E-Book, Deutsch, 353 Seiten
Dachwitz / Hilbig Digitaler Kolonialismus
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-82303-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen
E-Book, Deutsch, 353 Seiten
ISBN: 978-3-406-82303-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ingo Dachwitz ist Kommunikationswissenschaftler und arbeitet als politischer Tech-Journalist für das Investigativmedium netzpolitik.org. Auf seine Expertise zur Ethik der Digitalisierung griffen in den vergangenen Jahren unter anderem das Bundeskanzleramt und die Evangelische Kirche in Deutschland zurück. Für seine Recherchen zur globalen Datenindustrie wurde er 2024 mit dem Alternativen Medienpreis und dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
Sven Hilbig ist Rechtswissenschaftler und Experte für Digitalisierung und Handelspolitik bei der gemeinnützigen Organisation Brot für die Welt. Gemeinsam mit Partnern aus dem Globalen Süden engagiert er sich gegen neue Formen des Kolonialismus. Seit Jahren begleitet er als einer der wenigen in Deutschland den Prozess der Welthandelsorganisation für ein neues Abkommen zum digitalen Handel. Er publiziert regelmäßig in den Blättern für deutsche und internationale Politik.
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Einleitung: Des Kolonialismus neue Kleider
Revolution. Wohl kaum ein Wort wird in Bezug auf die Digitalisierung so inflationär verwendet wie dieses. Fragt man ChatGPT, wem wir die «digitale Revolution» zu verdanken haben, listet der Chatbot die Namen einiger Männer aus Europa und den USA auf.[1] Etwa Tim Berners-Lee, den «Erfinder des World Wide Web» und Linus Torvalds, den «Schöpfer» des Betriebssystems Linux. Außerdem Bill Gates, Steve Jobs und Gordon Moore, die Mitgründer der einflussreichen Tech-Konzerne Microsoft, Apple und Intel.
Allerdings, so räumt der Chatbot ein, könne er unmöglich alle Menschen aufzählen, denen wir den digitalen Fortschritt zu verdanken haben. Es braucht wenig Fantasie, um sich auszumalen, welche Namen das Programm noch nennen würde. Da wäre zum Beispiel Mark Zuckerberg, der Gründer von Facebook und Chef des größten Social-Media-Konzerns der Welt. Sergey Brin und Larry Page dürfen nicht fehlen, die genialen Standford-Studenten, die mit Google die wichtigste Suchmaschine der Welt erfanden und heute den meistgenutzten Browser, den meistgenutzten E-Mail-Dienst, das meistgenutzte Navigationsprogramm und Smartphone-Betriebssystem anbieten. Vergessen wir auch nicht Jeff Bezos und Elon Musk, die mit ihren Unternehmen Amazon und Tesla den Einzelhandel und die Elektromobilität «revolutionierten».
ChatGPT gibt die Infos wieder, mit denen es gefüttert wurde. Und die Erzählungen, die wir uns seit drei Jahrzehnten über die Digitalisierung anhören müssen, sie klingen nun mal fast immer gleich: Zu verdanken haben wir den digitalen Fortschritt genialen Informatikern und gewieften Unternehmern, die in ihren Forschungslaboren, Garagen und Studentenzimmern – manchmal in Europa, meistens in den USA – Dinge erfanden, die unsere Welt auf den Kopf stellten. Die uns Computer und Betriebssysteme, Smartphones, Soziale Medien und Shopping-Plattformen brachten. Es geht in diesen Erzählungen um die «Revolution des Cloud-Computing», um die «vierte industrielle Revolution» und, na klar: um die «KI-Revolution», die seit der Veröffentlichung von ChatGPT Ende 2022 in aller Munde ist.
Kein Platz ist in den Erfolgsgeschichten des Silicon Valley für die Menschen, die mit ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, dass ein Programm wie ChatGPT überhaupt funktionieren kann: die outgesourceten Arbeitskräfte, die in Ländern des Globalen Südens Künstliche Intelligenz trainieren und Soziale Medien moderieren. Es ist auch kein Platz für Menschen, die in der Demokratischen Republik Kongo in Minen schuften und Kobalt abbauen, das für die materielle Basis der Digitalisierung derzeit unverzichtbar ist. Für all diejenigen, die als Datenlieferanten und Versuchsobjekte dienen, um die Produkte der Tech-Konzerne zu verbessern.
