Corsten / Kauppert | Der Mensch - nach Rücksprache mit der Soziologie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Corsten / Kauppert Der Mensch - nach Rücksprache mit der Soziologie

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-593-41970-1
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Mensch ist ein soziales Wesen, das in Beziehungen zu anderen Menschen lebt. Diese alteuropäische Denkvoraussetzung hat den Menschen aus dem Fokus der Soziologie gerückt. Denn es ist nicht der Mensch, es sind die sozialen Beziehungen, für die sie sich interessiert. Doch hat sich damit bereits die Frage nach dem Menschen für die Soziologie erledigt? Die Autorinnen und Autoren des Bandes diskutieren aus unterschiedlichen Perspektiven die Relevanz anthropologischer Annahmen für die gegenwärtige Soziologie.

Mit Beiträgen von Eva Barlösius, Ulrich Bröckling, Christoph Deutschmann, Hartmut Esser, Joachim Fischer, Hans-Joachim Giegel, Andreas Göbel, Sabine Hark, Roland Reichenbach, Rudi Schmidt und Jürgen Straub.
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Weitere Infos & Material


Inhalt
Tiefsinnige Frage, leichtfertige Antworten?
Der Mensch - vor einer Rücksprache mit der Soziologie 7
Michael Kauppert

Soziologie aus der Perspektive der Philosophischen Anthropologie 33
Joachim Fischer (Dresden)

Der menschliche Leib von der Mitwelt her gedacht 61
Gesa Lindemann (Oldenburg)

Anthropologie, Soziologie und Kapitalismustheorie 81
Christoph Deutschmann (Tübingen)

Der Mensch ist das Maß aller Schneider: Anthropologie als Effekt 105
Ulrich Bröckling (Freiburg)

"Bei drei Vierteln unseres Handelns bloße Empiriker" -
Anthropologische Spuren in Pierre Bourdieus Habitus-Konzept? 125
Eva Barlösius (Hannover)

Der Mensch in der analytisch-erklärenden soziologischen
Handlungstheorie - Universelle Menschenbilder und ihre Implikationen147
Jochen Mayerl (Kaiserslautern)

Der Mensch - ein dilettantisches Subjekt: Ein inkompetenztheoretischer
Blick auf das vermeintlich eigene Leben 177
Roland Reichenbach (Basel)

Homo laborans - der Mensch als arbeitendes Wesen 197
Rudi Schmidt (Jena)


Deviante Subjekte
Normalisierung und Subjektformierung 219
Sabine Hark (Berlin)

Der Mensch - eine nicht enden wollende Selbsttäuschung:
Nietzsches Kritik der Moderne 243
Hans-Joachim Giegel (Jena/Berlin)

