Crombie Wer Blut vergießt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-09967-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 15, 448 Seiten
Reihe: Die Kincaid-James-Romane
ISBN: 978-3-641-09967-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
London an einem eiskalten Tag im Januar: Detective Inspector Gemma James und ihre Assistentin Detective Sergeant Melody Talbot werden zu einem Tatort gerufen: Rechtsanwalt Vincent Arnott liegt tot in einem Hotelbett - nackt und mit gefesselten Händen und Füßen. Ein Sexspiel mit tödlichem Ausgang oder ein Verbrechen? Als jedoch kurz darauf ein weiterer Anwalt auf dieselbe Weise zu Tode kommt, ist klar, dass es sich um Mord handelt. Haben es Gemma und Melody mit einem Serienmörder zu tun?
Deborah Crombies höchst erfolgreiche Romane um Superintendent Duncan Kincaid und Inspector Gemma James von Scotland Yard wurden mit dem 'Macavity Award' ausgezeichnet und für den 'Agatha Award' und den 'Edgar Award' nominiert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie im Norden von Texas, verbringt aber viel Zeit in England, wo ihre Romane angesiedelt sind.
Weitere Infos & Material
1
Crystal Palace ist ein Bezirk von Süd-London zwischen Dulwich, Croydon und Brixton. Der Name ist mit vielen verschiedenen Dingen in Verbindung gebracht worden. Geprägt wurde die Bezeichnung »Crystal Palace« von der Zeitschrift Punch für das Gebäude der Großen Weltausstellung von 1851 – eine Konstruktion aus Eisen und Glas, entworfen von Joseph Paxton, die 1854 im Crystal Palace Park neu errichtet und am 30. November 1936 durch einen Brand zerstört wurde.
www.crystalpalace.co.uk
Crystal Palace, August, fünfzehn Jahre zuvor
Er saß auf den Stufen vor der Eingangstür des Hauses in der Woodland Road und zählte die Geldscheine, die er in der Keksdose aufbewahrte – alles, was vom Lohn seiner Mutter übrig war. Mit gerunzelter Stirn zählte er noch einmal nach. Es fehlten zehn Pfund. Oh, verdammt. Sie hatte das neue Versteck gefunden und es geplündert. Schon wieder.
Er blinzelte, als ihm plötzlich die Tränen in die Augen schossen, und rieb sich mit dem Handrücken die Nase, während er gegen die Panik ankämpfte, die sich in seiner Magengrube ausbreitete.
Nicht nur Panik, auch Hunger. Es war erst Mittwoch, und den nächsten Lohn bekam sie erst am Samstag. Wie sollte er sie beide von dem bisschen Geld, das noch übrig war, bis dahin ernähren? Dabei rührte seine Mum die Eier mit Toast, die er ihr morgens zum Frühstück machte, sowieso kaum an. Und wenn sie einmal im Pub angefangen hatte, schien sie sich nur noch von Zigaretten und ab und zu einem Teller Pommes frites zu ernähren.
Pommes. Sein Magen knurrte. »Ruhe da unten«, sagte er laut. Er könnte sich zum Abendessen Toast mit Marmite machen. Und nächste Woche würde er sich ein besseres Versteck für das Geld suchen.
In den letzten Monaten war er dazu übergegangen, am Samstagabend vor dem Pub auf sie zu warten, wenn sie ihren Lohn ausbezahlt bekam, auch wenn sie ihn dafür ausschimpfte, dass er sich so spät allein im Zentrum herumtrieb. Der Wirt, Mr Jenkins, drückte ihm das Geld direkt in die Hand, begleitet von einem Augenzwinkern und einem herzhaften Klaps auf den Rücken. Mr Jenkins war eigentlich ganz in Ordnung, auch wenn Andy sich sicher war, dass er etwas von dem Geld für die Drinks einbehielt, die seine Mum konsumierte.
