E-Book, Deutsch, 666 Seiten
de Vigan Loyalitäten, Dankbarkeiten & Die Kinder sind Könige
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7558-1122-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei Romane in einem Band
E-Book, Deutsch, 666 Seiten
ISBN: 978-3-7558-1122-0
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
DELPHINE DE VIGAN, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman >No & ich< (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman >Nach einer wahren Geschichte< (DuMont 2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Zuletzt erschien bei DuMont ihre Romane >Dankbarkeiten< (2019) und >Das Lächeln meiner Mutter< (2020). Die Autorin lebt mit ihren
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THÉO
Als er aus der Schule kam, brauchte er frische Luft, musste er laufen, er konnte nicht sofort nach Hause, das war zu gefährlich.
Nach etwa zwanzig Minuten war das Gefühl der Trunkenheit verflogen, sein Atem bildete in der Kälte eine kleine Rauchwolke, und der Alkohol löste sich auf.
Kurz vor neunzehn Uhr drückt er die Wohnungstür auf und vergewissert sich, dass die Luft rein ist. Seit einigen Monaten geht seine Mutter freitagabends zu einem Gymnastikkurs. Das erspart ihnen beiden diesen angespannten, mit Ungesagtem und unaussprechlichen Empfehlungen aufgeladenen Moment der Trennung. Im Allgemeinen schickt er ihr ein wenig später eine SMS, um ihr zu sagen, dass er gut angekommen ist. Sie begnügt sich dann mit einem »Okay« als Antwort.
Die Verbindung bricht für eine Woche ab. Ende der Übertragung.
Er hat überall nach seinem Pulli gesucht, konnte ihn aber nirgends finden. Er hat im Korb für die schmutzige Wäsche nachgeschaut und auch nachgesehen, ob er nicht irgendwo zum Trocknen aufgehängt war.
In wenigen Minuten hat Théo seine restlichen Sachen für die Woche zusammengesucht. Danach alle Lichter ausgeschaltet und die Tür hinter sich abgeschlossen.
Dann hat er die Hochbahn bis zur Place d’Italie genommen.
Er kommt unten vor dem Hochhaus an.
Er wünschte, er hätte sich in einem entlegenen Winkel seines Hirns, zu dem er jetzt die Tür ein wenig öffnen könnte, ein vages Trunkenheitsgefühl aufbewahrt. Er sucht in sich nach einer Spur der Betäubung. Er wünschte, er könnte den Stempel des Alkohols noch in seinen Bewegungen aufspüren, eine Langsamkeit und Benommenheit, so winzig sie auch wäre, aber es ist nichts mehr übrig. Er hat keinen Panzer mehr. In der kalten Winterluft hat er alles verbrannt. Er ist wieder zu diesem Kind geworden, das er hasst, das mit einem Bauch voller Angst auf den Knopf des Aufzugs drückt. Die Angst steigt aus einem betäubten Schlaf auf, dessen köstlicher Geschmack verschwunden ist, sie breitet sich in seinem ganzen Körper aus und beschleunigt seinen Herzschlag.
Nachdem Théo an der Tür geklingelt hat, dauert es mehrere Minuten, bis sein Vater aufmacht. Das Mal davor musste er fast eine halbe Stunde warten, er hörte ihn innen, oder vielmehr nahm er seine Anwesenheit wahr, ein Atmen oder Reiben, aber sein Vater war noch nicht bereit, die Tür zu öffnen, ihn zu empfangen; es ist, als ermöglichte es ihm diese immer längere Zeit, die er bis zur Eingangstür braucht, wieder ein menschliches Wesen zu werden. Das ahnt er heute, während er auf dem Treppenabsatz wartet: dass sein Vater diese Zeit braucht, bis er sich in der Lage fühlt, ihm entgegenzutreten. Er hat den Schlüssel zur Haustür unten, aber nicht den zu dem Riegel, den sein Vater vorschiebt, wenn er sicherstellen will, dass er nicht gestört wird. Also setzt sich Théo schließlich oben auf die Treppe und wartet. Alle achtzig Sekunden steht er auf, um die Treppenhaus-Beleuchtung wieder einzuschalten.
