E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Dam Tausend Väter
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2127-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2127-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nhung Dam, geboren 1984, wuchs in Groningen auf. Ihre Eltern kamen Anfang der 1980er Jahre als Bootsflüchtlinge in die Niederlande und eröffneten einen der ersten Verkaufsstände für Frühlingsrollen. Nhung Dam studierte zuerst Psychologie, bevor sie die Theaterschule und Kleinkunstakademie in Amsterdam besuchte. Sie ist Schauspielerin und Theaterautorin, spielte in meheren Theater-, Film- und Fernsehproduktionen mit (z.B. drei Jahre in der Kindersendung 'Villa Achterwerk'). Viele ihrer Bühnenstücke sind ins Deutsche und Englische übersetzt worden. Zu ihrem Debütroman 'Tausend Väter' inspirierte sie ihre eigene Familiengeschichte.
Weitere Infos & Material
1
Kaum war mein Vater fort, ging es los mit dem Ärger. Seither kam die Spinnerin ständig zu uns. Sie schnüffelte und schnaubte; wie ein Bluthund roch sie, dass kein Mann mehr im Haus war. Wie immer ging es um das Hin und Her von Besitz, um das Zählen von Münzen, um das Abzeichnen von Grundstücken.
Die Spinnerin kannte keine Skrupel. Mit lauter Stimme drohte sie, die Tür einzutreten. Meine Mutter versteckte sich in der Speisekammer, ich sah ihre aufgestellten Nackenhaare. Dass ich vom Fenster wegsolle, zischte sie.
»Wenn du nicht aufmachst, setzt es was!«, schrie die Spinnerin und kratzte mit den Nägeln an den Fensterscheiben.
Bevor ich öffnete, sah ich noch rasch zu meiner Mutter. Aber die sagte nichts. Sie kauerte zwischen den Reis- und Bamisäcken. Auf ihrer Flucht hatte sie vergessen, die Tür hinter sich zuzuziehen. Ihr zitterndes Bein drückte gegen eine Schachtel mit getrockneten Shiitake-Pilzen.
Die Kammer war voller getrockneter Gewürze und Kräuter. Kurkuma, weißer Pfeffer, Zitronengras. Wenn man mit dem Fuß stampfte, wirbelten einem Staubwolken aus gemahlenem Zimt und Sternanis in die Nase, so viel und heftig, als ob man mitten in einem Sandsturm steckte. Die Weckgläser mit den tausendjährigen Eiern starrten mich mit großen Augen an, große weiße Augäpfel ohne Pupillen. Albträume bekam ich davon. Auf dem untersten Brett sah ich, wie sich die Schlange in dem mit brauner Flüssigkeit gefüllten Weckglas wand. Immer, wenn ich etwas aus der Kammer holen sollte, starrte ich ewig hin, ob sie lebte. Die gewundene Schlange, die den Kopf ans Glas drückte, schillerte in allen Farben des Regenbogens. Einmal im Monat füllte sich meine Mutter ein Gläschen braune Brühe ab. Die trank sie dann.
»Es ist meine Arznei«, sagte sie. »Dann fühle ich mich von innen besser.« Für mich war der Raum eine Hexenkammer. Voller Hexendinge. Es wollte mir nicht in den Kopf, dass Eidechsenschwänze oder eingerollte Schlangen einem ein besseres Gefühl geben sollten.
Die Spinnerin kam brüllend und polternd ins Haus, flankiert von zwei Männern. Jeden ihrer Schritte gingen sie im Gleichschritt mit. Die Männer hatte ich schon mal auf der Straße gesehen, zusammen mit den Chinesen. Die chinesische Mafia, das waren Männer mit Armen und Beinen aus zäher, trockener Schlangenhaut, denen Schnee und Kälte nichts anhaben konnten und die nie einen Wintermantel trugen.
Der Mann rechts von der Spinnerin war groß und kahl, mindestens zwei Köpfe größer als alle, die ich kannte, er musste sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen. Der andere war kleiner, das Haar hing ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Die Männer sagten nichts. Sie standen nur da.
