E-Book, Deutsch, 286 Seiten
Cueni Dirty Talking
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-907339-87-9
Verlag: Edition Königstuhl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 286 Seiten
ISBN: 978-3-907339-87-9
Verlag: Edition Königstuhl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Claude Cueni, geboren in Basel, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Kolumnist. Er schrieb Romane, Theaterstücke, Hörspiele und über 50 Drehbücher für Film und Fernsehen (Tatort, Peter Strohm, Eurocops). Für seinen autobiografischen Roman 'Script Avenue' verliehen ihm die Zuschauer des Schweizer Fernsehens 2004 den 'Golden Glory' für die berührendste Geschichte des Jahres. Zuletzt erschienen 'Genesis - Pandemie aus dem Eis' (2020) und 'Hotel California' (2021).
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Wilson wohnte an der Allschwilerstrasse 97, wenige Minuten von der Kantonsgrenze entfernt, die jedoch niemand wahrnahm, da die Strassenbahn noch einige Haltestellen weiterfuhr bis dicht an die französische Grenze. Nachdem aus dem Häuschen im Grünen nichts geworden war, hatte er in diesem Aussenquartier eine Zweizimmerwohnung gemietet, die genauso heruntergekommen war wie seine aktuelle Gemütsverfassung. Wilson vermisste die Natur, aber ohne Freundin waren auch die natürlichsten Dinge im Grünen nicht möglich und onanieren konnte er auch in einer Badewanne mit Klauenfüssen. Im Haus wohnten alleinstehende Senioren, Witwen und ein alternatives Paar, das die Stoffwindeln ihres Babys in der gemeinschaftlichen Waschmaschine wusch, um die Welt zu retten. Wilson wohnte auf der gleichen Etage wie sein 95-jähriger Nachbar Aaron Friedmann. Er war das, was seine Glaubensbrüder jiddisch »a mensch« nannten, ein gütiger und nobler Rentner, der, obwohl von der Altersarmut stark betroffen, nicht den Glauben an einen allmächtigen und gerechten Gott verloren hatte. Erstaunlich, hatte Friedmann doch als Teenager das Konzentrationslager Birkenau überlebt. Einmal die Woche schob er Wilson einen Einkaufszettel unter die Wohnungstür. An jenem Tag war es wieder so weit. Er bestellte immer das Gleiche, und aus unerfindlichen Gründen schrieb er den Zettel immer wieder neu.
Seit Wilson wieder alleine lebte, schätzte er die einfache Küche. Er raspelte jeweils eine Kartoffel, schnitt drei Tomaten, eine Peperoni, hakte Zwiebeln und Knoblauch und mischte das Ganze mit geriebenem Käse, Chili, Pfeffer und Salz. Nach zwanzig Minuten im Backofen schlang er sein Essen im Akkord hinunter, rülpste wie ein Tier, tigerte im Wohnzimmer herum, setzte sich an den Schreibtisch und starrte auf seine beiden iPhones 13 und 14. Keine Anrufe. Die neusten Apple-Versionen würde er sich nicht mehr leisten können. Das 13er-iPhone hatte auf dem roten Case einen mittelalterlichen Hofnarren abgebildet, das 14er-Modell war schwarz und ohne Bild. Wilson rief Georgette Decastel vom Kleintheater Satyricon an. Ob sie Interesse habe, dass er bei ihr auftrete? Vielleicht ein andermal. Das bedeutet in der Branche so viel wie fuck you. Wilson spürte den zunehmenden Druck im Oberbauch. Insgeheim hatte er damit gerechnet, oder wenigstens gehofft, Georgette Decastel würde ihn mit offenen Armen willkommen heissen, schliesslich hatte er einst eine gute Beziehung zu ihrem Vater gehabt und ihr, als sie noch klein war, stets Luxemburgerli von Sprüngli mitgebracht, aber die Süssigkeiten waren längst gegessen und ausgeschieden. Wilson überlegte, wie er nach der letzten Lohnzahlung in drei Monaten über die Runde kommen sollte. Gerne hätte er mit Mady darüber gesprochen, aber Mady war nicht mehr da. Wilson brauchte dringend neue Einnahmequellen. Nicht nur für sich. Er hatte Verpflichtungen. Jeden Monat brachte er seinen verkoksten Eltern eine Tüte Medikamente und vierhundert Franken in bar. Und das, obwohl sie ihn für einen Loser hielten. Ausgerechnet sie! Würde er seine familiäre Sozialhilfe einstellen, wären sie in ihrem Urteil bestätigt. Aus unerfindlichen Gründen wünschte er sich dennoch ihre Anerkennung. Er träumte manchmal davon, dass er ein erfolgreicher Stand-up-Comedian war und seine Eltern bekifft im Zuschauerraum sassen und applaudierten. Und manchmal, wenn er seine Gags in die Tastatur haute, wünschte er sich, seine Mutter wäre dabei und würde ihn für sein flinkes Tippen bewundern. Ratlos blieb Wilson vor seinem Bücherregal stehen. Brauchte er diese Bücher noch? Er hatte sie alle gelesen, einige mehrmals. Mit staubigen Bücherwänden konnte man heute eh keine Frau mehr beeindrucken. Heute zählten Followers. Wilson rief einige Buchantiquariate an. Sie wollten die Bücher nicht. Nicht einmal geschenkt: Sie klagten, Verlage würden sie mit unverkauften Restexemplaren zumüllen und die Kundschaft sterbe aus, gedruckte Bücher seien immer