E-Book, Deutsch, Band 1, 440 Seiten
Reihe: Die Australien-Saga
Corbi Das Lied der roten Erde
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-548-92037-5
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 440 Seiten
Reihe: Die Australien-Saga
ISBN: 978-3-548-92037-5
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inez Corbi, geboren 1968, studierte Germanistik und Anglistik in Frankfurt/Main. Nach Erfolgen bei verschiedenen Kurzgeschichten-Wettbewerben widmet sie sich inzwischen vollständig dem Schreiben.
Autoren/Hrsg.
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1.
Moira schreckte mit einem Ruck aus dem Schlaf. Sturm wütete vor ihrem Fenster im vierten Stock und rüttelte an den Fensterläden, die sie nicht geschlossen hatte, weil sie sich auf diese Weise weniger eingesperrt vorkam. Regenkaskaden peitschten gegen die Scheiben. Aber das war es nicht, was sie geweckt hatte. Stimmen, Schritte, das eilige Trappeln von Füßen, die auf den Treppen des schmalen Dubliner Stadthauses hinauf und hinunter liefen. Moira war jetzt hellwach. Sie schlug die Decke zurück, griff nach dem Zunderkästchen und entzündete die Kerze auf ihrem Nachttisch, dann warf sie sich einen Schal über ihr Nachthemd und eilte zur Tür.
Vergeblich. Natürlich war sie verschlossen, wie stets während der vergangenen Wochen. Sie versuchte, durchs Schlüsselloch zu spähen, sah aber nichts, da der Schlüssel von außen steckte. Sie legte das Ohr an die Tür, glaubte ihre Mutter zu hören, die mit durchdringender Stimme Anweisungen gab, und rüttelte am Türknauf.
»Mutter? Bitte mach auf!«
Niemand antwortete.
Wieder Schritte.
Moira verlegte sich aufs Klopfen. »Bitte, Mutter, öffne die Tür! Was ist denn los?«
Jemand drehte den Schlüssel, die Tür öffnete sich. Im Gang stand ihre jüngere Schwester Ivy, die blonden Haare zu einem losen Zopf zusammengefasst, einen Leuchter mit einer brennenden Kerze in der Hand.
»Gott sei Dank! Was ist denn los? Ich habe nur –«
»Vater«, unterbrach Ivy sie ängstlich. »Ich glaube, er stirbt! Komm!«
Gemeinsam eilten die Schwestern die Treppe einen Stock hinunter zum Schlafzimmer der Eltern. Hinter der angelehnten Tür drang ein schmerzerfülltes Stöhnen hervor.
Moira klopfte und schob sich gleich darauf ins Zimmer, Ivy dicht hinter sich. Der Vater lag im Bett, die massige Gestalt unter einer Decke begraben, das sonst so rosige Gesicht aschfahl im Schein einer flackernden Kerze.
»Vater! Was fehlt dir?«
»Es fühlt sich an«, keuchte Philip Delaney, die Hände in die Bettdecke gekrallt, »als wühle jemand mit einem Messer in meinem Unterleib.«
»Was ist mit dir?« Moiras Stimme klang schrill. »Ivy hat gesagt, du würdest sterben!«
»Unsinn!« Mutter erhob sich von einem Stuhl neben dem Bett. Trotz der nächtlichen Stunde lagen ihre Haare makellos. »Es ist nur ein Bauchgrimmen, nichts weiter. Wahrscheinlich hat er wieder zu reichlich dem Essen zugesprochen.« Ihr Blick ging zu Moiras lose herabhängendem Schal. »Es gibt keinen Grund, wie ein Straßenmädchen herumzulaufen. Und ordne dein Haar!«
Zerstreut kam Moira dieser Aufforderung nach, doch ihr Haar war so störrisch wie sie selbst. In die kleinen Löckchen, die Mutters Gesicht wie das der griechischen Vorbilder umgaben, ließ sich Moiras dunkler Schopf kaum zwingen.
Ivy drängte sich neben sie. »Wo bleibt Dr. Ahern?«
»Dr. Ahern weilt wegen dringender familiärer Angelegenheiten auf dem Kontinent. Ich habe das Hausmädchen zu diesem Dr. McIntyre geschickt.« Mutters Stimme klang wie immer. Kühl und gefasst.
»Dem Bekannten von Mr Curran?«
Mutter nickte. »Ich hoffe nur, dass er etwas taugt.« Sie warf einen Blick aus dem Fenster, vor dem es noch immer in Strömen goss. »Euer Vater hat sich für seine Unpässlichkeit das denkbar schlimmste Wetter ausgesucht. Dieser April macht mich noch ganz krank.«
Vor der Tür waren eilige Schritte zu hören. Jane, die Haushälterin, kam mit einer kupfernen, mit glühendem Torf gefüllten Wärmflasche herein, die sie mit einem Tuch umwickelt hatte. Sie keuchte; die vier Stockwerke vom Keller, wo die Küche lag, zogen sich. Mrs Delaney nahm die Kupferflasche und schob sie ihrem Gatten unter die Bettdecke. Der schwere Mann ächzte auf, sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen.
»Hoffentlich beeilt Bridget sich«, murmelte Jane, während Mutter die Decke über dem fülligen Leib glattstrich. Moira erhaschte einen flüchtigen, irgendwie strafenden Seitenblick. Aber sie konnte doch nichts dafür, dass es dem Vater schlecht ging!
»Es ist alles deinetwegen!« Mutter schien ihre Gedanken zu lesen. »Wenn er sich nicht so hätte aufregen müssen, dann –«
»Eleanor, bitte!« Philip Delaney versuchte, sich in seinem Bett aufzurichten, sank aber stöhnend wieder zurück.
