E-Book, Deutsch, 398 Seiten
Daoud Huris
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1032-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 398 Seiten
ISBN: 978-3-7518-1032-6
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die junge Algerierin Aube hat den Bürgerkrieg der 1990er-Jahre selbst miterlebt, davon zeugt nicht zuletzt die Narbe, die ihren Hals wie ein Lächeln umspannt. Beim Überfall auf ihr Dorf hatten Islamisten versucht, ihr die Kehle durchzuschneiden, doch allein ihre Stimmbänder wurden erfasst. Nicht nur die fehlende Stimme bringt Aube nun zum Schweigen, sondern auch die staatlichen Gesetze, die verbieten, an den damaligen Bürgerkrieg zu erinnern. Ihr Schmerz und ihre Auflehnung dringen nicht nach außen. Einzig an die Tochter, die in ihrem Inneren heranwächst, kann Aube ihre Worte richten. Denn die geheime Schwangerschaft konfrontiert die junge Algerierin mit Fragen über die furchtbare Vergangenheit und eine düstere Zukunft: Hat sie das Recht, ihr Kind zu behalten? Kann sie Leben schenken, wenn es ihr selbst fast entrissen wurde? Aube kehrt zurück in ihr Heimatdorf, wo alles begann, und sucht Antworten bei den Toten.
Mit Huris gibt Kamel Daoud algerischen Frauen das Wort und stellt sich gegen das noch immer verordnete Vergessen des Bürgerkriegs und seiner Schrecken. Eine ziselierte Erzählung mit ebenso poetischer wie politischer Kraft.
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1
16. Juni 2018, nachts, in Oran.
Siehst du es?
Ich grinse ununterbrochen und ich bin stumm oder nahezu stumm. Um mich zu verstehen, tritt man ganz nah an mich heran und beugt sich zu mir, als wollte man ein Geheimnis teilen oder zusammen eine Nacht verbringen. An meinen Atem, der rasselt wie der letzte Atemzug, an meine zunächst lästige Gegenwart muss man sich erst gewöhnen. Den Blick auf meine Augen heften, auf ihre ungewöhnliche Farbe, golden und grün wie das Paradies. In deiner Unkenntnis könntest du fast meinen, dass mich ein unsichtbarer Mann mit einem Seidenschal erstickt, aber hab keine Angst. Im Licht sehe ich aus wie eine großgewachsene, erschöpfte Frau, fast leblos, und mein riesiges starres Grinsen bereitet allen Unbehagen, die mir begegnen. Dieses endlose, fast siebzehn Zentimeter breite Grinsen hat sich seit über zwanzig Jahren nicht verändert. Es sitzt ein wenig unterhalb meines Gesichts und verzerrt meine Worte und Sätze. Manchmal verberge ich es unter einem bunten Seidenschal; ich suche immer teure und erlesene Tücher aus. Ich stelle meine Kragen hoch.
Reden wir, die Gelegenheit dazu ist einmalig. Denn, ja, du bist das Ereignis, das ich mir nie vorstellen konnte. Es kommt aus heiterem Himmel über mich, trifft mich präzise wie ein Meteorit den Schädel eines leidgeprüften Propheten. Plaudern wir einfach, ohne aufzuhören. Wenn ich aufhöre, muss ich dir umstandslos, schonungslos, fast unbekümmert das Leben nehmen wie ein Metzger, der sich über das Gerippe eines Schafs beugt und gähnt. Ich meine, ich könnte den Beutel zerreißen, in dem du strampelst, und das bisschen Leben auslaufen lassen, das du bis jetzt angehäuft hast. Aus medizinischer Sicht bist du übrigens nicht am Leben, vom Standpunkt Gottes aus auch keine Tote. Ich wiederum habe vielleicht schon eine unschuldige Seele getötet. Vielleicht nicht mit den Händen, aber mit den Augenlidern, indem ich sie schloss. Selbst meine Mutter, Khadija, weiß nichts davon, sie will mich trotz meiner sechsundzwanzig Jahre weiterhin jeden Tag so betrachten, als wäre ich gerade erst geboren, damit sie ihrerseits durch meine Zärtlichkeit und meinen Gehorsam zum Leben erweckt wird.
