E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Corbett Die zwölf Seelen-Vögel
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-28549-4
Verlag: Kailash
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie sie uns Trost, Ruhe und neue Kraft schenken
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-641-28549-4
Verlag: Kailash
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Charlie Corbett wuchs auf dem Land auf und verbrachte seine Kindheit zwischen den Feldern und Wiesen von Wessex. Nach der Schule entschied er sich gegen die Landwirtschaft, studierte Geschichte an der Universität von Edinburgh und machte sich einen Namen als Wirtschaftsjournalist. Fast zwanzig Jahre war er dafür in der Weltgeschichte unterwegs und kehrt nun zurück zu seinen Wurzeln, einer lang gehegten Sehnsucht folgend: Er lebt mit seiner Familie auf dem Land, im Einklang mit der Natur, und widmet sich der Vogelbeobachtung und dem Schreiben.
Weitere Infos & Material
Lerche
The lark’s on the wing;
The snail’s on the thorn:
God’s in his Heaven –
All’s right with the world!2
Robert Browning
Wie Lerchen, die vom dumpfen Erdenraum
Frühjubelnd sich zum Himmelstore heben.3
William Shakespeare, Sonett 29
Es gibt kein besseres Wort für das Gefühl, das einen ergreift, wenn man eine Feldlerche hört und sieht, als erhebend. Im Englischen heißt das exaltation, und exaltation ist auch das Wort für einen Schwarm Feldlerchen. Man könnte es nicht treffender sagen. Ich weiß nicht, wer sich seinerzeit alle diese Spezialwörter für Schwärme einer bestimmten Vogelart ausgedacht hat (a clattering of jackdaws – ein Schwarm Dohlen, a murmuration of starlings – ein Starenschwarm, a charm of goldfinches – ein Schwarm Distelfinken, und das sind nur ein paar der schönsten). Aber wer immer es war, beherrschte seinen Job.
Der Gesang der Lerche strahlt Kraft aus. Er hebt Ihre Stimmung, was immer auch sonst in Ihrem Leben passiert. Ganz abgesehen davon, dass Sie, um eine Lerche zu hören, offenes und windiges Gelände aufsuchen müssen, wo es keine anderen Menschen, keinen Müll, keine Abgase und keinen Beton gibt – das allein schon kann einen glücklich machen. Der sprudelnde, zwitschernde, ansteigende Gesang der Lerche macht Sie dann noch glücklicher. Ich kann das Gefühl innerer Ruhe kaum beschreiben, das ich habe, wenn ich dieses Lied höre, aufschaue und über mir eine Lerche mit wild schwirrenden Flügeln am Himmel stehen sehe, während sie aus voller Kehle und vollem Herzen singt.
Wenn der Gesang der Lerche ein Drink wäre, würde er auf Ihre Seele etwa so wirken wie der erste eiskalte Gin-Tonic nach einem heißen stressigen Tag im Büro. Nein. Stimmt nicht. Gin-Tonic wird der Sache nicht gerecht. Es ist eher wie der Augenblick, in dem Ihr Körper in ein herrlich warmes Bad eintaucht, nachdem Sie einen langen schweren Tag auf den Beinen waren. Das ist es fast. Aber noch nicht ganz.
Ein viel zutreffenderer Vergleich für den Lerchengesang wäre vielleicht der Schmetterling der Buddhisten. Man kann ein Leben lang dem Glück nachjagen, ohne es zu finden. Hören Sie auf zu suchen, wird Ihr freundlicher ortsansässiger Buddhist sagen. Das Glück ist wie ein Schmetterling. Man kann es den ganzen Tag jagen und wird es nicht kriegen. Erst, wenn man aufgibt, eine Pause macht und ausruht, setzt er sich einem auf die Schulter, ohne dass man es auch nur bemerkt. Der Gesang der Lerche ist die musikalische Entsprechung dazu. Er ist die ganze Zeit im Hintergrund; man muss nur innehalten und zuhören, um ihn wahrzunehmen.