»Wo – ist – deine – Mutter?«, fragte die Spinnerin.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber ich hütete mich, den Blick zur Speisekammer wandern zu lassen.
»Wir müssen über Besitz sprechen«, sagte sie. »Wo – ist – deine – Mutter?« Der große Mann krempelte die Ärmel hoch.
Keiner sagte etwas. Oft muss ich kichern, wenn es lange still bleibt, wie damals, als Mose in der Klasse erzählte, ihre Mutter wäre schwer krank. Aber jetzt nicht. Jetzt musste ich nicht lachen.
»Ich habe nichts. Ich besitze nichts«, drang plötzlich die Stimme meiner Mutter aus der Speisekammer. »Mein Mann hat alles mitgenommen. Ich habe nichts, ich besitze nichts.« Nur ihre Stimme war zu hören. Als wäre meine Mutter nicht da. Nur ihre Stimme. In diesem dunklen Loch.
»Und was ist das?« Die Spinnerin hielt unsere Vase hoch. Eine Vase aus Perlmutt, die als Prunkstück auf dem Fernsehschrank stand. Bei jedem Licht nahm sie eine andere Farbe an. Mal Blau, mal Gelb, aber meistens Weiß. Nie standen Blumen drin. Warum, weiß ich nicht. War sie zu schön, um benutzt zu werden?
»Nichts von dem, was du siehst, gehört mir«, sagte die Stimme. »Es ist nur eine Vase. Die Vase ist nicht von mir.«
»Und das hier?« Die Spinnerin hielt einen Teller aus Porzellan hoch, der als weiteres Prunkstück neben der Vase prangte. Ein weißer Porzellanteller mit dünnem Goldrand. Von dem Teller hatten wir noch nie gegessen. Warum, weiß ich nicht. Wir aßen mit den Händen und mit Stäbchen. Wir aßen von der Zeitung oder von Papptellern und schauten dabei auf den Porzellanteller.
»Der gehört mir nicht, auch der Teller ist nicht von mir«, sagte die Stimme. Die Spinnerin hielt zwei Tuben Sonnencreme hoch, die neben dem Porzellanteller standen. Sie waren das Allercoolste bei uns zu Hause. Zwei herrliche Tuben Sonnencreme, noch verpackt, von der Marke Clinique. Clinique. Ein Wort, das ich mehrmals am Tag im Vorbeigehen las.
»Gar nichts gehört mir. Mein Mann ist weggegangen und hat alles mitgenommen. Wir essen mit den Händen und schützen uns mit den Händen vor der Sonne. Das hier gehört mir alles nicht. Aber wenn du es mitnehmen willst, nimm es eben mit«, sprach die Stimme aus dem Dunkel.
Die Spinnerin beäugte die Vase, den Teller, die Sonnencreme. Sie sah die Männer an, doch die schüttelten den Kopf.
»Es ist nicht genug«, sagte sie. »Die Vase, der Teller, die Sonnencreme, das ist alles nicht genug.«
»Aber ich habe sonst nichts«, drang es leise aus der Kammer. Dann blieb es eine Zeit lang still. Aus dem schwarzen Loch kam nichts. Die beiden Männer sahen einander an. Ich hoffte, dass meine Mutter verschwunden war. Dass in der Kammer ein geheimer Ausgang war oder sie sich in Luft aufgelöst hatte. Alle drei schauten sich im Zimmer um, als sähen sie einer Fliege hinterher.
»Ich habe Nhung!«, sagte Mutter plötzlich, als wäre ihr die Erleuchtung gekommen. »Nimm Nhung mit. Sie ist bestimmt mehr wert als alles andere zusammen.«
Die Spinnerin musterte mich. Beide Männer wandten den Blick von der Speisekammer und sahen zu mir. Der kleine Schlangenmann kam auf mich zugeschlichen. Er hob mich hoch, wiegte mich ein paarmal hin und her und ein paarmal auf und ab. Mir blieb der Atem weg. Ich spürte seine trockene Haut an meinem Oberschenkel, und mein Magen zog sich zusammen, so wie es seltsame Wolken manchmal tun. Urplötzlich und scharf, als wüsste man, dass gleich etwas Furchtbares passiert. Ich hielt die Luft an, bis meine Lunge fast platzte.
