E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Conrad Freya von den Sieben Inseln
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-492-97955-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte von seichten Gewässern
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-492-97955-9
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Joseph Conrad, geboren am 3. Dezember 1857 als Józef Teodor Konrad Korzeniowski bei Berchitschew/Ukraine, gestorben am 3. August 1924 in Kent. Unter russischer Herrschaft geboren, mit Polnisch als Muttersprache und Französisch als Umgangssprache aufgewachsen, wurde er Kapitän der Britischen Handelsmarine und ein englischer Erzähler von Weltrang.
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1
EINES Tages – und dieser Tag liegt inzwischen viele Jahre zurück – erhielt ich von einem alten Kumpan und Weggefährten auf meinen Fahrten durch fernöstliche Gewässer einen langen Plauderbrief. Er lebte immer noch dort draußen, aber er war seßhaft geworden, ein Mann mittleren Alters; ich stellte ihn mir vor mit stattlicher Figur und häuslichem Wesen; kurz, von jenem Schicksal ereilt, das allen droht, sofern sie nicht in der besonderen Gunst der Götter stehen und schon früh das Zeitliche segnen. Es war ein Brief, der in Vergangenem schwelgte, ein »Du-erinnerst-Dich-doch-noch«-Brief – ein wehmütiger, im Gestern verhafteter Brief. Und unter anderem hieß es da: »Du erinnerst Dich doch bestimmt noch an den alten Nelson.«
Den alten Nelson! Und ob. Aber eines vorweg, er hieß gar nicht Nelson. Ich nehme an, daß die Engländer im Archipel ihn Nelson nannten, weil es bequemer war, und er hat wohl nie etwas dagegen gesagt. Das wär auch reine Pedanterie gewesen. Sein richtiger Name lautete Nielsen. Er war, lange bevor es die ersten telegraphischen Verbindungen gab, in den Osten gekommen, hatte für englische Firmen gearbeitet, hatte ein englisches Mädchen geheiratet, hatte jahrelang zu uns gehört, hatte auf seinen Handelsfahrten den östlichen Archipel in allen Himmelsrichtungen durchsegelt, kreuz und quer, hin und her, diagonal, im Halbkreis, im Zickzack, in Achtern, Jahr für Jahr.
Bis in den letzten Winkel dieser tropischen Gewässer war der alte Nelson (oder Nielsen) bei seinen Unternehmungen auf höchst friedvolle Weise vorgedrungen. Trüge man seine sämtlichen Routen in eine Karte ein, würden sie den Archipel wie ein Spinnengewebe überziehen – den gesamten Archipel mit Ausnahme der Philippinen. Es war eine sonderbare Abneigung gegenüber den Spaniern, oder, um es genau zu sagen, gegenüber den spanischen Behörden, die ihn dieses Gebiet meiden ließ. Niemand weiß genau, was er eigentlich meinte von ihnen befürchten zu müssen. Vielleicht hatte er irgendwann einmal Geschichten von der Inquisition gelesen.
Aber er hatte sowieso Angst vor allem, was er »Behörden« nannte; nicht vor den englischen Behörden, denen vertraute und die respektierte er, aber vor denen der anderen zwei, die in jenem Teil der Welt das Sagen haben. Die Holländer fand er zwar nicht ganz so schrecklich wie die Spanier, aber dafür mißtraute er ihnen um so mehr. Er mißtraute ihnen außerordentlich. In seinen Augen waren die Holländer imstande, einem Mann, der das Pech hatte, ihnen unangenehm aufzufallen, »auf jede nur erdenkliche Weise übel mitzuspielen«. Zwar hatten sie ihre Gesetze und Vorschriften, doch mangelte es ihnen bei deren Anwendung gänzlich an Augenmaß. Es war ein wahrhaft erbärmlicher Anblick, mit welch devoter Beflissenheit er seine Verhandlungen mit irgendwelchen Beamten führte, wenn man zugleich bedachte, daß dieser Mann (dabei muß man wissen, daß er schon immer wohlbeleibt war, und einem, wenn ich das so sagen darf, bei seinem Anblick das Wasser im Mund zusammenlaufen konnte) bekanntlich gelassen und furchtlos Kannibalendörfer in Neuguinea aufzusuchen pflegte, um dort irgendeinen Tauschhandel zu treiben, bei dem für ihn am Ende vielleicht nicht einmal fünfzig Pfund heraussprangen.