Und noch etwas fehlt in den gängigen Erzählungen von der digitalen Revolution: eine Erklärung, was eigentlich genau mit dem Begriff gemeint ist. So oft haben wir die großen Versprechen vom digitalen Fortschritt durch Digitalisierung gehört – von Befreiung, Nachhaltigkeit und Wohlstand für alle –, dass viele sie nicht mehr hinterfragen. Doch nicht alles, was Veränderung bringt, ist eine Revolution. Oder hat die Digitalisierung der Welt etwa Freiheit, Gleichheit und Solidarität gebracht? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Weltweit sind Freiheit, Menschenrechte und Demokratie auf dem Rückzug. Im Jahr 2024 hatten nur noch 14 Prozent aller Menschen die Möglichkeit, ungehindert ihre Meinung zu sagen, sich zu versammeln und gegen Missstände anzukämpfen. Zwei Drittel der Menschheit lebten in Staaten mit unterdrückter oder geschlossener Zivilgesellschaft, konstatiert der jährliche Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt.[2]
Zugleich ist die Digitalisierung verbunden mit dem Aufstieg einer neuen Klasse von Herrschern, die mithilfe von Daten, Künstlicher Intelligenz und digitalen Diensten globale Imperien errichten. Mit dem Siegeszug des Internets haben sie sich an die Spitze der Weltwirtschaft gesetzt. Längst sind Alphabet, Amazon, Apple, Meta und Microsoft, die sogenannten Big Five des Silicon Valley, die wertvollsten Unternehmen der Welt. Zusammen mit dem Chiphersteller NVIDIA kommen sie Mitte 2024 auf einen Marktwert von 13,5 Billionen Euro.[3] Die Entscheidungen, die die Tech-Herrscher in ihren Unternehmenszentralen treffen, haben Folgen für das Wohl von Milliarden Menschen, für die Stabilität von Staaten und den Zustand der Demokratie. Es ist eine Verantwortung, der sie nicht gerecht werden, was insbesondere die Menschen im Globalen Süden zu spüren bekommen.
Tatsächlich müssen wir erkennen, dass die Digitalisierung sich als erstaunliches Instrument erwiesen hat, um eine Machtordnung fortzuschreiben, die mehr als 500 Jahre alt ist: die des Kolonialismus. Seit vielen Jahren weisen Forscher:innen, Aktivist:innen und Künstler:innen aus dem Globalen Süden darauf hin, dass die Eroberungszüge der Tech-Konzerne kolonialen Mustern folgen und diese mit neuen Mitteln fortsetzen.
Unser Buch folgt diesen anderen Erzählungen der Digitalisierung. Statt um Revolution geht es darin um Ausbeutung, um Herrschaft und Unterdrückung. Es ist die Geschichte eines neuen Kolonialismus, der auf den Spuren des alten wandelt: die des digitalen Kolonialismus.
Vom Kolonialismus zum digitalen Neo-Kolonialismus
Als Kolonialismus wird gemeinhin eine historische Periode bezeichnet, die vor mehr als einem halben Jahrhundert ihr Ende fand. Dieser Lesart zufolge begann das Zeitalter des Kolonialismus mit der «Entdeckung» Amerikas durch den Seefahrer Christoph Kolumbus 1492 und endete mit der formalen Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die knapp 500 Jahre dazwischen sind geprägt von der brutalen militärischen Eroberung der beiden Amerikas, der Karibik, Afrikas und von Teilen Asiens durch europäische Mächte wie Spanien, Portugal, Belgien, die Niederlande, Frankreich, England und nicht zuletzt Deutschland. Insbesondere zur Hochzeit des europäischen Imperialismus im ausgehenden 19. Jahrhundert galt der Besitz von Kolonien vielen in Europa nicht nur als Statussymbol, sondern geradezu als Notwendigkeit und naturgegebener Zustand. In Zahlen: Während die Europäer:innen im Jahr 1800 etwa 35 Prozent der Landoberfläche kontrollierten, hatte sich dieser Anteil bis 1878 auf 67 Prozent erhöht. 1914 beherrschte Europa 84 Prozent der Landgebiete dieser Welt.[4]
Dabei teilten sich die kolonialen Großmächte den Globalen Süden mit seinen Menschen und Rohstoffen als Beute auf. Sie etablierten einen transatlantischen Menschenhandel in nie dagewesenem Ausmaß, der allein beim Transport der versklavten Afrikaner:innen Millionen Todesopfer forderte.[5] Um dies zu rechtfertigen, entwickelten die Kolonialmächte ausgehend von der Aufklärung eine ideologische Wissensordnung – zu der auch vermeintlich wissenschaftliche Rassentheorien gehörten –, die die Überlegenheit weißer Menschen belegen und die Ausbeutung des Globalen Südens als zivilisatorische Mission rechtfertigen sollte. Nicht zuletzt war der Kolonialismus Motor für die Entstehung eines einseitig dominierten Welthandels und eines rassistisch geprägten globalen Kapitalismus, in dem Regierungen und private Unternehmen wie die britische Ostindien-Kompanie oder die spanische Casa de la Contratación de Indias in einer Art Vorläufer moderner Private-Public-Partnerships zusammenarbeiteten, um den Globalen Süden auszubeuten. Die wirtschaftlichen Effekte des Kolonialismus brachte der guyanische Historiker Walter Rodney am Beispiel seines Heimatkontinents auf eine einfache, aber treffende Formel: Europa hat Afrika unterentwickelt.[6]
Formell gehört der Kolonialismus heute zwar der Vergangenheit an, doch prägt er unsere Welt bis heute. Er lebt fort in Wissenshierarchien, die an der europäischen Aufklärung ausgerichtet sind und nicht nur das oral vermittelte Wissen vieler indigener Gemeinschaften unsichtbar machen. Er überdauert in einem Wirtschaftssystem, in dem nicht-weiße Menschen noch immer strukturell benachteiligt und ausgebeutet werden. Auch die globalen Machtverhältnisse sind bis heute von kolonialen Strukturen...