Compestine | Revolution ist keine Dinnerparty | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Compestine Revolution ist keine Dinnerparty


1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-96428-006-0
Verlag: Verlagshaus Jacoby & Stuart
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-96428-006-0
Verlag: Verlagshaus Jacoby & Stuart
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die kleine Ling ist gerade mal neun Jahre alt, als die Kulturrevolution erste Schatten auf das Leben ihrer Familie wirft, und zwar in Gestalt des Genossen Li, der in ihrer schönen Wohnung einquartiert wird. Während Genosse Li immer mehr an Macht gewinnt und Kampf- und Kritiksitzungen auf dem Hof einberuft, wird Lings Vater, ein westlich ausgebildeter Chirurg am Krankenhaus der großen Stadt Wuhan, als 'Bourgeois' verhöhnt, zum Hausmeister degradiert und schließlich abgeholt - ob in ein Umerziehungslager oder ein Gefängnis, weiß niemand. Ling muss nun für ihre von Angst gelähmte Mutter mitsorgen, sich gegen Spott und Anfeindungen zur Wehr setzen und das tägliche Essen organisieren ... Dieser packende und überwiegend autobiografische Roman aus der Zeit der Kulturrevolution in China ist auch die Geschichte eines Mädchens, das in einer äußerst schwierigen Zeit von einem behüteten Kind zu einer kämpferischen und starken Jugendlichen heranwächst und dabei nie ihren Gerechtigkeitssinn verliert.

Ying Chang Compestine, geb. 1963 in Wuhan, Hubei, ist eine chinesisch-amerikanische Autorin und Dozentin. Sie hat englische und amerikanische Literatur sowie Soziologie studiert und sowohl in den USA als auch in China unterrichtet. Ihr Buch Revolution ist keine Dinnerparty basiert auf ihrem Leben in China. Inzwischen hat sie mehr als zwanzig Bücher geschrieben.
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Zöpfchen für Vater


Im Sommer 1972, kurz vor meinem neunten Geburtstag, begann das Unheil, in ganz China an die Türen zu klopfen.

Meine Eltern waren Ärzte im Städtischen Krankenhaus Nr. 4. Es galt als das beste Krankenhaus in Wuhan, einer großen Stadt in Zentralchina. Mein Vater war Chirurg. Meine Mutter Ärztin der Traditionellen chinesischen Medizin, das heißt, sie behandelte ihre Patienten mit homöopathischen Mitteln, wie Kräutermedizin und Akupunkturnadeln. Wenn meine Puppen krank wurden, behandelte ich sie mit Bonbons.

Wir wohnten in einem dreistöckigen Backsteingebäude auf einem Gelände, das zum Krankenhaus gehörte, nahe beim Jangtse – dem längsten Fluss Chinas. Während des ganzen Jahres wurden wir durch den Fluss und die Eisenbahnschienen mit süßen Datteln und Tee aus dem Osten, mit wunderschöner Seide und Bonbons aus dem Westen, mit tropischen Früchten aus dem Süden Chinas sowie mit gerösteter Ente aus Peking, also dem Norden Chinas, versorgt. Vater sagte oft zu mir: „Unsere Stadt ist wie ein menschliches Herz: Das gesamte Blut des Körpers reist hindurch.“

Eines Abends tanzten die weißen Spitzengardinen, wie so oft, in der Brise, die vom Hof durch unsere offenen Fenster wehte. Unsere weiträumige Wohnung im zweiten Stock war erfüllt vom süßen Duft der Rosen aus dem Hof sowie dem vertrauten Aroma von Knoblauch, Ingwer und Sesamöl. Wir saßen um unseren viereckigen Esstisch im Wohnzimmer vor dem großen Panoramafenster, das zum Hof hinausblickte, und aßen zu Abend.

Die Küche und die Schlafzimmer waren auf der anderen Seite der Wohnung. Auch diese Räume hatten große Fenster, aus denen wir in den Rosengarten und auf die Mauern des Krankenhausgeländes blicken konnten.

