E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Deck Viviane Élisabeth Fauville
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8031-4135-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4135-4
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
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Julia Deck wurde 1974 in Paris geboren. Sie studierte Literatur an der Sorbonne und arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften. Heute unterrichtet sie an einer Journalistenschule.
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Der Artikel, der am nächsten Tag, Mittwoch den 18. November, im erscheint, wirft alle möglichen Probleme auf. Der Zeitung zufolge wurde die Leiche des Arztes erst am Morgen nach seinem Tod gefunden, und das weder von einem Patienten noch von seiner Gattin, sondern von einer rothaarigen und grünäugigen, zudem schrecklich schwangeren Person, die aus L’Argentière-La Bessée im Département Hautes-Alpes stammt, und bei der man sich allerdings fragt, was sie da um 6 Uhr 30 machte. Dann war es nicht ganz leicht gewesen, Madame Sergent ausfindig zu machen. Obwohl offiziell bei ihrem Mann in einer komfortablen Wohnung in der Rue du Pot-de-Fer gemeldet, soll sie ihre Nächte in der Rue du Roi-de-Sicile verbringen, und zwar in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, die einem gewissen Silverio Da Silva gehört. Und letzterer, ein Psychoanalytiker, der aber nicht Psychiater ist, noch überhaupt Arzt, der noch nicht einmal ein Psychologie-Staatsdiplom vorzuweisen hat, kurz, ein einfacher weltlicher Analytiker, der seinen Titel der bereitwilligen Anerkennung seiner Kollegen verdankt, hat nicht abgestritten, der Geliebte der Witwe zu sein. Er hat sich nicht einschüchtern lassen, als die Ermittler ihn im Ton kleiner Beamter gefragt haben, ob es ihn nicht störe, die Frau eines anderen auszuborgen, hat geltend gemacht, der Mensch sei nicht auf die Gesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu reduzieren, oder vielmehr, er genieße es, gelegentlich, dagegen zu verstoßen. Aber sicher doch, haben die Beamten geantwortet und ihn über Nacht eingebuchtet. »Liebe: Sie achten immer weniger auf Ihr Aussehen. Erfolg: Vermeiden Sie Entscheidungen, die sich auf Ihre Zukunft auswirken könnten. Gesundheit: Allergien.«
Viviane nimmt einen letzten Schluck aus ihrer Tasse an der Theke des Cafés in der Rue Louis-Blanc, wo sie allmählich Stammkundin wird. Sie trinkt dort einen Kaffee, bis es Zeit ist, ihre Tochter abzuholen. Die anderen Mütter, hört man, sind überlastet, überglücklich, ihre Kinder gegen ein oder zwei Stunden Freiheit tauschen zu können, und Viviane denkt Wozu denn das, es gibt nicht genug amtliche Angelegenheiten zu erledigen, um ein ganzes Leben auszufüllen, kein Friseur hat schöpferische Möglichkeiten genug, um einen Besuch mehr als einmal in der Woche zu rechtfertigen. Sie faltet die Zeitung zusammen und steht dann wieder an der Kreuzung, vor den Gleisen der Gare de l’Est, die in Richtung Norden unter der Metrobrücke hindurchführen. Die fächerartig angeordneten Straßen des Viertels scheinen alle an jenem Kreisel gebündelt, der den Schnittpunkt der Rue Cail und der Rue Louis-Blanc bildet, während sie am anderen Ende von dem Metallband der überirdischen Metrolinie über dem Boulevard de La Chapelle zusammengehalten werden.
Sie biegt links ein, wo sich unter einem von der Fülle nackten Geästs verdunkelten Himmel exotische Lebensmittelläden, Cash-Transfer-Schalter, Basare, Metzgereien, Telefongeschäfte aneinanderreihen. Gruppen von Sri Lankern ohne Sri Lankerinnen parlamentieren vor jedem Eingang. Sie könnten nichts Besseres zu tun haben als das Vorübergehen dieser großen blassen, in ihren Augen exotischen Frau zu kommentieren, und doch beachten sie sie nicht, als sie sich zwischen ihnen durchschlängelt und aus den Augenwinkeln prüft, ob sie ihre Blicke anzieht, und feststellt, nein, sie bleibt unsichtbar für die Sri Lanker wie für die Übrigen, Psychoanalytiker, Polizei und was alles daraus folgt.
Sie gehen ein paar Schritte, nur so. Das ist das Privileg Ihrer Situation. Sie sind ganz und gar frei, und das wird gottweiß nicht lange so bleiben, alle Mütter sagen das, dass eine mindestens zwanzigjährige Versklavung Sie erwartet.
In den Schaufenstern der Basare liegen Pantoffeln, Socken, Tee- und Kaffeekannen, Wollknäule, Hemden, Schlafanzüge, Musical-DVDs, Rollkoffer, viele Rollkoffer. Sie können mit diesem Gepäck nichts anfangen. Wo sollten Sie wohl hingehen, alle von Ihnen zurückzulegenden Strecken werden vom Pariser Verkehrsverbund bedient. Für Pantoffeln hingegen könnten Sie Verwendung haben. Wenn Sie tief in den Schaukelstuhl zurückgelehnt Ihre Tochter schaukeln, könnten diese hübschen blutrot gefütterten Hausschuhe Ihre nackten Füße wärmen. Oder wenn Sie sich einsam an der Hinterwand Ihrer Zelle hin- und herwiegen, würden die Hausschuhe Ihnen die sehr kostbaren Stunden, die Sie gerade durchleben, in Erinnerung rufen, jene letzten Augenblicke, bevor die Polizeibeamten wieder zur Besinnung kommen und Sie einlochen werden. Sie gehen in den Basar hinein.