Hier sind wir in meinem Schlafzimmer. Es ist dunkel im Stadtteil Miramar in Oran. Eine schöne, am Mittelmeer gelegene Großstadt, die in der Dunkelheit funkelt wie eine zerrissene Halskette. Es ist 2 Uhr früh, und ein Mann brüllt, ein Polizeiauto fährt vorbei und Hunde schleichen umher wie maskierte Diebe. Um das Bild vollständig zu machen, stelle ich mir wandernde Palmen und das Meer vor, das in die Straßen eindringen will und noch nach einer passenden Stelle sucht. Manchmal ist es eine Erleichterung, hilft es mir, dass ich in der Außenwelt stumm oder nahezu stumm bin. Die Leute erwarten von mir keine langen Sätze oder Diskussionen mit Lügen oder Übertreibungen oder Versprechen. Selbst wenn ich ab und zu jemanden geliebt habe, brachte ich meine Gesprächspartner mit meinen riesigen goldbraunen Augen ins Stolpern. Meine großen goldbraunen Augen, die die Farbe wechseln, sich nicht um ihre Wirkung auf die Männer scheren, denen bei ihrem Anblick die Worte fehlen. Sie schauen mich an, tauchen in meinen oszillierenden Blick ein, und jede Sprache wird untauglich.
Hör zu: Nachts dröhnen die Handelsschiffe auf dem unsichtbaren Meer, und ich kann dir weder erklären, was das Meer ausmacht, noch woher das Schiff kommt, das es mit seinem großen Metallohr abhorcht. Es gibt Dinge, die kann ich dir selbst in meinen Worten nicht berichten, Zwischentöne aus der Außenwelt. Es bräuchte ein langes Leben, um dir die tausend Einzelheiten dieser Szene aufzuzählen, und die Zeit hast du nicht. Was soll ich dir noch sagen, damit wir allmählich miteinander vertraut werden? Ich rede mit dir, und der Klang meiner Stimme, den du hörst, klingt nicht wie eine Stimme, sondern wie das Rascheln von Seiten beim Umblättern. Außerdem, wozu sollte ich das Meer, die Hunde, ein Schiff und Palmen genau umreißen, oder mein Gesicht, das sich im Dunkeln abzeichnet? Definitionen sind für die Lebenden, um sich sicher zu fühlen. Für dich sind das nur Klangfarben hinter einer Wand, an der du kratzt. Du bist noch da, im Dunkeln, sorgfältig von mir verborgen. Du hast es sicher warm dort, stimmts? Du schwimmst, glaube ich, oder du machst es wie ich, kauerst dich zusammen, ich stelle mir vor, dass dich die Nabelschnur ein wenig stört. Sie behindert dich. Ich wende mich an dich in meiner schönen, eindringlichen und stummen Sprache, mit der ich mir seit Jahren Geschichten erzähle oder die ich benutze, wenn ich in meinem Kopf mit meinen Feinden, Nachbarn, den Imamen spreche, mit Gott, der mir wertvolle Dinge geraubt hat. Auf eine verworrene Weise ist es die Sprache der Filme, die ich geliebt habe, und die mich aufgewühlt und zu Tränen gerührt haben. Die Sprache des Traums, der Geheimnisse, die Sprache all dessen, was keine Sprache besitzt.