Nachwort 303
Michael Corsten

Autorinnen und Autoren 319


Tiefsinnige Frage, leichtfertige Antworten? Der Mensch - vor einer Rücksprache mit der Soziologie
Michael Kauppert
In der Beschreibung des Menschen bittet Hans Blumenberg (2006: 502f.) seine Leser darum, sich den folgenden Dialog vorzustellen:
"Tiefsinniger Frager: Was ist der Mensch?
Leichtfertiger Antworter: Da geht doch einer.
Tiefsinniger Frager: Ob das auch so einer ist wie ich?
Leichtsinniger Antworter: Alle sind so wie du.
Tiefsinniger Frager: Vielleicht ist jeder ein anderer.
Leichtfertiger Antworter: Alle sind anders.
Tiefsinniger Frager: Woher will man wissen, was alle sind?"
1. Der initiale Vorsprung, den ein Fragesteller gegenüber seinem Antwort-geber hat, verkehrt sich in dem von Blumenberg inszenierten Dialog in den sozialen Nachteil desjenigen, dem es nur mühselig gelingt, weiterzufragen, ein Eindruck, der sich einem Leser des Dialogs dann aufdrängt, wenn er auf die Leichtigkeit achtet, mit der der leichtfertige Antworter imstande ist, die Fragen des tiefsinnigen Fragestellers zu retournieren. Auf die Frage nach dem Menschen zu antworten fällt offenbar ungleich leichter, als diese Frage in Gang zu halten.
2. Im Dialog zwischen dem tiefsinnigen Frager und dem leichtfertigen Antworter wiederholt sich die Differenz zwischen der theoretischen Ein-stellung einerseits und der Lebenswelt als dem "Inbegriff der gelebten Selbstverständlichkeiten unterhalb des Niveaus von Aufmerksamkeit und Ausdrücklichkeit" (Blumenberg 2006: 50) andererseits. Die Gesprächs-partner beziehen sich hier nur oberflächlich aufeinander. Tatsächlich reden sie aneinander vorbei. Bereits die anfängliche Frage "Was ist der Mensch" verlangt einen ganz anderen Typus von Antwort, als sie vom leichtfertigen Antworter gegeben wird: Auf die Frage nach dem Menschen begegnet dieser mit der sprachlichen Zeigehandlung auf einen Menschen. Es ist der Gebrauch des (un-)bestimmten Artikels, der im Dialog den Unterschied zwischen Theorie und Lebenswelt begründet. Im bestimmten Artikel liegt die "Forderung von äußerster Strenge und Präzision […]. Sie verlangt nach strikter Ökonomie, und das heißt ausschließend: nach der Definition" (a.a.0.: 504). Mit deiktischen Ausdrücken kann sich insofern derjenige, der wissen will, was der Mensch ist, nicht zufrieden geben: Auf den Menschen lässt sich nicht zeigen. Wo dies dennoch geschieht, hat die Zeigehandlung regelmäßig eine rhetorische Funktion: Zur Anschauung gelangt das, und nur das, was dem Antwortenden geeignet erscheint, die Frage nach dem Menschen zu delegitimieren oder aber aufzuwerten.
3. In der philosophischen Tradition hat die Favorisierung von Definiti-onen insbesondere im Ausgang von Aristoteles dazu geführt, den Men-schen (zôon logon echon, zôon politikon) nicht durch sein Äußeres, für jedermann Sichtbares, sondern durch seine inneren Fähigkeiten zu be-stimmen, und zwar in Differenz zum Tier. Auch wenn damit das Problem von Verwechselbarkeiten innerhalb des Spektrums von Lebewesen klassifikatorisch gebannt schien - ihre Überzeugungskraft gewinnen Definitionen des Menschen doch nicht allein und nicht einmal vordringlich daraus. Anthropologica wie die des Aristoteles beziehen sich nicht nur auf das Wesen, dem sie vorderhand zugedacht sind; sie erheben es damit zugleich auf eine Stufe mit Entitäten, deren "Leben" gerade nicht von der Art und Qualität sein konnte, die man Organismen zuspricht: stadtstaatliche Lebensgemeinschaften, derer angeblich nur Götter oder Tiere nicht bedürfen; Göttlicher Geist, dem sich das menschliche Denken anzuähneln vermeintlich in der Lage sei. In den Augen Blumenbergs blieb dabei allerdings offen, wie "Vernünftigkeit als eine gerade für dieses Lebewesen notwendige und integrale Leistung aus seinen Existenzbedingungen heraus zu verstehen", und das heißt "als das Minimum der Leistungsvoraussetzung der Selbsterhaltung für dieses organische System […] erwiesen werden könnte" (ebd.: 510). Daraus zieht Blumenberg einen Schluss, der die lange Tradition anthropologischen (Vernunft-) Denkens kappt: "Die klassische Definition ist also nicht nur anthropologisch bedeutungslos, sondern geradezu Anthropologie verhindernd" (ebd.). Seit der Neuzeit und erst recht in der Moderne sind Definitionen des Menschen selbst zu einem Problem, der Mensch in der Folge zu einer Problemformel geworden. Das betrifft allen voran die soziale Institutionalisierung der Antwort auf die Frage "was ein Mensch sei und wo im gegebenen Fall die Grenze zwischen dem, was eine menschliche Geburt und was in der Sprache der Zeit ein Monstrum sei" (ebd.: 506). Ebensosehr wird man heutzutage in die andere Richtung, ans Lebensende, denken müssen. Die Frage, ob da noch ein Mensch sei, oder nicht vielmehr ein Beatmungsbehälter, eine solche Frage verlangt nach einer definitiven Antwort (vgl. Lindemann 2002; Hitzler 2010). Aber auch wenn man sie gibt, transportiert sie inzwischen nur noch eine Ge-wissheit: dass sie unsicher, vorläufig und stets prekär ist. Vor allem aber ist diese Antwort eingebettet in einen sozialen Kontext. Die "Substanz" der Hirntoddefinition (vgl. Lindemann 2003) ergibt sich aus der Funktion, die sie für die medizinische Organtransplantation hat.
