E-Book, Deutsch, 544 Seiten
Connelly Das zweite Herz
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70575-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-311-70575-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Terry McCalebs Spezialgebiet waren Serienmorde – bis ein Herzleiden den FBI-Agenten in den Vorruhestand zwang. Nur ein Spenderorgan konnte ihn retten. Mit Aufregung soll nun Schluss sein, er bemüht sich um ein ruhiges Leben und zieht auf sein Segelboot im Hafen von Los Angeles an der San-Pedro-Bucht. Dort erhält er immer wieder unangekündigten Besuch: Hilfesuchende, die in der Zeitung von seinen durchschlagenden Erfolgen gelesen haben. Allen sagt er das Gleiche: Er hat keine Dienstmarke, darf nicht mal mehr Auto fahren – was soll er als Privatdetektiv taugen? Doch Graciela Rivers lässt nicht locker: Ihre Schwester Gloria Torres wurde vor einigen Wochen ermordet, vom Täter fehlt jede Spur, und das LAPD verfolgt die Ermittlungen nicht mit dem nötigen Nachdruck. McCaleb will ablehnen, aber Rivers hat ein schlagendes Argument: Das neue Herz in seiner Brust ist das von Gloria.
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1
McCaleb sah sie, bevor sie ihn sah. Er kam gerade anden Millionärsbooten vorbei den Hauptsteg entlang, als er die Frau im Heck der Following Sea stehen sah. Es war halb elf an einem Samstagvormittag, und das warme Wispern des Frühlings hatte eine Menge Leute in den Hafen von San Pedro gelockt. McCaleb beendete gerade den Spaziergang, den er jeden Morgen machte – ganz um die Cabrillo Marina herum, die Steinmole hinaus und wieder zurück. Er war in dieser Endphase des Spaziergangs bereits ziemlich außer Atem, aber er ging sogar noch langsamer, als er sich nun dem Boot näherte. Seine erste Reaktion war Ärger – die Frau hatte ungebeten sein Boot betreten. Aber als er näher kam, tat er das beiseite und fragte sich, wer sie war und was sie wollte.
Sie war nicht für eine Bootsfahrt angezogen. Sie trug ein loses Sommerkleid, das auf halber Höhe ihrer Oberschenkel endete. Der Wind, der vom Wasser hochkam, drohte es hochzuwehen, weshalb sie eine Hand seitlich an ihr Bein hielt, um es unten zu halten. Ihre Füße konnte McCaleb nicht sehen, aber aus den angespannten Linien der Muskeln, die er in ihren braunen Beinen sah, schloss er, dass sie keine Segelschuhe anhatte. Sie trug hohe Absätze. McCalebs spontaner Gedanke war, dass sie hier war, um auf jemanden Eindruck zu machen.
McCaleb war nicht angezogen, um auf irgendjemanden Eindruck zu machen. Er trug eine alte Jeans, die vor Abnutzung, nicht aus modischen Gründen, Löcher hatte, und ein T-Shirt von der Catalina-Gold-Cup-Regatta vor einigen Sommern. Die Sachen waren mit Flecken übersät – hauptsächlich Fischblut, etwas eigenes Blut, Polyurethan und Maschinenöl. Sie hatten ihm sowohl als Angel- wie als Arbeitskleidung gedient. Er hatte vorgehabt, das Wochenende über am Boot zu arbeiten, und war dementsprechend angezogen.
Er fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Aufmachung, als er näher auf das Boot zukam und die Frau besser sehen konnte. Er zog sich die Schaumgummipolster seines Walkman von den Ohren und stellte die CD ab, auf der Howlin’ Wolf gerade »I Ain’t Superstitious« sang.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er, bevor er auf sein Boot hinabstieg.
Seine Stimme schien sie zu erschrecken, und sie wandte sich von der Schiebetür ab, die in die Kajüte führte. McCaleb vermutete, sie hatte an das Glas geklopft und wartete nun in dem Glauben, er wäre im Boot.