Ob ich mich an den alten Nelson erinnere! Kann man wohl sagen! Zugegeben, von den Leuten meiner Generation kannte ihn keiner aus seinen aktiven Tagen. Zu unserer Zeit war er schon »im Ruhestand«. Der Herrscher einer kleinen Inselgruppe etwas nördlich von Banka, der Sieben Inseln, hatte ihm ein Stück von einem seiner winzigen Eilande verkauft oder verpachtet. Ich vermute, daß es sich um eine rechtmäßige Transaktion gehandelt hat, doch wäre er Engländer gewesen, hätten die Holländer garantiert einen Grund gefunden, ihn ohne langes Gefackel von der Insel zu verjagen. In diesem Zusammenhang dürfte ihm die richtige Schreibweise seines Namens gut zustatten gekommen sein. Als bescheidenen Dänen, der sich äußerst korrekt verhielt, ließen sie ihn gewähren. Da er sein ganzes Geld in die Urbarmachung seines Landes gesteckt hatte, war er natürlich peinlich darum bemüht, jeden noch so harmlosen Anlaß für Ärgernisse zu vermeiden, und es war in erster Linie seine aus diesen Gründen entstandene Vorsicht, von der seine Vorbehalte gegenüber Jasper Allen herrührten. Doch davon später. Ja! Das waren unauslöschliche Erinnerungen, der große, einladende Bungalow, den sich der alte Nelson auf einer abschüssigen Landspitze gebaut hatte, die stattliche Figur des Mannes, das weiße Hemd und die weiße Hose, die er meist trug (er hatte die Angewohnheit, beim geringsten Anlaß seine Alpakajacke auszuziehen), seine großen blauen Augen, sein wuchernder sandweißer Schnurrbart, der sich in alle Richtungen sträubte wie die Stacheln eines gereizten Igels, seine Eigenart, sich plötzlich hinzusetzen und mit dem Hut Luft zuzufächeln. Es muß aber dennoch gesagt werden, daß, woran man sich eigentlich erinnerte, seine Tochter war, die zu jener Zeit kam, um bei ihm zu leben – und sie wurde so etwas wie die Königin der Inseln.
Freya Nelson (oder Nielsen) gehörte zu den Mädchen, an die man sich ein Leben lang erinnert. Das Oval ihres Gesichts war vollkommen; und innerhalb dieser faszinierenden Umrahmung mischte sich die äußerst glückliche Anordnung von Linien und Formen mit einem betörenden Teint zu einem Ausdruck von Gesundheit und Kraft und zu einem, wie ich es nennen möchte, unbewußten Selbstvertrauen – einer höchst erfreulichen und gleichwohl launischen Eigenwilligkeit. Ich werde mich hüten, ihre Augen mit Veilchen zu vergleichen, denn im Grunde war ihr Farbton einzigartig, nicht so dunkel und leuchtender. Es waren wache Augen, die einen in jeder Stimmung offen ansahen. Nie habe ich erlebt, daß sie die langen dunklen Wimpern niederschlug – Jasper Allen, so wage ich zu behaupten, wird aufgrund seiner privilegierten Stellung in den Genuß dieses Anblicks gekommen sein –, aber ich zweifle nicht, daß gerade dann ihr Ausdruck auf komplizierte Weise bezaubernd war. Sie konnte – so erzählte Jasper mir einmal mit einem rührend idiotischen Juchzen – auf ihrem Haar sitzen. Schon möglich, schon möglich. Mir war es nicht vergönnt, Zeuge dieser Erstaunlichkeiten zu sein; ich mußte mich damit begnügen, sie so zu bewundern, wie sie mir begegnete: mit sorgsam und schicklich aufgestecktem Haar, um nur ja nicht die gelungene Form ihres Kopfes zu verbergen. Und diese Haarflut war von einem solchen Glanz, daß sie, wenn auf der Westveranda die Jalousien heruntergelassen waren und dort ein angenehmes Dämmerlicht herrschte, oder im schattigen Obstgarten nicht weit vom Haus, selbst ein goldenes Licht auszustrahlen schien.
