Dark John Sinclair - Folge 1856
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5455-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Weg ins Land der Toten
E-Book, Deutsch, Band 1856, 64 Seiten
Reihe: John Sinclair
ISBN: 978-3-8387-5455-0
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ich war mächtig überrascht, als ich Maxine Wells plötzlich vor mir stehen sah. Waren auch Rubian und seine Nephilim mit ihr gekommen, um das Vogelmädchen Carlotta und mich aufzufordern, mit ihnen zu kommen, um mit ihnen den Weg ins Land der Toten anzutreten, wo der Austausch zwischen Carlotta und ihrer Ziehmutter Maxine stattfinden sollte?
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Ich konnte es nicht so recht glauben, denn dann hätte ich annehmen müssen, dass sie die Seite gewechselt hatte und jetzt zu den anderen hielt. Das konnte ich mir bei ihr nicht vorstellen. Wenn sie tatsächlich die Seiten gewechselt hatte, dann musste sie unter einem gewaltigen Druck gestanden haben. »Bist du es, Maxine?« Die Antwort bestand nur aus einem Lachen. »Woher kommst du? Wer ist bei dir?«, fragte ich weiter. Jetzt hätte sie mir eigentlich eine Antwort geben müssen, was nicht geschah. Sie schwieg, und auch die anderen Gestalten taten nichts. Zumindest nicht das, was ich wollte. Sie zogen sich zurück. Es vergingen nur Sekunden, dann hatte der Nebel sie verschluckt. Ich hatte das Nachsehen und stand wie verloren auf der Stelle. Dabei überlegte ich, ob ich die Verfolgung im Nebel aufnehmen sollte. Davon nahm ich Abstand, denn das Risiko war mir einfach zu groß. Ich hätte mich vom Haus der Tierärztin entfernen müssen, und das war nicht gut. Im Haus befand sich noch das Vogelmädchen Carlotta. Um diese Person ging es in Wirklichkeit. Eine Bande von Engeln wollte sie haben und sie in ihren Kreis integrieren. Das war schlimm, das konnte ich nicht zulassen, und so war ich praktisch zu ihrem Beschützer geworden.1 Die andere Seite versuchte es mit allen Tricks. Sie hatten Carlottas Ziehmutter, die Tierärztin, entführt und wollten sie gegen das Vogelmädchen eintauschen. Dagegen hatte ich etwas. Meine Gegner nannten sich zwar Engel, aber das waren sie keinesfalls. Man konnte sie als Produkte bezeichnen, die aus den Verbindungen zwischen Engeln und Menschen entstanden waren, Nephilim hießen und eigentlich verflucht oder längst ausgerottet waren, von denen sich aber einige über die langen Zeiten hinweg hatten retten können. Die meisten von ihnen sollten der Sage nach von der Sintflut weggeschwemmt worden sein. Ich wusste, dass die Nacht noch andauerte. Die andere Seite hatte also Zeit genug, sich neu zu formieren, um dann zu einem Ende zu gelangen. Sie wollten das Vogelmädchen, und ich kannte den Grund nicht. Vielleicht deshalb, weil Carlotta ebenfalls ein ungewöhnliches Geschöpf war, ein Mensch, der fliegen konnte. Ich ging einige Schritte zurück, bis ich vor der Haustür stand. Hier wartete ich dann, aber es war keine Bewegung mehr zu sehen, so angestrengt ich auch in den Nebel und die Dunkelheit schaute. Es waren nur graue Tücher zu sehen, die sich wogend bewegten und in ihrer Lautlosigkeit gespenstisch wirkten. Ich hatte mich entschlossen, zurück ins Haus zu gehen und die nächsten Stunden dort abzuwarten. Für mich war die Gefahr nicht vorbei. Ich ging davon aus, dass es ein Checken der Situation gewesen war und dass man Maxine Wells gezwungen hatte, so zu reagieren. Ich fühlte mich alles andere als wohl in meiner Haut. Die andere Seite hatte es nicht geschafft, an Carlotta heranzukommen, aber sie hatte sich Maxine Wells geholt, was schon schlimm genug war. Meine Gedanken drehten sich natürlich um ihre Befreiung, aber da hatte ich im Moment die schlechteren Karten. Nachdem ich das Haus betreten hatte, schloss ich die Tür wieder leise hinter mir zu. Leider nicht leise genug, denn ich meiner Nähe hörte ich ein Räuspern. Ich schrak zusammen und drehte mich um. Carlotta stand vor mir. Das überraschte mich nicht mal. Ich war nur verwundert über ihr Outfit, denn eigentlich hatte ich gedacht, dass sie im Bett liegen und schlafen würde. Sie stand praktisch ausgehbereit vor mir, wobei ein schwaches Wandlicht sie anleuchtete. »He«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Was ist los?« »Das müsste ich dich fragen.« »Wieso?« »Du hast doch nicht mit offenen Karten gespielt. Ich denke nur daran, dass du vor dem Haus gestanden und mit jemandem gesprochen hast.« »Das ist wahr.« Es hatte wirklich keinen Sinn, wenn ich es abstritt. »Na, super. Und kann es sein, dass ich Maxines Stimme gehört habe? Ich habe nämlich gute Ohren.« Das wusste ich. Es war nicht möglich, ihr etwas vorzumachen, und deshalb nickte ich. »Es war also Maxine?« »Du hast dich nicht geirrt, Carlotta.« »Und warum ist sie nicht hier? Warum hast du sie nicht geholt?