»O doch, sie weiß es ganz genau. Du bringst deinen Vater noch ins Grab mit deinen … deinen Eskapaden.« Mutters Lippen waren noch schmaler als sonst, ihre Augen blickten kalt.
Moira öffnete den Mund, eine scharfe Erwiderung auf den Lippen, dann schloss sie ihn wieder. Es hatte doch keinen Sinn, sich gegen diese Vorwürfe aufzulehnen.
Als die Türglocke ging, atmete sie auf. Jane eilte hinunter. Nach einer Weile hörte Moira schwere Schritte, dann öffnete Bridget, hörbar außer Atem, die Tür zum Schlafzimmer.
»Dr. McIntyre!« Mutter trat auf den Arzt zu. »Was für ein Glück, dass Ihr kommen konntet.«
Der Doktor, der ebenso wie das Hausmädchen vom Treppensteigen schnaufte, war im Alter ihrer Eltern, schätzte Moira. Ein rotbrauner Backenbart gab seinem Gesicht einen grimmigen, verkniffenen Ausdruck, der durch die schweren Tränensäcke noch verstärkt wurde. Dieser Mann wusste die schönen Seiten des Lebens sicher nicht zu würdigen. Außerdem roch er nach abgestandenem Schweiß. Aber das war kein Wunder – Bridget hatte ihn schließlich mitten in der Nacht aus dem Bett geholt.
Dr. McIntyre stellte seine Arzttasche auf den Nachttisch, seine Schuhe hatten feuchte Abdrücke auf dem Teppich hinterlassen. Er holte eine kleine Brille mit runden Gläsern heraus, setzte sie auf seine grobporige Nase und strich sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Backenbart.
»Wenn ich die Damen jetzt bitten dürfte, den Raum zu verlassen.« Er wandte sich dem Vater zu, ohne darauf zu achten, ob man seiner Bitte nachkam.
Eleanor Delaney scheuchte ihre Töchter hinaus und schloss die Tür von außen. Sie wartete, bis Bridget den Leuchter im Flur entzündet hatte, dann schickte sie die beiden Dienstboten ins Bett. Jetzt war nur noch die Familie versammelt.
Moiras Blick ging zu Ivy. Ihre Schwester, das Tuch um das Nachthemd züchtig geschlossen, ordnete mit den Fingern ihr Haar. Mutter griff helfend ein.
Ivy war in allem so, wie sich Eleanor Delaney eine wohlerzogene Tochter vorstellte. Ihre Stiche bei der Handarbeit waren stets gerade, sie konnte bezaubernd singen und Klavier spielen, und sie liebte schöne Kleider. Wenn man sie in zwei Jahren in die Gesellschaft einführte, würde Ivy unweigerlich die Blicke aller Männer auf sich ziehen. Ihre kleine Nase wies ein wenig himmelwärts, und für ihr feines naturblondes Haar hätte so manche Frau ein Vermögen hergegeben. Nicht einmal Mutter hatte so helles Haar, obwohl sie es wöchentlich mit Zitronensaft behandelte.
Moiras Haar dagegen war nachtschwarz wie das Fell ihrer Stute Dorchas. Für ihr Debüt im März hatte Moira es sich abschneiden lassen, aber seitdem war mehr als ein Monat vergangen, und die einstmals sorgsam gelegten Löckchen waren auf dem besten Weg, wieder zu einer wilden Mähne zu werden. Ein weiterer Minuspunkt auf der endlosen Liste von Vorwürfen, die sie sich immer wieder anhören musste, neben ihrer mangelnden Fähigkeit oder auch dem Unwillen, Klavier zu spielen oder Kissen zu besticken. Ganz abgesehen von ihrem letzten, ungeheuerlichen Fauxpas.
Der Kerzenleuchter im Flur warf flackernde Schatten auf die Wände und den dichten Teppich. Der Sturm hatte sich gelegt, nur noch dann und wann konnte Moira ein paar Zweige gegen die Fenster schlagen hören. Am liebsten hätte sie das Ohr an die Tür zum Schlafzimmer der Eltern gelegt, aber das hätte Mutter, die seufzend auf einen Hocker gesunken war, nie zugelassen. Und so konnte sie nur dastehen und auf die Geräusche lauschen, die aus dem Zimmer drangen.
Gemurmelte Stimmen, dann ein langes Stöhnen. Für eine Weile herrschte Stille, dann setzte es wieder ein. Moira hob den Daumen an den Mund und biss an ihrem Nagel herum, bis Mutters strafender Blick sie traf. Schuldbewusst zog sie den Finger zurück.
Ein leiser Schrei ertönte, der die Frauen zusammenzucken ließ, dann ein Aufseufzen. Wieder Stimmen, dann öffnete sich die Tür.
Dr. McIntyre bat die Frauen herein. »Ein Blasenstein«, sagte er ohne weitere Eröffnung. »Eingeklemmt auf dem Weg nach draußen. Ich konnte ihn zurückdrängen.«
»Dr. McIntyre, Ihr seid ein Engel!« Eleanor Delaney gelang es selbst jetzt noch, gekünstelt zu klingen.
»Und ein wahrer Meister Eures Fachs«, ergänzte ihr Mann. Er saß bleich, aber mit einem glücklichen Lächeln halb aufgerichtet im Bett und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Schweißperlen von der Stirn. Auf dem Nachttisch lag eine dünne Sonde, in der Luft schwebte der Geruch einer medizinischen Essenz. »Ich hätte diese Schmerzen keine Minute länger ertragen.«
»Ihr müsst in nächster Zeit viel trinken, Mr Delaney. Wasser, keinen Wein! Auch wenn Ihr damit...