»Ich suche Terrell McCaleb.«
Sie war eine attraktive Frau Anfang dreißig, gute zehn Jahre jünger als McCaleb. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor, aber er wusste nicht, woran es lag. Es war eins dieser Déjà-vu-Erlebnisse. Im selben Moment, in dem er dieses Gefühl von Wiedererkennen hatte, war es bereits wieder verflogen, und er wusste, dass er sich getäuscht hatte, dass er diese Frau nicht kannte. Er erinnerte sich an Gesichter. Und ihres war hübsch genug, um es nicht zu vergessen.
Sie hatte seinen Nachnamen falsch ausgesprochen, statt und sie hatte die formelle Version seines Vornamens verwendet, die außer Journalisten nie jemand benutzte. Das war der Punkt, als ihm alles klar wurde. Jetzt wusste er, was sie zu seinem Boot geführt hatte. Noch eine verlorene Seele, die an den falschen Ort gekommen war.
»McCaleb«, verbesserte er sie. »Terry McCaleb.«
»Entschuldigung. Ich, äh, ich dachte, Sie seien da drinnen. Ich war mir nicht sicher, ob es okay ist, einfach auf das Boot zu steigen und zu klopfen.«
»Aber getan haben Sie es trotzdem.«
Sie ignorierte die Zurechtweisung und machte weiter. Es war, als hätte sie eingeübt, was sie tat und zu sagen hatte.
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Nun ja, ich bin gerade ziemlich beschäftigt.«
Er zeigte auf die offene Bilgenluke, in die sie zum Glück nicht gefallen war, und auf das Werkzeug, das er neben dem Heckbalken auf einem Tuch ausgelegt hatte.
»Ich bin fast eine Stunde rumgelaufen, bis ich das Boot endlich gefunden habe«, sagte sie. »Es dauert nicht lange. Mein Name ist Graciela Rivers, und ich wollte …«
Er hob die Hände, um sie zu unterbrechen. »Hören Sie, Miss Rivers, ich habe wirklich … Sie haben in der Zeitung von mir gelesen, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Also, bevor Sie anfangen, mir Ihre Geschichte zu erzählen, muss ich Ihnen sagen, dass Sie nicht die Erste sind, die hier rauskommt oder sich meine Nummer beschafft und mich anruft. Und ich werde Ihnen das Gleiche sagen, was ich auch allen anderen gesagt habe. Ich suche keinen Job. Wenn Sie also gekommen sind, um mich zu engagieren oder mich sonst irgendwie um Hilfe zu bitten, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht geht. Ich suche nicht nach dieser Art von Arbeit.«
Sie sagte nichts, und wie bei den anderen, die vor ihr zu ihm gekommen waren, spürte er, wie Mitgefühl an ihm zu nagen begann.
»Schauen Sie, ich kenne ein paar Privatdetektive, die ich Ihnen empfehlen kann. Männer, die etwas von ihrem Geschäft verstehen und sich wirklich für Sie einsetzen und Sie nicht übers Ohr hauen.«
Er ging zum Achterdollbord, nahm die Sonnenbrille, die er auf seinen Spaziergang mitzunehmen vergessen hatte, und setzte sie zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war, auf. Aber die Geste und seine Worte blieben ohne Wirkung auf sie.
»In dem Artikel stand, Sie waren gut. Und Sie hätten es schrecklich gefunden, wenn jemand ungestraft davonkam.«
Er steckte die Hände in die Hosentaschen und hob die Schultern.
»Dabei dürfen Sie eines nicht vergessen. Das war nie ich allein. Ich hatte Partner, ich hatte Laborteams, ich hatte das ganze FBI hinter mir. Das ist was vollkommen anderes als ein Typ, der ganz allein loszieht. Ganz was anderes. Wahrscheinlich könnte ich Ihnen nicht mal helfen, selbst wenn ich es wollte.«
Sie nickte, und er dachte, sie habe begriffen und die Sache sei damit erledigt. Er begann über das defekte Ventil eines der Bootsmotoren nachzudenken, das er übers Wochenende reparieren wollte.
Aber er hatte sie falsch eingeschätzt.
»Ich glaube schon, dass Sie mir helfen könnten«, sagte sie. »Vielleicht auch Ihnen selbst.«
»Ich brauche kein Geld. Ich komme ganz gut klar.«
»Ich spreche nicht von Geld.«
Er sah sie einen Moment an, bevor er antwortete.