An den Abenden, an denen sie torkelnd nach Hause kam, dachte er lieber nicht viel darüber nach, woher sie das zusätzliche Geld hatte. Und er dachte auch lieber nicht darüber nach, was passieren würde, wenn er nach den Sommerferien wieder in die Schule musste. Er würde nicht zu Hause sein, wenn sie aufwachte, würde nicht dafür sorgen können, dass sie etwas aß, nicht darauf achten, dass sie wenigstens bis zum Beginn ihrer Schicht nüchtern blieb.
In letzter Zeit schien es mit ihr immer schlimmer zu werden, und wenn sie ihren Job verlor … Er schüttelte den Kopf und weigerte sich schlicht, in diese Richtung auch nur zu denken.
Irgendetwas würde ihm schon einfallen. Ihm war noch immer etwas eingefallen. Vielleicht könnte er ja irgendeinen Job kriegen; immerhin war er schon dreizehn.
Er blinzelte wieder, diesmal aber, weil ihm der Schweiß in die Augen rann. Die Sonne war noch nicht hinter den Häusern auf der Westseite der Woodland Road versunken, und es war heiß hier auf der Treppe, aber in ihrer Erdgeschosswohnung war es auch noch stickig.
Außerdem machte es ihm Spaß, das nachmittägliche Kommen und Gehen auf der Straße zu beobachten. Und einfach die Aussicht zu genießen. Die steile Straße, in der sie wohnten, bot einen schäbigen Anblick; die meisten Häuser waren in schlechtem Zustand, einige standen gar leer. Doch wenn er nach Norden schaute, den Hang hinunter, konnte er eine grüne Fläche durch den Dunst schimmern sehen. Das war London, und er wusste, dass gleich unterhalb seines Blickfeldes die Biegung der Themse lag.
Wenn er zum oberen Ende der Straße hinaufstieg, konnte er das Herz der großen Stadt sehen, flimmernd wie eine Fata Morgana. Eines Tages würde er dort leben – dort, wo immer etwas los war. Er würde diesem todlangweiligen Crystal Palace den Rücken kehren, und er würde seine Mum mitnehmen. Wenn sie woanders wohnten, würde sie vielleicht noch einmal die Kurve kriegen.
Aufgemuntert durch diesen Gedanken überlegte er sich die Sache mit dem Marmite-Toast noch einmal. Im Schrank war noch eine Dose Baked Beans – die könnte er sich stattdessen warm machen und sich danach den Schokoriegel genehmigen, den er gebunkert hatte.
Der Nachmittag zog träge dahin; alles war totenstill, bis auf das Knurren seines Magens. Er hatte gerade beschlossen, dass er das Abendessen nicht länger hinausschieben konnte, als er vom unteren Ende der Straße das Knirschen eines Getriebes hörte. Ein kleines Auto kam den Berg heraufgetuckert. Er erkannte es wieder – es war ein VW, der schon bessere Tage gesehen hatte.
Als der Wagen vor dem Haus nebenan am Bordstein hielt, erkannte er auch die Fahrerin. Es war ihre neue Nachbarin – eine Witwe, hatte seine Mutter ihm erklärt, obwohl er fand, dass die Frau, die jetzt aus dem Auto stieg, für eine Witwe viel zu jung aussah. Eher wie die große Schwester von irgendwem, mit ihrem geblümten Sommerkleid und den sanft gewellten braunen Haaren.
Die beiden Häuser waren symmetrisch, und die Haustüren lagen direkt nebeneinander, sodass er die Frau, als sie jetzt die Stufen hinaufging, fast hätte berühren können. Sie war mit einer Einkaufstüte beladen, und er überlegte kurz, sie zu fragen, ob sie Hilfe brauche, doch er war zu schüchtern.
Dann aber, als sie auf seiner Höhe war, fing sie seinen Blick auf und nickte. Es war ein ernsthaftes Nicken, eine Begrüßung wie unter Erwachsenen. Er erwiderte sie.
Sie nahm die Einkaufstüte in die andere Hand, um in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel zu kramen, doch als sie ihn gefunden und ins Schloss gesteckt hatte, hielt sie inne. »Heiß heute, nicht wahr?«, sagte sie.