In dieser Sommernacht bin ich im Dunkeln wie du, der Nachthimmel fühlt sich warm und tief an wie ein Kopfkissen, und ich kann nicht schlafen. Wenn du wüsstest, was Zeit ist, würde ich dir sagen, dass es 2 oder 3 Uhr morgens ist. In unserer Stadt ist die Nacht im Sommer kurz, kaum hat sie mühsam ihre Sterne ausgestreut, da bereitet ihr der Imam mit seinem Gebetsruf im ersten Morgengrauen schon ein Ende. Doch dort, wo du dich befindest, siehst du es nicht, weil deine Augen noch kaum entwickelt sind. Ich erkenne wenigstens mein Zimmer, meine Straße, das Schiff und das Meer, das es herbringt. Du hast auch kein Geschlecht, aber ich weiß, dass du ein Mädchen bist, meine Huri, denn so sehe ich dich, wenn ich die Augen schließe. Ich glaube, du kommst aus dem Paradies. Von dort, wo die Zeit nicht vergeht und man die Tage nicht zählt. Die Uhr auf der Klimaanlage an der Wand gegenüber zeigt auch die Temperatur an, und ihr Licht verleiht fast allen Gegenständen Schatten und Aura. Es gibt einen Nachttisch und meinen Schreibtisch, der keinen Nutzen mehr für mich hat, seit ich meinen Schulbesuch am Collège wegen null Punkten in algerischer Nationalgeschichte beendet habe. Meine Schuhe, die ich nie wegräume, und der große Vorhang mit den schwarzen Flamingos, die in den Falten des Stoffs gefangen sind. Dann die Faltläden. Ich habe sie nicht ganz geschlossen: Die Laterne auf dem Pfahl vor dem Café verströmt ihr Licht und will mein Schlafzimmer in Augenschein nehmen wie ein Vagabund. Es ist der Laternenpfahl auf der Caféterrasse, er rostet am Sockel, und man sieht das Gehäuse für den Stromanschluss. Was für ein Café? Es heißt Marhaba (»Willkommen«, wie ich in meiner inneren Sprache für dich übersetze). Alle diese Geschäfte tragen in der Regel denselben Namen wie im ganzen Land die Plätze, die den Märtyrern des algerischen Befreiungskriegs gewidmet sind, wie die großen Straßen in den Städten. Auch mein Frisiertisch steht hier, und an dem habe ich gestern den Spiegel zerbrochen. Armer Spiegel! In tausend Scherben zersprungen glich er denjenigen, die alles auf einmal sagen wollen, die stottern und die Wörter durcheinanderbringen, die sich schließlich selbst zerlegen, sich schluchzend an den Händen schneiden. Ein Spiegel, zertrümmert durch mein Unvermögen, richtig zu sprechen. Ich habe ihn zerschlagen, ja, gestern, erinnerst du dich nicht an das knirschende Geräusch, das durch meine Ohren, gedämpft von meinem Bauch, zu dir gelangt ist? Du weißt, auch ich stelle mir dich dort vor, wo du bist. Du führst dich namenlos bei mir ein, ohne irgendetwas, das dich an mich bindet, außer einer Schnur und Blut. Du ahnst mich wie einen Schatten, siehst undeutlich meine Welt, mein Zimmer, diese Stadt, die dir gleichgültig ist, und du weißt nicht, was ich wirklich will. Wir gleichen jenen fremden Landstrichen, die ein Erdbeben übereinander geschoben hat. Du schwimmst gegen den Strom, dein Schweigen ist dein Muskel, noch vermischt sich der erste Tag deines Lebens mit dem letzten, nur der Sturzbach meiner Rede fließt hindurch. Wie kann eine stumme Sechsundzwanzigjährige so viel sprechen, ohne Luft zu holen? Woher kommt dieses unwiderstehliche Verlangen, alles in einem Atemzug loszuwerden wie eine Taschenspielerin, die erwischt wurde?
Der Grund ist: Ich besitze zwei Sprachen. Die eine wie die Nacht, die andere wie eine Mondsichel. Die eine frisst sich in die andere.
Und ein Fischmaul, um alle beide zu sprechen.
Und um dir meine Monstrosität noch deutlicher vor Augen zu führen, ein Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reicht. Genau da, an meinem Hals. Eine Angelschnur hält meinen Hals auf meinem Leib fest und verhindert, dass ich in Vergessenheit gerate oder auf dem Markt de la Bastille (dort erledigt man in Oran seine Einkäufe) zum Verkauf an einem Haken hänge. Drei oder vier Männer haben dieses starre Grinsen schon mit ihrem Zeigefinger betastet, wollten begreifen, woher es kam. Meine Mutter Khadija hat es lange Zeit abgehört, versorgt, überwacht, mit tausenderlei Heilmitteln unempfindlich gemacht und jahrelang fast jede Nacht gemessen. Vielleicht würde es größer werden und mich töten, wiederholte sie immer wieder, oder schrumpfen und mir ein normales Leben ermöglichen? Weil man dergleichen noch nie so groß, so deutlich, so fern allen Glücks, so aller Freude trotzend gesehen hat. Ich kann dir wenigstens meinen Vornamen sagen. Ich trage ihn wie eine Leuchtschrift in schwärzester Nacht. Ich heiße Aube, die Morgenröte. Fajr in der äußeren Sprache, Aube in meiner inneren.
(Atme.)
Meine beiden Sprachen schließen sich wie zwei Hände um meinen Hals. Die erste ist die Sprache, die in meinem Kopf tanzt wie ein Seidenschal, ein im Koran erwähnter Fluss, eine zweite Haut unter meiner Haut....