4. Der vermeintlich "unauflösbare Zusammenhang der Definition mit dem traditionellen Substanzbegriff" (ebd.: 510) ist nicht erst in unseren Tagen verblasst. Seit der Neuzeit, seit Hobbes (1994; vgl. Blumenberg 2006: 504ff.), ist die Kongruenz von Definition und Substanz durch den politischen Souverän unterbrochen worden. Daran zu erinnern bedeutet, im Schwinden der Substanz auch das Schwinden einer Schranke zu bemerken, die einmal Einhalt zu gebieten versprach gegenüber einem Dezisionismus in Definitionsfragen. Selbstbeschränkung gehört nicht zum Tugendkatalog eines Souveräns. In der Moderne ist es vollständig unglaubwürdig geworden, dass "mit der Erreichung der Definition […] der Erkenntnisvorgang hinsichtlich der Grundfrage, was der Mensch sei, für abgeschlossen" (Blumenberg 2006: 510) erklärt werden könne. Auch die Erneuerung der philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Fischer 2008) ist nicht denkbar, ohne wenigstens die vordergründige Aufkündigung der Identität von Definition und Substanz. Der Satz Max Schelers (1955) demzufolge die Undefinierbarkeit zum Wesen des Menschen gehört, lässt die Definition in der Substanz und diese wiederum in jener verschwinden. Nicht also, dass es sich bei Schelers Satz um eine Paradoxie handelt, wäre an sich schon bemerkenswert. Treffender scheint vielmehr die Beobachtung Blumenbergs (2006: 511) zu sein, dass es sich bei diesem Satz um die Parodie einer Definition handelt. Von seiner äußeren Form her, so Blumenberg, imitiere Schelers Satz eine Definition, löse sie aber nicht ein. Was hier fehlt sind Kriterien für eine nominale (Extension und Intension) oder reale Grenzziehung (differentia specifia) des Begriffs. In dieser Hinsicht kommt sich Schelers Satz mit dem Nietzsches (1999: 81), demzufolge der Mensch das noch nicht festgestellte Tier sei, nicht nur nahe, sie stehen ihrerseits in einer Wahlverwandtschaft mit einer ganzen Reihe anderer, von Blumenberg als "Definitionsessays" bezeichneter Aussagen über den Menschen (Blumenberg 2006: 512ff.). Wenn ihnen hier noch eine weitere hinzugesellt werden soll, dann einesteils deswegen, um daran zu zeigen, dass es sich bei all diesen Versuchen um eine spezifisch moderne Neigung handelt, anstelle einer abschließenden Definition einen weiteren Eintrag auf einer schier unendlichen Liste zu machen; andernteils soll dieser Satz aber auch deswegen angefügt werden, weil es sich bei ihm nicht nur um eine Metapher, sondern um die Inversion dessen handelt, was an den Anfang des abendländischen Nachdenkens über den Menschen gehört. Platons (kürzere) Dihairese hat im Politikos (266e) dazu geführt, eine dürre Definition des Menschen als zweibeiniges ungefiedertes Tier zu geben. Im rumänischen Volksmund, der bei Herta Müller zur Weltliteratur geworden ist, heißt es dagegen vollmundiger: "Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt". Für beide Sätze gilt, was Blumenberg (2006: 512) zufolge für Definitionsessays insgesamt gilt: Es sind Ausdrücke der Verlegenheit, den Menschen zu definieren.
5. Wenn sich in der Moderne eine Definition des Menschen nur als ihre Parodie wiederholen lässt, dann verlangt die Preisgabe jeder ernsthaften Definition eine Umbesetzung der Leerstelle, die ihr Wegfall provoziert hat. Der Existenzialismus erscheint insofern nicht nur als Vorbehalt gegenüber einer philosophischen Anthropologie, sondern als (Not-)Lösung des Problems, nicht nur nicht sagen zu wollen, sondern vor allem: nicht sagen zu können, was der Mensch sei. Nur eine Definition des Menschen wird jetzt noch akzeptiert - die Selbstdefinition. Dass die Existenz der Substanz vorhergeht und insofern das Wesen des Menschen nicht fest-, sondern ihm bevorsteht, einen solchen Satz mit Sartre (2000) zu sagen heißt nichts anderes, als gesellschaftliche Großtthemen wie "Freiheit" und Geschichte" zu einem existentialistischen Theorem zusammenzuziehen, von dem es allerdings nur so aussieht, als ob allein dadurch bereits ein Einwand gegenüber der Möglichkeit von Anthropologie formuliert wäre. Denn wenn der Mensch dasjenige Wesen ist, das sich in seinem und durch seinen Lebensvollzug selbst definiert, dann bedeutet dies keine Überwindung der Anthropologie, sondern deren Fortsetzung - nicht als Antwort, sondern als Frage.


Michael Corsten und Michael Kauppert sind Professoren für Soziologie an der Universität Hildesheim.


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