Die Gänge sind nach Kategorien von Gegenständen, vom Dekorativen bis zum Nützlichen, angeordnet. Am Eingang befinden sich kleine blasslila und blaue Meerjungfrauen, die träge auf grünlichen Felsen lagern. An der Kasse stehen bunte Mehrzweck-Plastikwannen, und dazwischen ist ein breites Spektrum von Küchenutensilien, Toilettenartikeln, Kinderspielzeug und Mütterkrimskrams ausgebreitet – Näh-Etuis, Schwämme, Staubwedel, Besen. Sie greifen nach einer Meerjungfrau, die in Ihre Richtung schaut. Sie drehen und wenden sie zwischen Daumen und Zeigefinger und denken wie jedermann, Wie kann man so was kaufen, wer kann das hübsch finden, wo es so hässlich ist. Sie stellen die Meerjungfrau wieder zurück.
Von ihrem Regal aus hat sie weiter den Blick auf Sie gerichtet. Einen leicht verschwommenen Blick, denn ihre Augen sind etwas hastig von einem Arbeiter in Südostasien angebracht worden, der nicht besonders auf die Präzision noch auf die Intensität des Blickes geachtet hat, er hat sich damit zufriedengegeben, Augen einzufügen. Doch nun richten sich diese Augen auf Sie. Sie nehmen die Meerjungfrau wieder in die Hand. Wie sie da auf ihrem Felsen posiert, erinnert sie Sie schwach an jemanden. An einen Denker auf seinem Sockel. Einen Papagei auf seiner Stange. Einen Psychoanalytiker in seinem Sessel.
Um diese Zeit ungefähr hätten Sie normalerweise dort sein müssen. Zwei Meter von ihm entfernt, würden Sie Ihre Finger durchkneten auf der Suche nach Ihrem fehlenden Ehering, nach einer tauglichen Assoziation, die Ihnen ein kleines Lob eintragen würde. Und Ihr Gegenüber wäre an seinem Platz, ganz in Anspruch genommen von dem Schauspiel der Wand hinter Ihnen. Seine Pfoten würden auf seinem Magen ruhen, er würde über ein Kochrezept oder eine Kreuzworträtselfrage nachdenken, bis Sie sich endlich auf der Höhe der Disziplin zeigen, auf Ihre Verteidigungsmanöver verzichten und sich verwandeln würden in ein…
In was genau.
Subjekt. Subjekt, hatte er einmal gesagt.
Sie haben geantwortet, Prädikat, Objekt.
Er hat gesagt, Sie vermeiden es.
Was denn?
Das Subjekt.
Subjekt. Sie verstehen nicht, was das heißt. Sie befragen die Meerjungfrau, sie hat dazu nichts zu sagen, ebenso wenig wie Sie. Sie hatten einen Mann, eine Arbeit, ein Kind, Pflichten, die sich auftürmten von früh bis spät. Die kleinsten Augenblicke Ihrer Existenz waren von der Notwendigkeit regiert, und Sie sahen sehr wohl, dass es Ihren Mitmenschen auch nicht anders ging, von den Empfangsdamen bis zum Generaldirektor der Firma Bétons Biron, von Ihrer Mutter bis zur Kinderfrau. Sie konnten sich nicht vorstellen, was in diesen bestens geölten Systemen schieflief, Sie waren eine ganz normale Frau, bis man Sie dazu zwang, Gott weiß was zu werden, und jetzt unterbricht der Basarbetreiber Ihre vertrauliche Unterredung mit der Meerjungfrau.
Er fragt, ob Sie sie nehmen werden (sie kostet fünf Euro). Sie wussten nicht, dass das Probieren vor dem Kauf nicht gern gesehen wird, und sagen es ihm freiheraus – also ziemlich schroff –, aber Sie nehmen dann doch die Hausschuhe mit, die Ihnen im Schaufenster aufgefallen waren. Zwei dicke Kunstfellkugeln, ähnlich einem sehr zarten Igelpaar.
Am Ende der Rue Louis-Blanc weichen die Sri Lanker einer kosmopolitischeren Bevölkerung, die geschmuggelte Zigaretten feilbietet oder, in Einkaufswagen mitten auf dem Boulevard, heiße Kastanien verkauft, und Sie denken daran, wie weit es hin ist von diesen Kastanien hier bis zu jenen, die man Ihnen vor den bewegten Spielzeugvitrinen des Boulevard Haussmann anbot, als Sie noch eine echte Bourgeoise waren, die zwischen dem 5. und dem 16. Arrondissment, also den Wohnungen ihrer Mutter und ihrer Großeltern hin- und herfuhr, in der glückseligen Unkenntnis jenes Pariser Ostens, wo die sozialen Zwischenschichten wohnen und die Serienkiller grassieren. Sie überqueren den Boulevard, zögern zwischen der Brücke rechts, die Sie über die Gleise hinweg wieder nach Hause bringen, und der Gare du Nord linkerhand, die Sie in Richtung Barbès-Rochechouart führen würde. Von dort aus kämen Sie ins 18. Arrondissement, zu seiner subtropischen Bevölkerung, den kleinen Läden voller Billigkram, oder in den Süden ins 9. Arrondissement mit seinem eleganten Publikum und seinen den privilegierten Berufsständen zugedachten Boutiquen. All das setzt Entscheidungen voraus. Unendlich viele Mikro-Entschlüsse, von denen jeder größere Auswirkungen hat. Sie sind nicht imstande, Entschlüsse zu fassen. Sie sind...