»Ich weiß zwar nicht, was Sie damit meinen«, sagte er schließlich und ließ etwas Ärger in seine Stimme einfließen. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe keine Dienstmarke mehr, und ich bin kein Privatdetektiv. Ich würde sogar gegen das Gesetz verstoßen, wenn ich als solcher aufträte oder ohne eine staatliche Lizenz Geld nähme. Wenn Sie den Zeitungsbericht gelesen haben, wissen Sie, was mit mir passiert ist. Ich darf nicht mal mehr Auto fahren.«
Er zeigte auf den Parkplatz hinter den Landestegen.
»Sehen Sie den Wagen, der wie ein Weihnachtsgeschenk eingepackt ist? Das ist meiner. Er wird dort so lange stehen bleiben, bis ich von meinem Arzt die Erlaubnis bekomme, wieder zu fahren. Was gäbe ich also für einen Detektiv ab? Ich müsste den Bus nehmen.«
Sie ignorierte seine Einwände und sah ihn bloß mit dieser enervierenden Entschlossenheit an. Er wusste nicht, wie er sie loswerden sollte.
»Ich hole Ihnen mal die Adressen dieser Leute.«
Er ging um sie herum und schob die Kajütentür auf. Nachdem er dahinter verschwunden war, zog er sie wieder zu. Er brauchte die Abtrennung. Er ging zum Kartentisch und begann in den Schubladen darunter nach seinem Adressbuch zu suchen. Er hatte es so lange nicht mehr gebraucht, dass er nicht mehr wusste, wo es war. Er blickte durch die Tür nach draußen und beobachtete, wie sie nach achtern ging und sich mit der Hüfte gegen den Heckbalken lehnte, um zu warten.
Auf dem Glas der Tür war eine reflektierende Schicht. Sie konnte nicht sehen, dass er sie beobachtete. Ihn überkam wieder dieses Gefühl von Vertrautheit, und er versuchte ihr Gesicht einzuordnen. Er fand sie sehr attraktiv. Ihre dunklen, mandelförmigen Augen wirkten einerseits traurig, schienen aber zugleich von irgendeinem Geheimnis zu wissen. Er wusste, er hätte sich bestimmt an sie erinnern können, wenn er ihr schon einmal begegnet wäre oder sie auch nur gesehen hätte. Aber es kam nichts. Instinktiv wanderte sein Blick zu ihren Händen hinab, um nach einem Ring zu suchen. Da war keiner. Was ihre Schuhe anging, hatte er recht gehabt. Sie trug Sandalen mit fünf Zentimeter hohen Korkabsätzen. Ihre Zehennägel waren rosa lackiert und hoben sich gegen ihre zarte braune Haut ab. Er fragte sich, ob sie ständig so aussah oder ob sie sich zurechtgemacht hatte, um ihn herumzukriegen, den Auftrag zu übernehmen.
Er fand sein Adressbuch in der zweiten Schublade und schlug rasch unter Jack Lavelle und Tom Kimball nach. Er schrieb die Namen und Telefonnummern auf einen alten Reklamezettel und schob die Tür auf. Sie öffnete ihre Handtasche, als er nach draußen trat. Er hielt den Zettel hoch.
»Hier haben Sie zwei Namen. Lavelle ist ein pensionierter LAPD-Beamter, und Kimball war beim FBI. Ich habe mit beiden zusammengearbeitet, und auf beide ist hundertprozentig Verlass. Suchen Sie sich einen aus, und rufen Sie ihn an. Und vergessen Sie nicht, ihm zu sagen, dass Sie seine Nummer von mir haben. Er wird sich dann um Sie kümmern.«
Sie nahm den Zettel nicht. Stattdessen zog sie ein Foto aus ihrer Handtasche und reichte es ihm. Ohne zu überlegen, nahm McCaleb es. Er merkte sofort, dass das ein Fehler war. In seiner Hand war das Foto einer lächelnden Frau, die zusah, wie ein kleiner Junge die Kerzen auf einer Geburtstagstorte ausblies....




