E-Book, Deutsch, 640 Seiten
Reihe: Der Segu-Zyklus
Condé Segu
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30526-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman. Der Segu-Zyklus (1)
E-Book, Deutsch, 640 Seiten
Reihe: Der Segu-Zyklus
ISBN: 978-3-293-30526-7
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maryse Condé (*1937 in Guadeloupe) studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne in Paris und lebte danach viele Jahre in Westafrika. Zurück in Frankreich, widmete sie sich dem literarischen Schreiben und der Wissenschaft. Nach Stationen als Universitätsdozentin in Paris, Berkeley und Maryland wechselte sie 1995 an die Columbia University in New York. Seit der Gründung 1997 hatte sie den Vorsitz des Center for French and Francophone Studies bis zu ihrer Emeritierung 2002. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem LiBeraturpreis (1988) und dem New Academy Prize für Literatur (2018). Maryse Condé lebte in New York und in Guadeloupe. Sie starb 2024 im Alter von 90 Jahren.
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1
Segu ist ein Garten, in dem die List wächst. Segu ist auf Verrat gebaut. Sprich von Segu außerhalb von Segu, aber sprich nicht von Segu in Segu.
Warum wollte Dusika dieser Gesang der Griots, den er schon so oft gehört hatte, ohne ihn groß zu beachten, nicht aus dem Sinn? Warum wurde er von finsteren Vorahnungen gequält wie eine schwangere Frau von Übelkeit? Warum diese Angst bei Anbruch des Tages? Dusika durchforschte seine Träume, um darin ein Zeichen oder einen Hinweis zu finden, was ihn erwarten mochte. Nichts. Er hatte tief und fest geschlafen, ohne von einem der Ahnen im Traum besucht worden zu sein. Dusika saß auf einer Matte im Vorraum seiner Hütte und nahm etwas dèguè zu sich, jene Mischung aus Hirsebrei, Sauermilch und Honig, die er morgens gern aß. Er fand sie zu flüssig für seinen Geschmack und rief gereizt seine erste Frau Nya herbei, um sie auszuschelten. Während er auf sie wartete, nahm er seinen Kaustab aus n’tomi-Holz, steckte ihn zwischen seine schönen, gefeilten Zähne, damit sich der Saft des Holzes mit seinem Speichel vermischte und seine Körperkraft und seine sexuelle Potenz erhöhte.
Als Nya nicht antwortete, stand er auf, trat aus der Hütte und ging in den ersten Hof des Anwesens, wo seine Frauen wohnten.
Der Hof war leer. Leer? Nur ein paar Kornschwingen für die Hirse lagen neben kleinen Holzschemeln auf dem makellos reinen Sand.
Dusika war ein yèrèwolo, ein Mann aus adligem Geschlecht, Mitglied des königlichen Rats, persönlicher Freund des Mansa, Vater von einem Dutzend legitimer Söhne, und er herrschte in seiner Eigenschaft als fa, das heißt als Patriarch, über fünf Familien, und zwar zunächst über seine eigene und dann über jene seiner jüngeren Brüder, die mit ihm zusammen dort wohnten. Dusikas Anwesen spiegelte die Stellung wider, die er in der Gesellschaft von Segu einnahm. Die hohe Lehmfassade zur Straße hin war mit Skulpturen und dreieckigen Zeichnungen verziert, die in die Wand geritzt waren, und endete in ungleich hohen Türmchen, was einen sehr gelungenen Effekt erzielte. Im Inneren setzte sich das Anwesen aus einer Reihe von Lehmhütten zusammen, die alle flache Dächer hatten und durch mehrere Innenhöfe miteinander verbunden waren. Im ersten Hof stand ein prachtvoller dubale-Baum mit einem riesigen Blätterdach, gestützt von etwa fünfzig Säulen, die aus den am Hauptstamm herabwachsenden Wurzeln gebildet wurden.