»Es dauert nicht lange«, sagte die Stimme aus der Kammer. »Es ist doch nicht für die Ewigkeit. Nichts ist für die Ewigkeit. Alles kommt wieder zurück. Nimm sie mit und bringe sie wieder zurück. Wenn für dich die Sterne günstig stehen. Wenn du wieder mal gute Karten hast, dann bringst du sie einfach zurück. Du kriegst bestimmt bald gute Karten. Es geht gar nicht anders. Kein Mensch hat immer nur Pech. Aber jetzt geh bitte. Und nimm die Männer mit.«
Der kleine Mann wiegte mich noch ein paarmal und stellte mich dann wieder ab. Er schüttelte den Kopf. Er sah die Spinnerin an und schüttelte den Kopf.
»Ich habe den Garten als Einsatz gegeben«, sagte die Spinnerin. »Nhung ist nicht genug.« Meine Mutter fing an zu weinen und verfluchte mich, weil ich zu leicht war.
»Na gut! Dann nimm eben den verdammten Garten«, sagte sie.
Die Spinnerin hatte also gerade unseren Garten beim Blackjack verspielt. Oder besser gesagt: Sie hatte ihren eigenen Garten als Einsatz geben wollen, aber der gehörte ihr nicht mehr, den hatte sie schon beim Roulette verspielt, und so hatte sie gezwungenermaßen unseren genommen. Als dann nicht das Ass gefallen war, sondern die Kreuz-Acht, ging unser Garten in den Besitz der chinesischen Mafia über.
Und so wurde der Besitz umverteilt. Die Spinnerin brauchte es nur noch schriftlich festzuhalten. Papiere wurden aus Hosentaschen gezogen und Notizen angepasst. Weil meine Mutter nicht aus der Speisekammer kommen wollte, sollte ich das Dokument unterschreiben.
»Ich habe noch keine Unterschrift«, sagte ich. Die Spinnerin sah mich fragend an.
»Ich habe noch keine Unterschrift«, wiederholte ich. »Ich muss noch üben.«
»Schreib einfach deinen Namen hin.«
Ich sah an der Spinnerin vorbei in unseren Garten. Unseren Garten, von wo aus man die Linde der Nachbarn sehen konnte, wo im Sommer unsere Jasminblüten wie kleine Ameisen über die Hecke krochen und die Glyzinie wie Regentropfen den Zaun hinunterrieselte. Den Garten, in dem es kräftig geweht hatte, solange es noch Jahreszeiten gab, und der jetzt unter der dicken Schneeschicht ächzte. Unseren Garten, der nicht unser Garten war, wollte ich nicht hergeben.
Was einem nicht gehört, kann einem nicht weggenommen werden, der Garten gehörte der Stadt, das wusste ich. Nichts von dem, was wir hier haben, gehört uns, das hatte mein Vater mir oft genug erklärt. Trotzdem wollte ich den Garten nicht hergeben. Wenn die Vögel wissen, dass der Garten uns nicht mehr gehört, kommen sie nicht mehr, und die Jasminblüten ziehen sich hinter den Zaun zurück. Dann ist alles öde und kahl.
Ich starrte auf das herausgerissene Blatt aus dem linierten Schulheft, das es schon lange, sehr lange gab. Die Urkunde über Besitz und Verteilung, die schon vor meiner Geburt in Umlauf gewesen war. Die Spinnerin legte sie auf den Tisch. Man konnte noch die Fingerabdrücke der vorigen Gläubiger und Schuldner sehen. Oben rechts sah ich eine zarte Unterschrift, die jemand früher einmal mit zittriger Hand gesetzt hatte. Ich überflog das Blatt und sah verpfändete und wieder durchgestrichene Stühle, kiloweise versetzte und wieder durchgestrichene Mangos. Ich sah weggenommene Jungen und Mädchen, ihre notierten und wieder durchgestrichenen Namen. Die waren offenbar nicht zu leicht gewesen. Sie hatten einen Wert gehabt. Den man beim Glücksspiel als Einsatz platzieren konnte. Mindestens so viel wie ein Garten....