücken und Bauch wölbte, machten sich über Léas üppige Brust lustig, und alle beneideten sie gleichermaßen um Chéri.
«Ach Gott», sagte Léa, «warum nur? Sollen sie ihn doch nehmen. Ich kette ihn nicht an, und er geht auch allein aus.»
Wobei sie zur Hälfte log, stolz auf eine seit sechs Jahren währende Liaison – die sie manchmal, zur Aufrichtigkeit neigend, als Adoption bezeichnete.
«Die Schatulle …», wiederholte Léa. «Chéri verheiraten … Das ist unmöglich, das ist … unmenschlich … Chéri einfach ein junges Mädchen überlassen, warum nicht gleich ein Reh den Hunden zum Fraß vorwerfen? Die Leute wissen nicht, was es mit Chéri auf sich hat.»
Sie ließ die hingeworfene Kette wie einen Rosenkranz durch ihre Finger gleiten. Inzwischen legte Léa sie nachts ab, weil Chéri, der in die schönen Perlen vernarrt war und sie morgens gern streichelte, sonst zu oft aufgefallen wäre, dass Léas nicht mehr ganz so zarter Hals seine strahlende Blässe einbüßte und sich unter der Haut erschlaffte Muskeln abzeichneten. Sie hakte die Kette im Nacken zu, ohne sich aufzurichten, und nahm einen Spiegel vom Nachttisch.
«Ich sehe aus wie eine Gärtnerin», befand sie schonungslos. «Eine Gemüsebäuerin. Eine Gemüsebäuerin aus der Normandie, die sich mit einer Perlenkette zum Kartoffelacker aufmacht. Das steht mir so gut wie eine Straußenfeder im Nasenloch, und das ist noch höflich ausgedrückt.»
Sie zuckte die Achseln, streng mit allem, was ihr an ihrem Äußeren nicht mehr gefiel: ein frischer Teint, gesund, leicht rötlich, ein Freiluftteint, wie geschaffen, um die intensive Farbe der blauen Iris zu unterstreichen, die von einem dunkleren Blau umrandet war. Die stolze Nase fand vor Léa noch Gnade – «Die Nase von Marie-Antoinette!», wie Chéris Mutter stets betonte, bevor sie...