Decker | 1965 | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 496 Seiten

Decker 1965

Der kurze Sommer der DDR
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24856-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Der kurze Sommer der DDR

E-Book, Deutsch, 496 Seiten

ISBN: 978-3-446-24856-4
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Es war ein kurzer Sommer. Mitte der Sechzigerjahre versuchte die DDR, sich aus der Umklammerung durch die Sowjetunion zu befreien und ihren Künstlern und Intellektuellen größere Freiräume zuzugestehen. Doch schon bald setzten sich die Hardliner durch, die letzten unabhängigen Köpfe verabschiedeten sich von der SED. Für Gunnar Decker setzt damals jene innere Erosion ein, die 1989 zum Zusammenbruch des deutschen Sozialismus führte. Sein Buch spiegelt Aufstieg und Niedergang der DDR in den Schicksalen bekannter und unbekannter Schriftsteller, Theaterleute und Filmemacher. Decker, 1965 in der DDR geboren, erzählt ein Kapitel deutscher Kulturgeschichte, das mit dem Fall der Mauer noch lange nicht zu Ende ist.

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Prolog. Fritz Cremer, »Der Aufsteigende«
Sie stand in Wolf Biermanns Arbeitszimmer in der Berliner Chausseestraße 131 auf demselben kleinen Tisch, auf dem er auch das Foto seines in Auschwitz ermordeten Vaters aufgestellt hatte. Die Bronze trägt den Titel »Der Aufsteigende« und ist im Original 2,96 Meter hoch. In ihrer Monumentalität wäre sie dann wohl in die darüberliegende Wohnung durchgestoßen oder, wahrscheinlicher noch, durch ihr Gewicht in die darunterliegende herabgestürzt. Aus gutem Grund war dies also nur eine Miniatur auf Biermanns Tisch. Verkleinerungsformen haben überhaupt starke Vorzüge, besonders dann, wenn es um monumentale Bronzen geht, noch dazu mit dem Titel »Der Aufsteigende«! Cremers Skulptur lässt den Widerspruch anschaubar werden, um den es im Folgenden gehen soll. Das selbst Gewollte gilt es ab einem bestimmten Punkt wieder zu verneinen. Das ist so schmerzhaft wie der wachsende Zweifel in aller Hoffnung. Wann ist der Punkt erreicht, da Geist und Macht sich unwiderruflich trennen? Bis wann ist Hoffnung eine reale Möglichkeit, ab wann bloße Illusion? Wolf Biermann hat aus diesem DDR-Doppelgefühl, das sich für ihn in »Der Aufsteigende« versinnbildlicht, ein Gedicht gemacht. Es erscheint 1968 in dem Band »Mit Marx- und Engelszungen« bei Klaus Wagenbach in Westberlin und beginnt: Mühsam aufsteigender Stetig aufsteigender Unaufhaltsam aufsteigender Mann Mann, das iss mir ja ’n schöner Aufstieg: Der stürzt ja! Der stürzt ja fast! Fritz Cremer schuf »Der Aufsteigende« in den Jahren 1966/67. Die Figur steht heute vor dem UNO-Gebäude in New York, zwei weitere Abgüsse sind vor der Kunsthalle Rostock und im Skulpturenpark Magdeburg zu sehen. In diese Bronze geht all das ein, worüber in der DDR 1965 gestritten wird. Was ist der Mensch in der Geschichte? Ihr bewusster Gestalter, ihr blindes Opfer – oder beides zugleich? Die Skulptur zeigt einen Mann mittleren Alters, wie er auch in der Häftlingsgruppe seines Buchenwalddenkmals stehen könnte. Kein Optimist, ein gebrochener Mensch: ein Leidender. Seine nackten Füße tasten unsicher nach einem Weg – ob er abwärts oder aufwärts geht, wird erst später zu entscheiden sein. Der Gehende selbst weiß es nicht. Aber seine himmelwärts erhobenen Arme, die den Kopf zu bergen versuchen, zeigen seine Schutzlosigkeit, sein Ausgeliefertsein. Da geht einer, die Hand hilfesuchend zum Himmel erhoben, als ob nur von dort noch Hilfe kommen könnte, doch der Glaube hat ihn verlassen. Welcherart dieser merkwürdig