de Maupassant / Ott | Es geht schnell, das Leben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

de Maupassant / Ott Es geht schnell, das Leben

Erzählungen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-455-81073-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-455-81073-8
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Maupassants Erzählungen - "Meisterwerke der Komposition, der Komik und der Beobachtung." Gustave Flaubert

Seine Erzählungen spielen in Dörfern der Normandie, auf Bahnhöfen oder in Zügen, die am Meer zwischen Nizza und Marseille verkehren. Aus flüchtigen Begegnungen an diesen Orten entstehen schicksalhafte Wendungen. Karl-Heinz Ott hat für seine Auswahl die besten Geschichten Guy de Maupassants neu übersetzt.

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IDYLLE
Der Zug nach Marseille hatte Genua eben verlassen und fuhr die weiten Windungen der Felsküste entlang. Zwischen dem Meer und den Bergen glitt er dahin wie eine eiserne Schlange, kroch über Strände mit gelbem Sand, den die kleinen Wellen mit einem Silbernetz säumten, und verschwand so jäh in den schwarzen Schlünden der Tunnel wie Tiere in ihrem Loch. Im letzten Waggon saßen sich eine dicke Frau und ein junger Mann gegenüber, die sich, ohne miteinander zu reden, dann und wann anschauten. Sie war ungefähr fünfundzwanzig; sie saß am Fenster und schaute hinaus in die Landschaft. Es war eine kräftige piemontesische Bäuerin mit schwarzen Augen, einer mächtigen Brust und fleischigen Wangen. Sie hatte mehrere Pakete unter die Holzbank geschoben und hielt auf dem Schoß einen Korb. Er war um die zwanzig, dünn, braungebrannt, mit der dunklen Gesichtsfarbe von Leuten, die unter praller Sonne auf dem Feld arbeiten. Neben sich hatte er in einem Tuch sein ganzes Hab und Gut: ein Paar Schuhe, ein Hemd, eine Hose und eine Jacke. Auch er hatte etwas unter die Bank gezwängt: eine Schaufel und eine Hacke, die beide mit einem Strick zusammengebunden waren. Er war in Frankreich auf Arbeitssuche. Die aufsteigende Sonne warf einen wahren Feuerregen auf die Küste; es war Ende Mai, herrliche Gerüche wehten durch die Luft und drangen durch die herabgelassenen Fenster der Waggons herein. Die Orangen- und die Zitronenbäume standen in voller Blüte und verströmten ihren süßlichen, so feinen, so kräftigen, so betörenden Wohlgeruch, der sich mit dem Duft der Rosen vermischte, die wie die Kräuter dicht auf dicht entlang der ganzen Strecke in den üppigen Gärten vor den Türen der Hütten und auf dem freien Land draußen wuchsen. Hier, an dieser Küste, sind sie daheim, die Rosen! Sie erfüllen das Land mit ihren ebenso kräftigen wie flüchtigen Aromen, machen aus der Luft den wahrsten Genuss und verwandeln sie in etwas noch Köstlicheres und Berauschenderes als Wein. Der Zug fuhr langsam, als wollte er in diesem Garten, in dieser wohligen Trägheit verweilen. Alle Augenblicke hielt er an lauter winzigen Bahnhöfen vor ein paar weißen Häusern, dann setzte er sich, nachdem er jedes Mal lange gepfiffen hatte, wieder langsam in Bewegung. Nirgends stieg jemand ein. Man hätte meinen können, dass die ganze Welt döste und sich niemand an diesem heißen Frühlingsmorgen zu einem Ortswechsel durchringen mochte. Die dicke Frau machte von Zeit zu Zeit die Augen zu, schlug sie aber geschwind wieder auf, wenn ihr Korb über ihren Schoß zu rutschen und auf den Boden zu kippen drohte. Jedes Mal griff sie ganz schnell nach ihm, schaute dann wieder ein paar Minuten hinaus und döste erneut ein. Schweißperlen bedeckten ihre Stirn, und sie atmete schwer, als quäle sie ein schlimmer Druck. Der