Und obwohl sich Théo den ganzen Tag auf den Anblick vorbereitet hat, obwohl er ihn sich Dutzende Male vor Augen geführt hat, um sich daran zu gewöhnen, obwohl er seit mehreren Monaten weiß, dass er ihn in diesem Zustand vorfinden wird, kann er, als sein Vater endlich auftaucht, das nicht mehr durch seinen Willen beeinflussbare Zurückschrecken seines Körpers, dieses Zurückschrecken und diesen Ekel kaum verbergen, denn es wird mit jedem Mal schlimmer, schlimmer als in der Woche zuvor, als wäre es möglich, in der Selbstaufgabe immer weiter und weiter zu gehen. In einem Sekundenbruchteil registriert Théo alles, den Pyjama, den Eigelb- oder Urinfleck in Penishöhe, den Bartwuchs, den Geruch, die nackten Füße in den Schlappen, die zu langen Nägel, die Pupillen, die sich weiten und sich an die Anwesenheit eines anderen Menschen anzupassen versuchen.
Und dann lächelt ihn sein Vater an, in einer Art Grimasse, die der des Kummers ähnelt.
Früher zog ihn sein Vater in die Arme und drückte ihn an sich, aber er wagt es nicht mehr. Er riecht schlecht, und das weiß er.
Danach kehrt er ins Bett zurück, oder er setzt sich an seinen Schreibtisch, vor den Computer, er unternimmt dann eine übermenschliche Anstrengung, um ein paar Fragen zu stellen. Théo könnte die langsame Bewegung dieser Anstrengung, ihres Räderwerks und der Transmissionsketten, deren unerträgliches rostiges Quietschen er zu hören glaubt, bis ins letzte Detail beschreiben. Diese Zeit, die sein Vater braucht, um die Fragen zu formulieren und dann auszusprechen. In einer Art fehlerhaftem Ritual erkundigt er sich nach Neuigkeiten aus der Schule und aus der Handballmannschaft (der Théo schon seit fast einem Jahr nicht mehr angehört), bringt aber nicht mehr genug Konzentration für Théos Antworten auf. Théo wird dann immer irgendwann wütend, weil sein Vater ihm zwei Mal dieselbe Frage stellt oder weil er so tut, als würde er zuhören. Manchmal versucht er ihn zu verwirren, ihn bei seiner Unaufmerksamkeit in flagranti zu erwischen, lässt ihn wiederholen, was er gerade gesagt hat, und sieht dann zu, wie er sich anhand der wenigen Wörter, die sein Hirn oberflächlich abgespeichert hat, in einem vergeblichen Rekonstruktionsversuch verheddert. Ehrlich gesagt schlägt sich sein Vater dabei gar nicht so schlecht. Und dann kann Théo nicht anders, er lächelt ihm zu, sagt: »Es ist nicht so schlimm, keine Sorge, ich erzähle es dir ein anderes Mal.«
Später wird er die Reste im Kühlschrank durchgehen, alles wegwerfen, was schlecht oder verschimmelt ist, die Mindesthaltbarkeitsdaten überprüfen. Er wird das Bett seines Vaters neu beziehen und die Fenster aufreißen, um die Wohnung zu lüften. Wenn noch Wäsche da ist, wird er die Waschmaschine in Gang setzen. Und die Spülmaschine. Oder aber er weicht die Teller erst einmal ein, wegen der Speisereste, die manchmal so festgetrocknet sind, dass sie wie eingebrannt wirken.
Dann wird er mit der Scheckkarte seines Vaters hinunter zum Geldautomaten gehen. Erst wird er versuchen, fünfzig Euro zu ziehen. Wenn der Automat sie verweigert, versucht er es mit zwanzig. Zehn sind nicht möglich.
Er wird im nächsten Supermarkt ein paar Einkäufe machen.