Der dubale-Baum war in gewisser Weise der Zeuge und Hüter des Lebens der Traoré. Unter seinen mächtigen Wurzeln war die Nachgeburt zahlreicher Ahnen nach der glücklichen Entbindung vergraben worden. In seinen Schatten setzten sich Frauen und Kinder, um sich Geschichten zu erzählen, und die Männer, um Entscheidungen über das Leben der Familie zu fällen. In der Trockenzeit schützte er vor der Sonne. In der Regenzeit gab er Feuerholz. Und wenn die Nacht hereingebrochen war, versteckten sich die Geister der Ahnen in seinem Laub und behüteten den Schlaf der Lebenden. Wenn die Geister unzufrieden waren, ließen sie es wissen, indem sie eine Folge schwacher Laute von sich gaben, die zugleich geheimnisvoll und transparent wie eine verschlüsselte Botschaft waren. Dann nickten diejenigen mit dem Kopf, denen die Erfahrung die Macht gab, die Laute zu entschlüsseln: »Achtung, unsere Väter haben heute Abend gesprochen!«
Alle, die die Schwelle des Anwesens der Traoré überschritten, wussten, mit wem sie es zu tun hatten. Sie errieten sofort, dass die Leute, die hier wohnten, genügend Klafter guter Erde besaßen, die mit Hirse und Baumwolle bepflanzt war und von Hunderten von Haussklaven und Gefangenen bestellt wurde. In den Vorratskammern häuften sich die Säcke mit Kaurimuscheln und Goldstaub, den der Mansa großzügig verschenkte, und in einer Einfriedung hinter den Hütten schnaubten Araberpferde, die den Mauren abgekauft worden waren. Der Reichtum ließ sich an tausend Zeichen erkennen. Und nun war der erste Hof leer, in dem es gewöhnlich von Menschen nur so wimmelte? Von Mädchen, die bis auf eine Perlen- oder Kaurikette um die Hüften nackt waren, und Jungen, die stattdessen einen Baumwollfaden trugen; von Frauen, die Hirse stampften oder worfelten, die Baumwolle spannen und dabei den Scherzen eines Spaßmachers oder den epischen Gesängen eines Griot lauschten, der um einen Teller to bat; von plaudernden Männern, die ihre Pfeile für die Jagd vorbereiteten oder ihre Ackergeräte schärften. Mit zunehmender Verärgerung betrat Dusika den zweiten Hof, an dem die Hütten seiner drei Frauen und seiner Konkubine Sira lagen.
Er fand Sira auf einer Matte ausgestreckt, mit einem Ausdruck des Leidens, der ihr hübsches, schweißglänzendes Gesicht verzerrte. Er herrschte sie an: »Wo sind sie denn alle?«
Sie versuchte sich aufzurichten und flüsterte in ihrem schlechten Bambara: »Am Fluss, kokè.«
Er brüllte beinah: »Am Fluss? Was machen sie denn alle am Fluss?«
Sie stieß mit Mühe hervor: »Ein weißer Mann! Ein weißer Mann ist am Ufer des Joliba!«
Ein weißer Mann? Was fantasierte diese Frau? Dusikas Blick senkte sich bis auf ihren Bauch, der sich unter dem lose geknüpften Wickeltuch hoch aufwölbte, und glitt dann erschrocken wieder an den Wänden der Hütte hoch, die aus einer Mischung von Lehm und Kaolin bestanden. Allein mit einer Frau, die kurz vor der Niederkunft war! …
Um sein Entsetzen zu verbergen, fragte er schroff: »Was ist mit dir los?«
Sie stammelte im Ton der Entschuldigung: »Ich glaube, es ist so weit …«