Sie sprach diesen kleinen Satz mit solcher Ernsthaftigkeit aus, dass er fand, er verdiene eine angemessen kluge Erwiderung. Aber leider war sein Mund mit einem Mal wie ausgetrocknet, und die Zunge klebte ihm am Gaumen. »Hier draußen ist es kühler«, brachte er schließlich krächzend heraus.
Sie schien darüber nachzudenken. »Was ist mit eurem Garten?«, fragte sie. »Da müsstet ihr doch um diese Tageszeit Schatten haben.«
»Da hinten gibt es nichts zu sehen.« Ihre Wohnung hatte Zugang zu dem langen, schmalen Garten hinter dem Haus, aber er war verwahrlost und von Unkraut überwuchert. Gartenarbeit gehörte nicht gerade zu den Stärken seiner Mutter.
»Das stimmt allerdings.« Ihr Lächeln war flüchtig und unpersönlich, und er war sich sicher, dass sie ihn für einen Schwachkopf halten musste. Doch als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte, blickte sie sich noch einmal zu ihm um, als ob sie einem plötzlichen Impuls folgte. »Übrigens«, sagte sie, »ich bin Nadine. Ich habe kalte Limonade im Kühlschrank. Ich könnte dir eine rausbringen, wenn du magst.«
Es gab doch kaum etwas Schöneres als so einen knackig kalten Wintertag im Hyde Park, dachte Duncan Kincaid.
Schon als kleiner Junge in Cheshire hatte er die winterkahlen Bäume vor dem Hintergrund des klaren, blassblauen Himmels der üppigen Pracht des Sommers vorgezogen. Und offensichtlich war er nicht der Einzige, der den ersten schönen Tag nach zwei Wochen scheußlichsten Januarwetters genießen wollte – der Park war voll von Menschen, die joggten, ihre Hunde ausführten oder mit ihren Kindern spazieren gingen.
Er selbst gehörte sozusagen zu allen drei Kategorien gleichzeitig.
»Papa«, sagte Charlotte in ihrem Buggy, »ich will die Pferde sehen.«
»Du willst immer die Pferde sehen«, neckte er sie. Seit einiger Zeit sagte sie Papa zu ihm. Nicht Dad, wie Kit, oder Daddy, das Wort, das Toby abwechselnd mit Duncan benutzte. Er hatte Louise Phillips, die Anwaltskollegin von Charlottes verstorbenem Vater, gefragt, ob Charlotte Naz so genannt habe, doch sie hatte verneint; aus Charlottes Mund habe sie immer nur das pakistanische Abba gehört. Dann musste sie den »Papa« wohl aus einem ihrer Bilderbücher haben – vielleicht sogar aus Alice im Wunderland, das immer noch ihre Lieblingsgeschichte war. Inzwischen hatten sie es schon so oft gelesen, dass er glaubte, jeder einzelne Satz müsse sich unauslöschlich in sein Gehirn eingebrannt haben.
»Pferde sehen«, fügte Charlotte kichernd hinzu. »Pferde sehen ist besser als Fernsehen.« Für eine Dreijährige hatte sie schon einen ausgeprägten Sinn für Humor und konnte sich besonders über Sprachspielereien amüsieren. »Bob will auch Pferde sehen«, stellte sie sodann fest und setzte sich ihren zerrupften Plüschelefanten auf dem Schoß zurecht, damit er die Aussicht besser genießen konnte. Charlotte hatte anfangs gegen den Kinderwagen protestiert und darauf beharrt, sie sei alt genug, um selbst zu gehen, und Kincaid hatte sie nur überzeugen können, indem er erklärt hatte, Bob würde doch sicher gerne in einem Buggy fahren, der auch »Bob« hieß – eine Marke, die bei den jungen Eltern von Notting Hill sehr beliebt war.
Kincaid verlangsamte seinen Schritt auf Spaziergeschwindigkeit, und selbst Geordie, der Cockerspaniel, schien...