stürzende Aufstieg, der hier zu besichtigen ist, denn sei, darüber hat Wolf Biermann seine Vermutungen angestellt: Wohin steigt dieser da? Da oben, wohin er steigt was ist da? Ist da überhaupt oben? Du, steigt der auf zu uns? Oder steigt er von uns auf? Geht uns der voran? Oder verlässt er uns? Verfolgt er wen? Oder flieht er wen? Macht er Fortschritte? Oder macht er Karriere? Die beiden letzten Fragen ließen sich vielleicht so beantworten: Wohl keines von beiden, es sei denn, der Fortschritt bestünde darin, auf jede Art von Karriere zu verzichten. Später wird Biermann Grund haben, an seinem Freund Fritz Cremer zu zweifeln, den »wir alle mit Vorsicht bewunderten, weil er mutig war, aufsässig, aber gleichzeitig mit festen Stricken gebunden an das Regime«. Wie immer, wenn Mensch und Geschichte aufeinanderstoßen, wird es auf komplizierte Weise dramatisch. Erklärt es etwas, wenn man Stephan Hermlin liest, der bereits 1968 notierte, er finde »bei Cremer Verfinsterungen, Anmut, ein nicht gängiges, zurückgenommenes Pathos, die Neigung zur Parabel, eine helle, schneidende Sinnlichkeit, plebejische Noblesse«?1 Wir ahnen: Der Aufsteigende ist kein Held, es sei denn einer nach verlorener Schlacht. Das ist Cremers Realismus. Da steht jemand wie Herakles am Scheideweg. Soll er nun rechts oder links an der Wegkreuzung abbiegen? Am Ende scheint die Richtung, die er nimmt, gleichgültig, wichtig ist nur, dass er sich entscheidet. Denn welchen Weg er auch gehen wird, wenn es aus eigenem Entschluss heraus geschieht, ist eines ohnehin klar: Diesem Aufstieg, der den Sturz in sich trägt, kann nur noch ein Gang ins Ungewisse folgen, allein. So sehen wir in »Der Aufsteigende« einer Geburt zu: der des Alleingehers. Warum zeigt sich in dieser Bronze der innere Widerspruch der DDR? Warum ist es überhaupt so entscheidend, über das zu reden, was im Bereich von Kunst und Literatur entstand, welches Kräfteverhältnis zwischen Kultur und Politik existierte – und welche Rolle der Intellektuelle im Staate spielte? Man muss sich die Lage vergegenwärtigen: Anders als die Bundesrepublik war die DDR ihrer Geburt nach eine Gesellschaft auf ideeller Basis. Was immer auch passierte, es resultierte nicht aus Marktzwängen und Kapitalverwertungslogik, es war zuvor gedacht und geplant worden: der deutscher Zukunftsstaat sollte jenseits der Herrschaft des Kapitals entstehen! Diese Vision trägt eine lange Reihe von Sozialutopien in sich, von Thomas Morus’ »Utopia« bis zu Campanellas »Sonnenstaat« – auch Fichtes Vision eines »geschlossenen Handelsstaates« gehört in die Vorgeschichte der DDR. Da konkurrierte von Anfang an die freie Assoziation aller mit einem sektenhaften Regime, das sich auf die Herrschaft der von der Sache Überzeugtesten, der Eiferer und Fanatiker gründete (im Fortgang allerdings immer mehr der Zyniker und Virtuosen des Apparats). Wofür steht eine solche Diktatur aus dem Geiste der Moral? Um diese Fragen dreht sich der Streit – auch darum, ob man nicht anstelle der für jeden Demagogen missbräuchlichen Moral tragfähigere Elemente für die Konstruktion der sozialistischen Gesellschaft suchen sollte: Marktgesetze etwa für die Wirtschaft, oder Rechtsnormen, die das Verhältnis von Bürger und Staat über das bloße Strafrecht hinaus regeln. Was nun – Mitte der 60er Jahre – für die einen notwendige Reform ist, wird in den Augen der anderen zur Aufweichung unantastbarer Grundprinzipien, zum Verrat. Wer etwas verändern will, steht sofort im Verdacht, ein Agent des Klassenfeindes zu sein, ein Reformist, ein Renegat. Dieser Generalverdacht gegen jedes schöpferische Moment in der Gesellschaft