Seit mehreren Monaten suchte Dusika die zum zweiten Mal schwangere Sira aus Rücksicht auf das Leben, das sie in sich trug, nicht mehr auf. Ebenso musste er sich während der gesamten Wehen von ihr fernhalten und durfte erst nach der Entbindung zusammen mit dem Fetischpriester auftauchen, wenn sie das Neugeborene bereits in den Armen hielt. Würde seine Anwesenheit zu einem Zeitpunkt, da ihre Wehen bereits eingesetzt hatten, nicht die Ahnen erzürnen? Er zögerte noch, sich zurückzuziehen und sie allein zu lassen, als Nya mit einem Kind auf dem Rücken auftauchte und zwei weiteren Kindern, die sich an ihre mit Indigo gefärbten Baumwollwickeltücher klammerten. Er explodierte: »Wo warst du? Ich kann verstehen, dass alle hier den Kopf verlieren, aber du?«
Ohne ein Wort der Erklärung oder gar der Entschuldigung ging Nya an ihm vorbei und beugte sich über Sira: »Leidest du schon lange?«
Sira flüsterte: »Nein, es hat eben erst angefangen!«
Bei keiner anderen Frau hätte Dusika ein derart respektloses Benehmen, das an Unverschämtheit grenzte, geduldet, aber Nya war seine erste Frau, seine bara muso, der er einen Teil seiner Autorität übertragen hatte, und daher konnte sie wie eine Gleichgestellte mit ihm umgehen. Außerdem war sie eine geborene Kulubari, verwandt mit dem alten Herrschergeschlecht von Segu, und Dusika, wenn auch adliger Abstammung, konnte sich nicht einer solch ruhmvollen Herkunft brüsten. Nyas Vorfahren hatten diese Stadt am Ufer des Joliba gegründet, die schnell zum Zentrum eines riesigen Reiches geworden war. Die Brüder ihrer Vorfahren regierten über Kaarta. Daher steckte in Dusikas Liebe zu ihr auch ein großer Teil Respekt, beinah Furcht. Er zog sich zurück und stieß im ersten Hof auf einen Boten des Palasts. Der Mann warf sich zum Zeichen des Respekts in den Staub und grüßte ihn in dieser Haltung: »Du und der Tag!«
Dann rasselte er die Devise der Traoré herunter: »Traoré, Traoré, Traoré, der Mann mit dem langen Namen zahlt nicht für seine Flussüberquerung.1«
Und schließlich übermittelte er seine Botschaft: »Traoré, der Mansa bittet dich, sofort in den Palast zu kommen! …« Dusika war überrascht: »In den Palast? Aber heute ist doch nicht der Tag der Ratsversammlung!«
Der Mann hob den Kopf: »Es geht nicht um eine Ratsversammlung. Ein weißer Mann ist am Ufer des Flusses und möchte vom Mansa empfangen werden …«
»Ein weißer Mann?« Sira hatte also doch nicht fantasiert? Dusika hatte allerdings auch schon von diesem weißen Mann gehört. Reiter, die aus Kaarta zurückgekehrt waren, hatten berichtet, sie hätten ihn auf einem Pferd reiten sehen, das ebenso erschöpft war wie er selbst. Aber Dusika hatte es für eine jener Geschichten gehalten, mit denen die Frauen abends die Kinder unterhalten, und hatte ihr keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt. Nachdem er seine kegelförmige Kappe aufgesetzt hatte, denn die Sonne stieg am Himmel allmählich höher, verließ Dusika sein Anwesen.
Im Jahre 1797 war Segu – die Stadt mit den 1444 heiligen balanza-Bäumen, der irdischen Verkörperung von Pemba, dem Gott der Schöpfung, und Hauptstadt des gleichnamigen Bambara-Reiches – eine weitläufige Siedlung aus vier Stadtvierteln am Ufer des Joliba, der an dieser Stelle gut dreihundert Meter breit war. In Segu-Koro befand sich das Grabmal des Stadtgründers Biton Kulubari, während sich in Segu-Sikoro der Palast des Mansa Monzon Diarra erhob. Im Umkreis mehrerer Tagesmärsche hätte man keinen belebteren Ort finden können. Der wichtigste Markt fand auf einem großen, viereckigen Platz statt, der von Schuppen mit Holz- oder Mattenwänden und Dächern aus gestampftem Lehm umstanden war, unter denen Frauen alles Erdenkliche zum...