Sie trug meist eine weiße Bluse und dazu einen halblangen Rock, unter dem ihre gepflegten braunen Schnürstiefel zu sehen waren. Wenn es an ihren Kleidern überhaupt irgendwelche Farben gab, dann allenfalls hier und da einen Tupfen Blau. Es schien keine Anstrengung zu geben, die sie erschöpfen konnte. Ich habe sie nach einer langen Ruderpartie in der Sonne (sie ruderte gern und viel) aus dem Dinghi steigen sehen, ohne daß ihr Atem schneller ging oder auch nur eine einzige Haarsträhne verrutscht war. In der Frühe, wenn sie auf die Veranda trat, um einen ersten Blick über See nach Westen gen Sumatra zu richten, glich sie in ihrer Jugend und Unberührtheit frischem Morgentau. Doch der Morgentau verflüchtigt sich, während Freya nichts Flüchtiges an sich hatte. Ich erinnere mich an ihre runden, kräftigen Arme mit den zarten Handgelenken, an ihre großen, tüchtigen Hände mit den zu den Spitzen hin sich verjüngenden Fingern.
Ich weiß nicht, ob sie gar auf See zur Welt gekommen ist, aber ich weiß, daß sie bis zum Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern auf verschiedenen Schiffen zur See fuhr. Nachdem der alte Nelson seine Frau verloren hatte, stand er vor der schwierigen Frage, was er mit dem Mädchen anfangen sollte. Gerührt von seinem stummen Schmerz und seiner bedauernswerten Ratlosigkeit erbot sich eine freundliche Dame in Singapore, sich Freyas anzunehmen. Dieses Arrangement währte etwa sechs Jahre, während deren der alte Nelson (oder Nielsen) »in den Ruhestand« trat und sich auf seiner Insel niederließ, und dann wurde beschlossen (die freundliche Dame siedelte nach Europa über), daß seine Tochter zu ihm ziehen sollte.
Die erste und wichtigste Maßnahme zur Vorbereitung dieses Ereignisses bestand darin, daß der alte Knabe seinen Agenten in Singapore beauftragte, ihm ein Steyn & Ebhart-Klavier zu besorgen. Ich war damals Kapitän eines kleinen Dampfers für den Gütertransport zwischen den Inseln, und mir fiel die Aufgabe zu, ihm die Bestellung anzuliefern, weswegen ich einiges über Freyas Klavier weiß. Unter größten Schwierigkeiten wuchteten wir die riesige Kiste auf einen flachen Felsen zwischen Ufergebüsch, eine nautische Operation, bei der einem meiner Boote beinahe der Boden herausgeschlagen wurde. Meine gesamte Mannschaft einschließlich Maschinisten und Heizern schuftete unter Aufbietung allen verfügbaren Erfindungsreichtums in der Sonne wie die alten Ägypter beim Pyramidenbau, um sie mit Hilfe von Rollhölzern, Hebelstangen, Flaschenzügen und schiefen Ebenen aus geseiften Brettern schließlich bis zum Haus zu bringen, wo wir sie am äußersten Rand der Westveranda, die als Gesellschaftszimmer des Bungalows diente, absetzten. Dort wurde die Kiste vorsichtig auseinandergenommen, und dann stand es endlich da, das wunderschöne Ungetüm aus Palisander. In ehrfürchtiger Erregung schoben wir es behutsam gegen die Wand, und dann konnten wir zum ersten Mal an diesem Tag frei durchatmen. Es handelte sich zweifellos um den schwersten beweglichen Gegenstand, der seit Erschaffung der Welt auf...