Mutter stellte eine kleine blaue Schüssel mit dazugehörigem Löffel vor mich hin. „Ling, dein Haar ist so trocken wie totes Gras. Also, iss deine Suppe.“ In der Suppe schwammen Stückchen von Tofu, Spinat und Algen. Eigentlich wollte ich keine Suppe, aber ich hütete mich davor, das zu sagen. Ich steckte mir ein kleines Stück Tofu in den Mund, in der Hoffnung, dass das genug wäre. Ich hatte mich nämlich schon an meinen Lieblingsspeisen satt gegessen: gebratene Teigtaschen, pfannengerührter Eierreis und gedünsteter Fisch mit Mutters leckerer Schwarze-Bohnen-Sauce. Ich hatte sogar ein Stückchen vom Orangen-Sesam-Hühnchen probiert, ein besonderer Gaumenschmaus für Vater. Heute aß er jedoch nur zwei Häppchen davon, der Rest blieb unberührt.

„Los jetzt, beeil dich, Ling!“, sagte Mutter mit Schärfe in der Stimme, während sie den Tisch abräumte. Sie wartete auf meine Schüssel – und zwar meine leere Schüssel. Fragend blickte ich meinen Vater an, ob ich diese schreckliche braune Suppe wirklich aufessen musste.

Er lächelte, so wie er es immer tat. Kleine Fältchen zeigten sich in seinen Augenwinkeln. „Es ist sehr heiß heute. Du brauchst Flüssigkeit und Salze, Ling. Dann trink doch wenigstens die Brühe aus.“

Ich holte tief Luft, schloss meine Augen und schlürfte die Brühe, dabei biss ich meine Zähne fest aufeinander, damit nichts von dem schleimigen Spinat oder den Algenblättchen in meinem Mund landete.

Mutter brachte gerade die Stäbchen und Teetassen in die Küche, und so konnte ich schnell die Algen und den Spinat auf meinen Löffel schieben und ihn vor Vaters Mund halten. Er zog kurz die Augenbrauen in die Höhe, doch dann entspannte er sich wieder.

„Aufmachen, bitte, Papa!“, flüsterte ich.

Vater öffnete seinen Mund, und das eklige Grünzeugs verschwand darin.

„Ich hab dich lieb, Papa,“ flüsterte ich. Dann trug ich meine Schüssel mit beiden Händen in die Küche.

Ich war froh, wenn Vater zum Abendessen zu Hause war, denn er rettete mich immer vor Mutters seltsamen Essen. An den Abenden, an denen Vater im Krankenhaus operierte, musste ich alles essen, von dem Mutter meinte, dass es gut für mich war: Quallen würden meine Sommersprossen vertreiben; Fischschwänze würden mir dabei helfen zuzunehmen; Schweineleber würde mich klüger machen; bitterer Tee würde meine Haut samtig machen. Und all das schmeckte grauenvoll. Ich sagte Mutter einmal, dass, wenn wir einen Hund hätten, selbst der keine Schweineleber fressen würde. Sie tippte mir mit ihren Essstäbchen auf den Kopf und legte ein zweites Stück Leber in meine Schüssel.

Als ich wieder ins Wohnzimmer trat, saß Vater noch immer am Esstisch und hielt einen Teebecher aus blauem Porzellan in den Händen. Der Deckenventilator drehte sich langsam über ihm. Seine Augen hatten den Becher fixiert, als würde er ihn untersuchen.

Ich mochte es nicht, wenn er so war. Schon seit Monaten war er immer wieder völlig in Gedanken versunken, selbst mitten in unseren Englischstunden. Um ihn aufzuheitern, schlich ich auf Zehenspitzen zu unserem Bambusbücherregal, das neben dem breiten gemauerten offenen Kamin stand. Ich holte eine gelbe Zeitschrift von ganz oben aus dem Regal, auf der das Bild eines menschlichen Gehirns prangte. Die Zeitschrift war erst letzte Woche aus Amerika eingetroffen.

Dann ging ich am Kamin vorbei und kletterte auf Vaters schwarzen Sessel. Es war wunderbar, meine verschwitzten Beine auf dem kühlen weichen Ledersessel auszustrecken.

„Papa, es ist Zeit für Zöpfe!“

Er drehte sich zu mir und lächelte. Dann stellte er seinen Teebecher neben das dazugehörige Geschirr, stand auf und schob seinen Stuhl unter den Tisch, wie Mutter uns geheißen hatte.