Wenn er zurück ist, wird er versuchen, seinen Vater zum Aufstehen, Waschen und Anziehen zu überreden. Er wird die Rollläden hochfahren lassen und zu ihm ins Schlafzimmer gehen, um mit ihm zu sprechen. Er wird versuchen, ihn nach draußen zu locken, damit er wenigstens einen kleinen Spaziergang macht. Er wird vom Wohnzimmer aus nach ihm rufen, mehrmals, damit sie sich zusammen einen Film oder eine Fernsehsendung ansehen.
Oder aber er wird nichts von alledem tun.
Dieses Mal hat er möglicherweise nicht mehr die Kraft dazu.
Vielleicht wird er den Dingen ihren Lauf lassen, einfach so, ohne den Versuch zu unternehmen, etwas zu reparieren und wieder Ordnung zu schaffen. Vielleicht wird er sich einfach nur im Dunkeln hinsetzen und die Füße zwischen den Stuhlbeinen baumeln lassen, weil er nicht mehr weiß, was er sagen oder tun soll, weil er weiß, dass das alles für ihn zu viel ist, dass es seine Kräfte übersteigt.
Er hat vergessen, seit wann sein Vater nicht mehr arbeitet. Seit zwei Jahren. Oder drei. Er weiß nur, dass er eines Abends versprochen hat, nichts darüber zu sagen. Denn wenn seine Mutter erfährt, dass sein Vater nicht mehr arbeitet, wird sie einen Prozess anstrengen, um das alleinige Sorgerecht zu erhalten. Das jedenfalls hat sein Vater gesagt.
Er hat versprochen zu schweigen, deshalb hat er auch weder seiner Großmutter noch der Schwester seines Vaters, die ihn manchmal anruft, etwas gesagt.
Vorher arbeitete sein Vater zu viel. Er kam spät aus dem Büro, verbrachte seine Abende vor dem Computer, blieb nachts auf. Eines Tages wurde er von seinem Unternehmen auf die Straße gesetzt. Théo hat diesen Ausdruck nie vergessen. »Auf die Straße gesetzt.« Er hatte sich sofort vorgestellt, wie sein Vater bettelnd auf der Straße saß, während neben ihm der glänzende Stiefel eines Vorgesetzten als Zeichen des Siegs und der Überlegenheit aufragte. In Wahrheit bedeutete es, dass sein Vater nicht mehr das Recht hatte, an seine Arbeitsstelle zurückzukehren, dass er keinen Zugang mehr zu seinen Arbeitsunterlagen und zu seinem Computer hatte. Hatte er etwas falsch gemacht? Etwas Schlimmes? Théo war noch zu klein gewesen, als dass sein Vater ihm hätte erklären können, was vorgefallen war, aber der Junge hatte dieses Bild einer schrecklichen Demütigung im Kopf behalten, die seinen Vater vernichtet hatte.
Einige Monate lang hatte sein Vater Arbeit gesucht. Er hatte eine Weiterbildungsmaßnahme mitgemacht und wieder Englischunterricht genommen. Er ging zu Tests und Vorstellungsgesprächen.
Und dann wurden die Kontakte, die sein Vater zur Außenwelt aufrechterhielt, ganz langsam immer weniger. Schließlich brach alles ab, was für ihn eine Verbindung zu anderen herstellte, was ihn hoffen ließ, dass er eines Tages wieder arbeiten würde, was ihn zwang, seine Wohnung zu verlassen. Théo bemerkte es nicht gleich, weil dieser Bruch – ganz anders als der zwischen seinen Eltern, der sie dazu gebracht hatte, sich monatelang, auch mithilfe zwischengeschalteter Anwälte, zu zerfleischen, in einem pausenlosen Kampf, dem er als zum Schweigen verurteilter Beobachter beiwohnte – ohne jedes Drama, ohne jeden Lärm vonstattenging. Anfangs begann sein Vater, morgens und nachmittags ein wenig länger zu Hause herumzuhängen. Er fand es toll, Zeit mit ihm zu verbringen. Sie machten gemeinsam Ausflüge mit dem Auto, sein Vater lenkte den Wagen lässig mit einer Hand und fragte: »Geht es uns beiden nicht gut?« Er redete davon, mit ihm nach London oder nach Berlin zu fahren, sobald er mehr Geld in der...