junge Mann hatte seinen Kopf gesenkt und schlief den tiefen Schlaf ländlicher Leute. Auf einmal, bei der Abfahrt aus einem kleinen Bahnhof, schien die Bäuerin wach zu werden; sie öffnete ihren Korb und holte ein Stück Brot, harte Eier, ein Fläschchen Wein und Pflaumen heraus, schöne rote Pflaumen; und sie fing an zu essen. Auch der junge Mann war plötzlich aufgewacht und sah ihr zu, sah ihr bei jedem Bissen zu, der von ihrem Schoß in ihren Mund wanderte. Er hatte die Arme verschränkt, die Augen blickten starr geradeaus, die Wangen waren hohl, die Lippen aufeinandergepresst. Sie aß wie ein gefräßiges fettes Weib, gönnte sich alle paar Augenblicke einen Schluck Wein, damit die Eier rutschten, und dann hielt sie kurz inne, um durchzuatmen. Alles ließ sie verschwinden, das Brot, die Eier, die Pflaumen, den Wein. Und als sie ihr Mahl beendet hatte, schloss der junge Mann wieder seine Augen. Da machte sie, weil ihr offenbar eng war, auf einmal die Bluse auf, worauf der Mann sie erneut anschaute. Es machte ihr nichts aus, sie knöpfte sich auch noch das Kleid auf, der starke Druck ihrer Brüste spannte den Stoff fast bis zum Zerreißen, und es kamen zwischen ihnen ein immer größer werdender Spalt, weiße Wäsche und ein wenig Haut zum Vorschein. Nachdem die Bäuerin es sich bequemer gemacht hatte, sagte sie auf Italienisch: »Es ist so heiß, dass man kaum atmen kann.« Der junge Mann antwortete in derselben Sprache mit demselben Dialekt: »Wir haben schönes Wetter für die Reise.« Sie fragte ihn: »Sind Sie aus dem Piemont?« »Ich bin aus Asti.« »Ich aus Casale.« Sie waren Landsleute. Sie begannen zu schwatzen. Sie redeten lange über banale Dinge, wie es einfache Leute mit schwerfälligem, begrenztem Geist gewöhnlich tun. Sie redeten über daheim. Sie hatten gemeinsame Bekannte. Sie zählten Namen auf und freundeten sich desto mehr miteinander an, je mehr Leute sie ausmachten, mit denen sie beide schon einmal zu tun gehabt hatten. Schnelle, flinke Sätze sprudelten aus ihren Mündern, Sätze mit wohlklingenden Endungen in italienischem Singsang. Schließlich erzählten sie von sich selbst. Sie war verheiratet; hatte bereits drei Kinder, die sie bei ihrer Schwester in Pflege gegeben hatte, weil ihr eine Stelle als Amme angeboten worden war, eine gute Stelle in Marseille bei einer französischen Dame. Er wiederum suchte Arbeit. Man hatte ihm gesagt, hier in der Gegend ließe sich welche finden, da viel gebaut werde. Die Hitze wurde unerträglich, sie stürzte gleichsam wie Regen von den Waggondächern herab. Eine Staubwolke wirbelte hinter dem Zug her und wehte herein; die Düfte der Orangen und Rosen wurden immer kräftiger, schienen sich zu verdichten und zunehmend schwerer zu werden. Erneut schliefen die beiden Reisenden ein. Fast zur gleichen Zeit machten sie die Augen wieder auf. Die Sonne senkte sich zum Meer hinab und bestrahlte seine blaue Weite mit wahren Lichtfluten. Die kühler gewordene Luft hatte etwas Erleichterndes. Die Amme keuchte mit geöffneter Bluse, schlaffen Wangen, trüben Augen; und sie sagte mit bedrückter Stimme: »Seit gestern habe ich keine Brust mehr gegeben; mir wird ganz schwarz vor Augen, als würde ich ohnmächtig.« Er antwortete nicht, wusste nicht, was sagen. Sie fuhr fort: »Wenn man so viel Milch hat wie ich, muss man die Brust drei Mal am Tag geben, sonst wird einem ganz seltsam. Es ist wie ein riesiger Druck auf der Brust; ein Druck, der mir die Luft nimmt und mir die Glieder zerquetscht. Es ist furchtbar, wenn man so viel Milch hat.« Er stimmte ihr zu: »Ja. Furchtbar. Es muss schlimm sein.