droht den alleingängerischen Gedanken sofort wieder an der Mauer der Kollektivität zu erdrücken. Aber noch – so zeigt Biermanns Cremer-Gedicht – gibt diese kulturelle Avantgarde den Kampf um die Deutungshoheit der eigenen Angelegenheiten nicht auf. Das sozialistische Menschenbild wird folgerichtig zum Casus belli der inneren Verfassung des Staatswesens. Wohin geht die Reise im Namen des Kommunismus? Eine Diktatur des Proletariats scheint unvereinbar mit dem grundlegenden Marx-Satz im »Kommunistischen Manifest«: »Die Freiheit des Einzelnen ist die Voraussetzung der Freiheit aller.« Da scheinen von Anfang an – bereits in der Theorie also – unauflösbare Widersprüche auf. Genau deshalb greift der vor allem unter Künstlern und Intellektuellen geführte Streit um den richtigen Entwicklungsweg des Sozialismus so tief ein ins Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft. Ist die DDR ein Resultat der Aufklärungsgeschichte? Ja, auch das. Aber was von einer geistigen Elite gedacht wird, prallt immer sofort auf den Machtanspruch der herrschenden Partei. Die intellektuelle Avantgarde trägt darum eine schwere Last. Sie muss Alternativen wachhalten, ein Bewusstsein des Möglichen gegen die Diktatur des Wirklichen wecken. Die Idee des Sozialismus erweist sich dabei als okkupiert von der Ideologie als bloßer Legitimationstheorie bestehender Machtverhältnisse. Aber auch diese sind Teil der europäischen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie werden nach dem Untergang Nazideutschlands in der sowjetischen Besatzungszone durch die Siegermacht gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung installiert – sind Resultat des Kalten Kriegs. Mitten in der DDR existiert die Idee vom »anderen Deutschland« – als oppositionelles Minderheitenprojekt in Konkurrenz zum anderen Minderheitenprojekt, dem des Machtanspruchs der SED. Auch darum trifft der Streit um die Rolle von Kunst und Literatur in der Gesellschaft immer sofort den Lebensnerv des Staates. Dieser Kulturkampf tobt Mitte der 60er Jahre in der DDR. Nein, er tobt nicht laut, er schleicht eher auf leisen Sohlen durch die Hinterzimmer der Macht. Dann dringt er schließlich doch nach außen. Jeder kann im Dezember 1965 wissen, dass hier und jetzt über die Ankündigung »Stalin verlässt den Raum« entschieden wird. So hatte Stefan Heym eine Rede im Dezember 1964 genannt, die den Charakter eines Manifests bekommen sollte. Lasst uns den Raum desinfizieren, den Stalin verlassen hat!, forderte er darin. Aber stimmt der Befund denn, hat Stalin ihn überhaupt verlassen? Es ist ein Kampf der Ideologie gegen die Kultur, der Kultur um ihr geistiges Überleben – und um ihre Gestaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. Es sind Künstler wie der Bildhauer Fritz Cremer, die auf der Notwendigkeit des Widersprechens bestehen, so wie 1964 in seiner Rede auf dem 5. Kongress des Verbandes Bildender Künstler: »Wir brauchen die Erkenntnis, daß der Zweifel, die Kritik, wie dies schon bei Marx geschrieben steht, ein Grundelement historisch-materialistischen...


Decker, Gunnar
Gunnar Decker, geboren 1965 in Kühlungsborn, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. Der promovierte Philosoph veröffentlichte zuletzt im Carl Hanser Verlag: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie (2012).

Gunnar Decker, geboren 1965 in Kühlungsborn und promovierter Philosoph, lebt als Autor in Berlin und ist Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. Im Carl Hanser Verlag erschien zuletzt: Hesse. Der Wanderer und seine Schatten. Biografie (2012).



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