« »Das kann ich dir sagen. Sie war nicht allein, ihre Feinde waren bei ihr, und sie konnte nicht tun und lassen, was sie wollte. Dagegen hatten ihre Gegner etwas.« »Und weiter?« Ich winkte ab. »Nichts weiter, Carlotta. Gar nichts. Sie sind wieder verschwunden.« Carlotta überlegte kurz. »Und nach wohin sind sie verschwunden? Kannst du das auch sagen?« »Ja, ins Nirgendwo. Der Nebel hat sie verschluckt. Kann sein, dass sie wieder dort sind, woher sie kamen. Versteckt im Land der Toten.« »Richtig, John, denn wir wollten doch den Weg dorthin finden.« Es stand nicht unbedingt fest, ob sie recht hatte. Einiges hatte auf das Land der Toten hingedeutet, doch niemand von uns wusste, wo es lag und ob wir den Aussagen überhaupt trauen konnten. »Hat es denn noch etwas gegeben?«, fragte Carlotta. »Nicht, dass ich wüsste.« Sie nickte und rückte dann mit ihrer Frage heraus. »Was willst du tun?« »Das weiß ich noch nicht. Es hat sich ja nichts geändert.« »Und wie siehst du Maxines Lage?« Jetzt war ich doch etwas überfragt. »Wie meinst du das denn?« »Geht es ihr schlecht?« »Das habe ich nicht beurteilen können. Es ist möglich, dass es ihr schlecht geht, aber mehr kann ich dir nicht sagen. So leid es mir tut. Man setzt sie als Druckmittel ein. Mehr weiß ich nicht.« »Man will an mich herankommen.« »Ja, das ist wohl der Fall.« »Gut, dann soll man es auch.« Ich war für einen Moment irritiert. »Bitte, wie kommst du auf diese Bemerkung?« »John«, sagte sie mit fast flüsternder Stimme, »es ist die Wahrheit, nur die Wahrheit. Ich werde dafür sorgen, dass ich zu ihnen komme. Ich bleibe nicht hier.« Jetzt wusste ich, was sie vorhatte, aber es passte mir natürlich nicht. »Ich denke nicht, dass dies für uns eine Lösung ist. Nein, das kann ich nicht glauben.« »Ich will aber, John.« Carlotta trat mit dem Fuß auf. »Ich bin kein kleines Kind mehr.« »Das weiß ich. Aber …« »Es gibt auch kein Aber«, fiel sie mir ins Wort. »Ich weiß, was ich tun muss.« »Und was, bitte?« »Ich werde gehen und mich stellen, und ich möchte nicht, dass du versuchst, mich daran zu hindern. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Hast du«, gab ich zu und dachte daran, dass ich Carlotta so noch nicht erlebt hatte. War sie wirklich reif genug, um ihren eigenen Weg zu gehen? Ich konnte es nicht glauben, aber ich wusste um ihre Stärken und auch, dass sie sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließ. »Es geht um Maxine«, sagte sie. »Und ich käme mir mies vor, wenn ich nicht alles getan hätte, um sie zu retten. Das musst du begreifen.« »Ich weiß.« »Dann werde ich jetzt gehen.« »Und ich bleibe an deiner Seite!« Zuerst fing sie an zu lachen, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber das schaffst du nicht.« »Und warum nicht?« »Du kannst nicht fliegen.« »Ja, das stimmt leider, ich kann nicht fliegen. Aber dafür kannst du es, und ich erinnere mich daran, dass du mich schon mehr als einmal auf dem Rücken mitgenommen hast.« »Diesmal nicht.« »Warum nicht?« »Weil ich es nicht will und weil ich meine Bewegungsfreiheit haben muss. Das ist der Grund.« »Die lasse ich dir.« »Das glaube ich nicht. Du kannst nicht anders. Du bist so gestrickt, John. Ich muss es allein tun.« Noch war ich nicht überzeugt. »Du willst also den Weg ins Land der Toten finden? Traust du dir das zu?« »Man wird mich führen, denke ich. Sie werden mich erwarten, und es kann sein, dass sie meine eigentliche Bestimmung sind. Ich sehe sie als Halbengel an, und etwas von einem Engel habe ich ja auch an mir. Das kannst du nicht abstreiten.« »Stimmt.« »Und deshalb lass es mich diesmal machen.« Was sollte ich tun? Ich war hin und her gerissen. Sollte ich zustimmen oder hatte es Sinn, wenn ich versuchte, sie mit Gewalt zurückzuhalten? Nein, auf keinen Fall. So tief wollte ich nicht sinken. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Aber welche war die richtige? Ich wusste es nicht und fragte dann: »Wann willst du los?« »Sofort.« »Und wohin?« »Das weiß ich nicht. Es wird sich ergeben.« Ich wusste nicht, was ich noch sagen sollte. Mir waren die Argumente ausgegangen. Das merkte auch Carlotta. »Es hat sich einiges geändert«, sagte sie. »Wir müssen es beide akzeptieren. Ich kann nicht mehr nur das beschützte Kind sein. Ich bin den Schuhen entwachsen. Ich stehe auf meinen eigenen Beinen und muss meine eigenen Entschlüsse treffen.« Es war schon eine verbale Ohrfeige, die ich da bekommen hatte. Aber wenn man es recht überlegte, dann lag sie ja nicht so falsch mit ihren Vorstellungen. Sie nickte mir zu und trat dann an die Garderobe heran. Dort hing der ein Mantel, den sie überstreifen musste. Für ihre Flügel befanden sich Öffnungen am Rücken. So wurde sie durch nichts beim Fliegen behindert. Ich sah alles andere als glücklich aus. Das sah auch sie. Und deshalb kam sie zu mir und umarmte mich. »He, was ist los, John? Loslassen, das ist los. Für mich sind andere Zeiten angebrochen, das spüre...