Die Lerche spielte eine zentrale Rolle in meiner eigenen Erweckung durch Vogelgesang. Sie holte mich in einer düsteren Stunde aus der Depression heraus, wie es kein Menschenwerk vermocht hätte, und brachte ein tiefes Staunen über die Kraft der Natur in mir wieder zum Vorschein, das mich seitdem nicht mehr verlassen hat.
Es war an einem dieser Tage, die friedlich und freundlich anfangen – alles ist eitel Sonnenschein –, aber im Chaos enden. Meine Familie wurde mit etwas konfrontiert, womit wir niemals gerechnet hätten. Vielleicht hatten wir es alle zusammen allzulange nicht wahrhaben wollen – die merkwürdige Eigenschaft des Menschen, vor Tatsachen die Augen zu verschließen, bis diese einen über den Frühstückstisch hinweg anspringen, einem in die Cornflakes pinkeln und sich einem mit einem rostigen Löffel selbst in den Mund stopfen. Ich glaube, man nennt es Hoffnung, und ich denke dabei an den wunderbaren Satz, den John Cleese in Clockwise sagt: »Es ist nicht die Verzweiflung… Mit der Verzweiflung werde ich fertig. Es ist die Hoffnung!« (Wenn man ihn selbst hört, klingt es viel komischer.)
Es war jedenfalls an diesem Tag – einem der Hundstage im August –, als wir, die Familie, die Hiobsbotschaft bekamen, und als unsere Hoffnung den Todesstoß bekam. Meine Mutter, bei der vor einem Monat ein Hirntumor festgestellt worden war, bekam die gefürchtete »Prognose«. Zum ersten Mal im Leben hörte ich Wörter wie »bösartig«, »Endstadium« und »Palliativpflege« auf einen Angehörigen angewandt. Sie prallten von meinem Kopf ab, als der Arzt sie äußerte, ohne dass ich sie verinnerlichte. Die Situation kam mir unwirklich und surreal vor. Das konnte nichts mit mir oder meiner Mum zu tun haben. Ich weiß noch, wie ich die anderen anschaute. Wir saßen zu fünft in einem winzigen Zimmer mit rasselnden Lamellenjalousien und grauem Behördenteppich. Mum und Dad saßen nebeneinander und hielten einander fest. Katie, meine große Schwester, hielt Mums Hand, als wolle sie sie nie wieder loslassen, und mein Bruder Richard hatte die Hand sanft auf Mums Schulter gelegt. Ich, der Jüngste, saß hinter ihnen und versuchte zu verstehen, was vor sich ging. Wir suchten alle mit den Blicken Halt aneinander. Am ehesten drückten diese Blicke tiefe Verwirrung aus.
Bis jetzt hatten wir nämlich geglaubt, dass Mum diese Krankheit überwinden würde, dass sie als eine Episode in einem langen und erfüllten Leben hinter ihr zurückbleiben würde, dass wir diese Hürde überspringen und unsere Mutter genesen würde. Wir hätten alle ein paar wertvolle Lektionen gelernt, und das Leben würde weitergehen wie zuvor. Kann vorkommen, so eine Sache. Später würden wir über diese merkwürdigen Wochen lachen, und Dad würde sich stöhnend erinnern, wie maßlos hoch die Parkgebühren auf einem englischen Krankenhausparkplatz waren.