« Tatsächlich sah sie ganz krank aus, völlig erschöpft und zitterig. Sie flüsterte: »Es reicht, wenn man draufdrückt, dann spritzt die Milch heraus, wie bei einer Fontäne. Es sieht wirklich seltsam aus. Nicht zu glauben. In Casale wollten es immer alle Nachbarn sehen.« Er sagte: »Tatsächlich!« »Ja, so war’s. Ich würde es Ihnen gern zeigen, nur würde mir das nichts nützen. Es kommt dabei nicht genug heraus.« Dann wurde sie wieder stumm. Der Zug hielt an einer Station. An der Schranke stand eine Frau mit einem kleinen Kind im Arm, das weinte. Sie war dünn und sah verwahrlost aus. Die Amme schaute zu ihr hinaus. Voller Mitgefühl sagte sie: »Wieder eine, der ich helfen könnte. Und ihr Kleines könnte mir helfen. Verstehen Sie, ich bin nicht reich, drum gehe ich ja von daheim weg, von meinen Leuten und meinem allerliebsten Jüngsten, weil ich eine Anstellung kriege; aber gern gäbe ich fünf Francs, wenn ich dieses Kind da zehn Minuten lang nehmen und ihm die Brust geben dürfte. Dann würde es sich wieder beruhigen und ich mich auch. Ich käme mir wie neugeboren vor.« Von neuem verstummte sie. Dann fuhr sie sich immer wieder mit ihrer heißen Hand über die Stirn, an der Schweiß herabrann. Und sie stöhnte: »Ich halt es nicht mehr aus. Mir ist, als müsst ich gleich sterben.« Und mit einem unwillkürlichen Handgriff riss sie sich ihr Kleid vollends auf. Die rechte Brust kam heraus, riesig und prallvoll mit ihrer braunen Warze. Und die arme Frau stöhnte: »O mein Gott! Mein Gott! Was soll ich bloß machen?« Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und fuhr weiter durch die Blütenpracht, die den durchdringenden Duft lauer Abende verströmte. Da und dort schien auf dem blauen Meer ein Fischerboot eingeschlummert zu sein, mit seinem weißen reglosen Segel, das sich im Wasser spiegelte, als schwimme dort noch ein umgekipptes kleineres Schiff. Der junge, inzwischen ganz aufgeregte Mann stammelte: »Aber ... Signora ... ich könnte Ihnen ... Ihnen ... helfen.« Sie antwortete mit brüchiger Stimme: »Ja, wenn Sie wollen. Sie würden mir einen großen Gefallen tun. Ich halte es nicht mehr aus, ich kann nicht mehr.« Er kniete sich vor ihr nieder; und sie beugte sich zu ihm vor und führte ihm so, wie es Ammen machen, die dunkle Spitze ihrer Brust zum Mund. Als sie seine beiden Hände nahm, um ihm die Brust zu reichen, quoll aus ihr ein Tropfen Milch. Er schluckte ihn geschwind und griff nach den schweren Brüsten, um sie wie eine Frucht zwischen die Lippen zu nehmen. Und er fing gierig und gleichmäßig an zu saugen. Er hatte seine beiden Arme um die kräftige Frau geschlungen und sie an sich gedrückt, um besser an sie heranzukommen; und er trank in langsamen Zügen mit Nackenbewegungen, wie man sie auch bei einem Säugling sehen kann. Auf einmal sagte sie: »Es reicht mit der da, nehmen Sie jetzt die andere.« Worauf er gehorsam die andere nahm. Ihre beiden Hände hatte sie auf den Rücken des jungen Mannes gelegt, und sie atmete jetzt kräftig und beglückt und genoss die mit den Windstößen hereinwehenden Blumengerüche, die der fahrende Zug in die Waggons trieb. Sie sagte: »Gut riecht es hier.« Er antwortete...


de Maupassant, Guy
Guy de Maupassant wurde als Sohn einer lothringischen Adelsfamilie 1850 auf Schloss Miromesnil bei Dieppe geboren. Er studierte einige Zeit Jura in Paris, nahm am deutschfranzösischen Krieg von 1870/71 teil und war ab 1871 Beamter in Pariser Ministerien. Mit seinen Erzählungen und Romanen zählt er neben Balzac, Flaubert und Zola zu den größten französischen Erzählern des 19. Jahrhunderts. Er starb 1893 in Paris.



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