„Lies das.“ Ich umarmte meine Beine und rückte für Vater ein wenig zur Seite.

Vater nahm sich die Zeitschrift und ließ sich neben mir nieder. Ich setzte mich auf die breite Sessellehne und kringelte mich zusammen wie eine kleine Katze. Vorsichtig nahm ich eine Strähne von Vaters Haar und band sie mit einem roten Gummiband, das ich um mein Handgelenk trug, zu einem Zopf zusammen. Vater saß ganz ruhig da und grinste.

Vor zwei Jahren, als ich sieben geworden war, hatte Mutter aufgehört, mir die Haare zu flechten. Sie hatte mir gesagt, dass ich nun alt genug wäre, es selbst zu machen. Aber ich bekam es nicht gut hin. Mein dickes langes Haar verhedderte sich immer. Es war schwer, es in drei gleich dicke Stränge zu teilen, und meine Arme wurden immer ganz lahm vom nach hinten Greifen. Ich bettelte Mutter an, mir beim Flechten wieder zu helfen, aber sie weigerte sich, und so trug ich viele Wochen lang einen ganz losen, unordentlich geflochtenen Zopf. Dann hatte ich die Idee, an Vaters Haaren zu üben. Sein glattes Haar war viel kürzer als meins, viel zu kurz für geflochtene Zöpfe, aber ich konnte das Haar vorne, wo es am längsten war, zu kleinen Zöpfchen zusammennehmen und mit einem Gummiband festbinden. Ich hatte immer Angst, zu stark zu ziehen und ihm damit wehzutun, aber Vater beklagte sich niemals, sondern saß immer ganz still da. So konnte ich also schon seit letztem Jahr sehr gut Zöpfe binden, doch Vater ließ mich weiterhin an ihm üben, wenn er abends zum Essen nach Hause kam.

Durch die offenen Fenster trug die warme Brise die Stimme einer Nachbarin, die eines der neuen revolutionären Lieder übte, herüber.

Sie konnte den hohen Ton in nicht erreichen, und deshalb wiederholte sie immer wieder und wieder , wie eine Schallplatte mit einem Sprung.

Wie konnte jemand mir mehr bedeuten als mein Vater? Würde der Vorsitzende Mao mir erlauben, ihm Zöpfchen zu binden?

Ich fing an zu kichern bei dem Gedanken wie lauter kleine Zöpfchen, die mit roten und gelben Gummibändern zusammengebunden waren, vom viereckigen Schädel des großen Vorsitzenden abstanden.

Ich streifte ein Gummiband über den ersten Zopf, den ich aus Vaters rutschigem Haar geflochten hatte. Würde sich meine Nachbarin so fröhlich fühlen wie ich jetzt, wenn sie endlich die hohe Note erreicht hatte? Ich wünschte mir, das wäre sehr bald, oder aber, dass sie ein anderes Lied ausprobieren würde.

Ich rieb meine Nase an dem Zöpfchen und atmete tief ein. Er roch nach Desinfektionsmittel, so wie das Krankenhaus. Dieser bestimmte Geruch machte es mir immer leicht, Vater zu finden, wenn wir Verstecken spielten.

Ein lautes Krachen und Klirren aus der Küche schreckte mich auf. Das Geräusch von fließendem Wasser war weiterhin zu vernehmen, aber das Kratzen des Spatels im Wok war verstummt. Mein Herz sank. Mutter hatte schon wieder eine Essschüssel zerbrochen, die zweite in dieser Woche. Ich sah sie vor mir, wie sie ganz tief einatmete und ihre Lippen aufeinanderpresste, um ihren...


Ying Chang Compestine, geb. 1963 in Wuhan, Hubei, ist eine chinesisch-amerikanische Autorin und Dozentin. Sie hat englische und amerikanische Literatur sowie Soziologie studiert und sowohl in den USA als auch in China unterrichtet. Ihr Buch Revolution ist keine Dinnerparty basiert auf ihrem Leben in China. Inzwischen hat sie mehr als zwanzig Bücher geschrieben.



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