Angefangen hatte alles an einem warmen Julimorgen einen Monat zuvor. Mary und ich saßen am Küchentisch und schmiedeten Pläne fürs Wochenende, als unerwartet Dad anrief. »Ich mache mir ein bisschen Sorge um Mutter. Wahrscheinlich ist es nichts weiter, aber sie hat einen komischen Anfall.«
»Was für einen komischen Anfall? Was meinst du, Dad?«
»Na ja, einen Anfall halt. Sie hat gerade die hartgekochten Eier für ein Picknick geschält, und plötzlich hatte sie diesen Anfall. Wir fahren zum Arzt, nur zur Sicherheit.«
Ein komischer Anfall. Ich legte auf und kehrte in meinen Alltag zurück. Nachher Mum anrufen und fragen, wie es ihr geht, nahm ich mir vor, und das war alles. Aber natürlich war es nicht alles. Wie sich herausstellte, hatte Mum schon seit Wochen Kopfschmerzen und bloß nichts davon erzählt, und der Arzt war besorgt genug, um sie zu weiteren Scans zu schicken. Aber bestimmt war es nichts weiter, sagten wir uns alle, nichts Ernstes zumindest. Mutter war so gut in Form und sah so jung aus wie keine andere 66-Jährige, die wir kannten. Sie strahlte eine tiefe kraftvolle Fröhlichkeit aus, und solche Leute werden nicht krank, sagten wir uns. Ganz einfach. Sie hatte noch genug Sprit im Tank, um mindestens hundert zu werden, wahrscheinlich ein gutes Stück darüber, und sie glaubte das selbst auch ganz selbstverständlich. »Mir geht’s gut, ihr Lieben. Es ist bestimmt nichts weiter. Nur so ein komischer Anfall.«
Aus Tagen wurden Wochen, und der sonnige Julitag, an dem es angefangen hatte, verblasste im Gedächtnis. Wir hingen in der Luft. Mum hatte eine Untersuchung nach der anderen, ein Arzttermin folgte auf den nächsten, während wir zu ergründen versuchten, was ihr genau fehlte. Dass sie einen Tumor im Schädel hatte, wussten wir da schon, aber es gab diese scheußlichen Dinger ja in den verschiedensten Arten. Viele waren gut operabel, man genas wieder vollkommen, während bei anderen die Aussichten düster waren. Wir klammerten uns an das Wort »gutartig«. Vor Kurzem hat mir Richard diese Zeit wieder uns Gedächtnis gerufen, diese Wochen der nervösen Unsicherheit vor der schlimmen Diagnose – unseren persönlichen Sitzkrieg.
»Mum hat mir erzählt, wie glücklich sie damals war«, sagte er.
Ich verstand erst nicht, was er meinte. »Wie kann man denn glücklich sein, wenn man in solcher schrecklicher Ungewissheit schwebt?«
»Du weißt doch noch, wie oft wir damals zusammen essen gegangen sind. Zum ersten Mal seit Jahren hat die Familie wieder etwas zusammen unternommen.«
Inzwischen ist mir klar, dass er recht hatte. Diese Tage und Wochen brachten uns deutlich wie nie zuvor den entscheidenden Anteil zu Bewusstsein, den Mum an der Schaffung und Erhaltung unserer kleinen Familie hatte, und man konnte ihr an den Augen ablesen, wie sie in Gedanken die Freude daran, uns alle wieder vereint und sich selbst von ihren Angehörigen, die sie mehr als alles andere auf der Welt liebte, umgeben zu sehen, gegen die Furcht abwog, ihre Tage könnten gezählt sein.
Natürlich war Mum der Klebstoff, der die Familie zusammenhielt. Mir war das nie so richtig klar, bis der Klebstoff sich aufzulösen begann. Ich nahm es für gegeben, wie wir alle, und so kam es, dass wir uns in diesen Sommertagen voller Ungewissheit, während wir zwischen Hoffnung und zögernder Erwartung schwankten, auf eine übermütige Familientour durch die Dörfer und Städte der Umgebung machten. Wir gondelten als Einheit durch die Landschaft, wir fünf, in einer kleinen Parade fröhlicher Ängstlichkeit: Wir besuchten Ärzte, gingen in Kliniken, machten Termine bei Fachärzten aus – Mum immer sanft geborgen in unseren Händen und Herzen –, und wenn die Termine überstanden waren, gingen wir in einen Pub oder ein Hotel am Ort und aßen gemeinsam zu Mittag. Für uns Kinder war es wie eine zweite Kindheit, ohne die Requisiten des...




