E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Day Scherbenherz
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-641-06606-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-06606-2
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
„Seltsam, aber als man ihr eröffnete, dass ihr Ehemann mit dem Tod ringe, galt ihre erste Sorge nicht ihm, sondern dem Rindfleischeintopf.“ Es ist eine bestürzende Nachricht, die die Polizei den Redferns überbringt: Charles Redfern liegt nach einem Unfall im Koma. Ist es nur der Schock, der Anne so seltsam unbeteiligt reagieren lässt? Die Fassade bröckelt, und bald wird klar, dass der so charmante Charles ein zweites Gesicht hat: Ein Mann, der seine Frau verachtet – und die gemeinsame Tochter begehrt. Und ein Schicksalsschlag wird immer mehr zum Befreiungsschlag ...
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(S. 230-231)
Anne begann den Tag mit vielen guten Vorsätzen. Sie wachte um sechs Uhr dreißig auf, als das gedämpft einfallende Sonnenlicht zitronengelbe Schatten auf ihre weiße Bettdecke warf. Selbst durch die Stoffjalousien mit dem blassblauen Muster aus Schäferszenen war erkennbar, dass es ein klarer, warmer Tag werden würde, was sie mit einem vorsichtigen Gefühl von Hoffnung erfüllte. Als Anne aufstand, merkte sie, dass sie unbewusst einen Arm über Charles’ Seite des Bettes ausgestreckt hatte. Das beunruhigte sie. Seit Wochen war sie beharrlich auf ihrer Seite der Matratze geblieben.
Dieser kleine, aber nicht wieder ungeschehen zu machende Übergriff auf seine Domäne kam ihr irgendwie symbolhaft vor. Noch immer hatte sie keine Entscheidung getroffen, nicht auf die Unterredung mit Dr. Lewis reagiert. Sie verdrängte den Gedanken, während sie ihr Nachthemd auszog, und widmete sich im Geiste bereits den Dingen, die getan werden mussten: Sie wollte das Arbeitszimmer fertigstreichen, die Küchenschränke ausräumen, eine gesündere Diät beginnen, um etwas Gewicht zu verlieren, den Wagen zum TÜV bringen, mit Charlotte reden.
Die letzte all dieser Pflichtübungen schwebte düster und drohend über allen anderen, verursachte ihr Unbehagen und, wenn auch widerwillig, Schuldgefühle, die sich auf ihre Seele legten wie flüssiges Wachs. Gelegentlich stellte sie fest, dass sie die Angelegenheit erfolgreich verdrängen konnte. So zum Beispiel beim Unkrautjäten im Garten, wenn sie auf einem schmalen grünen Kissen kniete, die Beete mit einer rostigen kleinen Schaufel umgrub und dabei vergaß, dass es eigentlich etwas geben sollte, das ihr die Laune verdarb. Was war das doch gleich gewesen?
Ach ja: Sie musste bei ihrem einzigen Kind Wiedergutmachung dafür leisten, dass sie als Mutter versagt hatte. Als sie sich jedoch das Frühstück zubereitete – eine Scheibe Vollkorntoast mit fettreduzierter Butter – und die Rollen und Pinsel geholt hatte, um dem Arbeitszimmer einen zweiten Anstrich zu geben, überkam Anne eine untypische Antriebslosigkeit. Sie setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, in ihren von Wandfarbe fleckigen alten Jeans und einem von Charles’ abgelegten Hemden mit ausgefranstem Kragen und einem irreparablen Loch unter der Achsel. Alles kam ihr sinnlos vor.
Sie hatte das Gefühl, dass eine mehr oder minder starke Depression im Anzug war, eine bedrückende Trägheit überkam sie, gepaart mit Selbstmitleid. Es war wie der Beginn einer Migräne, die sich in beängstigender Deutlichkeit ankündigte. Bevor sie davon übermannt werden konnte, griff Anne schnell nach den Autoschlüsseln und fuhr zu einem nahegelegenen Bioladen, wo sie sich mit Lebensmitteln für ihre neue Gesundheitsdiät eindecken wollte. Aufgrund der erschlagenden selbstgefälligen Atmosphäre, die in dem Geschäft herrschte, hatte sie bisher nur selten dort eingekauft.