weniger gefragt. Ja, sagte Wilson, »Print ist out«. Er schaute sich weiter nach Verwertbarem um. Auf einem Bücherregal stand eine Bronzefigur von Frédéric Auguste Bartholdi, dem Schöpfer der Freiheitsstatue. Sie zeigte den gallisch-keltischen Arverner Fürst Vercingetorix, der mit seinem Pferd einen am Boden liegenden römischen Legionär niedertrampelt. Wilson hatte die Bronzestatue vor vielen Jahren auf einem Pariser Flohmarkt gekauft. Sie bedeutete ihm viel. Sie erinnerte ihn an unbeschwerte Zeiten, als die Zukunft schier grenzenlos schien und alte Menschen zu einer unbekannte Rasse gehörten. Wilson beobachtete ihn eine Weile, als würde er erwarten, dass Vercingetorix seinen Sockel verlässt und ihm beisteht. Jetzt, wo er mit dem Gedanken spielte, die Bronze zu verkaufen, fiel ihm auf, wie schön die braune Patina geworden war. Wahrscheinlich schätzt man Dinge erst, wenn man sie verloren hat. Wilson glaubte, das sei auch in Beziehungen so. Er vermass die Bronze: 37,5 Zentimeter hoch, 37 Zentimeter breit. Er googelte auf seinem iPad Antiquitätengeschäfte und rief einen nach dem andern an. Die meisten hatten kein Interesse, sagten, solche Dinge gebe es wie Sand am Meer. »Diesen Strand möchte ich sehen!«, entfuhr es Wilson nach der fünften Absage. Er wollte schon aufgeben, als ein François Bertrand lauwarmes Interesse zeigte, endlich. Wilson solle die Figur vorbeibringen, er sei noch bis vier Uhr im Laden. Wilson nahm eine Dusche, genoss das kalte Nass und zog frische Kleider an, schwarzes T-Shirt, schwarze Trainerhosen mit gelbem Puma-Logo und darüber seine in die Jahre gekommene braune US-Army-Jacke.
Das Antiquariat lag am unteren Petersgraben gegenüber dem Basler Universitätsspital. Wilson betrat das Geschäft. Ein kahlköpfiger Mann um die 50 kniete vor einer Kiste und packte kleine Blechautos aus. Er trug eine schwarze Hose, weisses Hemd, ein schwarzes Gilet darüber und einen übertriebenen Moustache unter seiner Knollennase. Den Wänden entlang waren Kisten, Schachteln und Truhen aufeinandergestapelt, einige enthielten Kitsch und Kleinkram, den man aus Trödelmärkten kannte. Wilson stellte seinen Vercingetorix auf einen beigen Küchentisch aus den 1960er-Jahren und sagte, sie hätten vor einer Stunde telefoniert. François Bertrand erhob sich und klagte, die jungen Leute hätten heute keinen Sinn mehr für Antiquitäten, die rennen alle zu Ikea. »Nicht alle«, wandte Wilson ein, »sonst wären Sie längst pleite. Wir haben ein junges Paar im Haus, die kaufen dem Klima zuliebe nur altes Zeug. Why not?«
Bertrand zwinkerte Wilson zu und reichte ihm freundlich die Hand. Sein Blick fiel auf den berittenen Vercingetorix. Er schielte zu Wilson, als wolle er einschätzen, ob Wilson ein Kenner war und welchen Preis er ihm dafür anbieten könne. Seine Augen waren permanent in Bewegung, als leide er an einer kindlichen Aufmerksamkeitsstörung. Ein bisschen Danny DeVito als Trödler mit Moustache. Bertrand wog die Bronze in den Händen und sagte mit einem Anflug von Bedauern, er habe schon manche Bartholdi-Statue im Laden gehabt, die würden sich gut verkaufen, aber den Vercingetorix, hm, den gebe es …«
»… wie Sand am Meer?«
Bertrand hob überrascht den Kopf und schmunzelte, er wolle auf keinen Fall den Preis drücken, aber dieses Exemplar sei von der Giesserei Barbedienne in Rouen, 1898, »ihre Kopien sind nicht gerade selten, die waren damals sehr beliebt und entsprechend verbreitet. Man findet sie in Frankreich in fast jedem gehobenen Nachlass. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Alten verarmen. Sie verkaufen ihre Bronzen bereits zu Lebzeiten. Essen wie Gott in Frankreich, das war mal. Was wollen Sie dafür?«
»Viertausend.«
»Puhh …« Bertrand schüttelte theatralisch den Kopf, als sei er plötzlich von einem Kälteschauer befallen und gab Wilson die Bronzefigur zurück: »Ich mache vor allem Nachlässe, Räumungen und ab und zu ist was Interessantes dabei, den Rest verramsche ich hier im Laden. Haben Sie noch was anderes?«
Bobby Wilson zuckte die Schulter.
»Was sich gut verkauft, sind hochpreisige Gemälde und Bronzen. Die Reichen fliehen in teure Sachwerte. Objekte unter fünfzigtausend sind keine Kapitalanlage.«
»Dreitausend?«, fragte Wilson verunsichert.
Bertrand begutachtete die Bronze erneut: »Im 19. Jahrhundert haben in Frankreich viele Giessereien Kopien hergestellt, das Original befand sich zur Zeit Napoleons in Paris, bis es 1815 wieder nach Rom zurückgebracht wurde.«
»Zweitausend?«
Bertrand reichte Wilson die Bronzefigur erneut zurück: »Ich würde die Bronze auf eBay stellen, da kriegen Sie vielleicht zweihundert, zweihundertfünfzig.«
»Wie viel würden Sie denn bezahlen?«
Bertrand zupfte an seinem Schnurrbart: »Dreihundert, aber auch das ist zu viel, also höchstens dreihundert.«
»Vierhundert cash.«...




