Decker | Ernst Barlach - Der Schwebende | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten

Decker Ernst Barlach - Der Schwebende

Eine Biographie
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-21676-4
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Biographie

E-Book, Deutsch, 432 Seiten

ISBN: 978-3-641-21676-4
Verlag: Siedler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die erste große, meisterhaft erzählte Biographie des berühmten Künstlers

Er zählt zu den großen deutschen Künstlern der Moderne: Ernst Barlach schuf weltbekannte Skulpturen und blieb rätselhaft, seine Schöpfungen wirken erdschwer und schwebend zugleich. Gunnar Decker zeichnet das faszinierende Porträt des Mannes, der ebenso Archaiker wie Avantgardist war und dessen Leben wie kaum ein zweites die Verheißungen und Abgründe des 20. Jahrhunderts widerspiegelte. Es beschreibt das Drama eines Einzelgängers, der den Krieg hasste und sich zeitweilig zu Hitler bekannte – und dessen Existenz schließlich von den Nationalsozialisten zerstört wurde, die ihn als „artfremden Künstler“ brandmarkten.
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PROLOG


Der Mann mit dem Totengräbergesicht


… meine Lieblingsthemen:
Bettler, Beter mit ihrem Nichts vor dem Tiefsten und Höchsten.

Brief an Karl Barlach 1

»Mutter Erde« hat Augen schmal wie Schlitze. Man weiß nie, in welche Himmel oder Höllen sie schauen. Sie sitzt, thront, ruht vor der Gertrudenkapelle in Güstrow, Mecklenburg. Oder der »Schwebende Engel« im Dom mit dem – ungewollt hineingeratenen – Gesicht der Käthe Kollwitz. Hier decken kreisrunde Lider die Augen.

Lauter vulkanische Ausbrüche an Schöpferkraft, die sich wenig um die Erwartungen anderer, gar um herrschende Konventionen scheren. Insofern ist Ernst Barlach gewiss ein Expressionist, dem sich alles in gesteigerten Ausdruck verwandelt, aber auch darin ein Außenseiter, ein passionierter Alleingeher, der barocke Welten im Kopf trägt und im Herzen ein Mystiker bleibt. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits scheint für ihn nicht zu existieren. Und zugleich ist dieser Expressionist das Gegenteil eines Expressionisten, einer, der mit Linien geizt, ein Asket, dem jede Entäußerung wieder zur Verinnerlichung gerät. Entfesselung führt zu neuer Gebundenheit, Glauben und Skepsis finden unerwartet zusammen.

Ernst Barlachs Schöpfungen wirken erdschwer und schwebend zugleich, sind von einer gefangennehmenden Intensität, als handle es sich hier um die Wächterfiguren einer magischen Welt – so wie jene Balabanows, auf die er 1906 in der russischen Steppe stieß. Diese merkwürdigen Gestalten (riesenhafte Götzen) sind Seher, die nach innen, nicht nach außen blicken. Melancholische Klage und sachliche Kampfansage zugleich gegen das alltägliche Sich-gemein-Machen mit dem Gewöhnlichen spricht aus ihnen.

Wer sich mit unvollkommenen Verhältnissen, wie sie nun einmal sind, arrangiert, hat es gewiss immer und überall leichter. Ernst Barlach kann das nicht. Oft trägt er schwer daran, wirkt unter Menschen stets eine Spur fremd.

Vielleicht ist es das einzigartige Zusammenspiel von Nähe und Distanz, das ihn zum formstreng-opulenten Menschenbildner macht, zum Alchemisten gar, der meint, die Schöpfung der Elemente sei noch nicht beendet, mehr noch, sie sei in seine Hände gelegt? Barlach notiert dazu am 8. August 1911 in einem Brief an Wilhelm Radenberg: Tatsächlich ist mir seelisch der russische, der asiatische Mensch, der nur mystisch zu verstehen ist, verwandter als der typisch gebildete Zeitgenosse. Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen. Ich sah am Menschen das Verdammte, gleichsam Verhexte, aber auch das Ur-Wesenhafte, wie sollte ich das mit dem landläufigen Naturalismus darstellen! 2

Die Menschen, die Barlach zeigt, sind weder erlöst noch verdammt, sie befinden sich in einem spannungsreichen Zwischenzustand. Bestenfalls sind sie auf dem Wege der Erlösung, die nicht allein aus ihnen selbst kommen kann, aber die sie auch nicht von einem transzendenten Gott erwarten.

Mit Barlach geraten wir in jene Regionen der Mystik eines Jakob Böhme oder Meister Eckhart, wo Gott allein auf dem Grunde der Seele geboren wird und Geist etwas ist, das funkengleich ausstrahlt. Ein Übermaß an Licht ist da nicht zu erwarten, aber genug, um die Finsternis nicht mehr fürchten zu müssen.

Wir kennen Ernst Barlach als Dramatiker barock-überbordender Stücke, in denen die Toten lebendiger sind als die Lebenden. Als einen Bildhauer, dessen Plastiken wie archaische Fetische darauf zu warten scheinen, dass jemand mit ihnen zaubert – aber niemand wird dies je tun können, denn Barlach, der Magier, setzt Brüche, vergrößert Abstände und vermeidet so voreilige Identifikation. So macht er sich unerreichbar für zweckhaftes Begehren. Als Grafiker und Zeichner durchwandert er surreale Traumwelten, als lägen diese gleich hinter Güstrow, wo er fast drei Jahrzehnte seines Lebens verbringt – am Ende ist es das wütende Standhalten von einem, der sich nicht vertreiben lassen will durch niedrige Gesinnung, wie sie 1933 auch in Mecklenburg in Amt und Würden kam.

Barlach trägt sie alle in sich, die Dämonen, die Furien, die Kobolde, die Gnome, die Wiedergänger, die seinem Werk etwas Gespensterseherisches geben. Er meint es ernst mit dem Leben als Maske des Todes.

Sein engster, aber – wie sollte es anders sein – auch fernster Freund, der neunzehn Jahre jüngere Güstrower Zeichenlehrer Friedrich Schult, der bis zu seinem Tod 1978 in der mecklenburgischen Kleinstadt lebte und jahrzehntelang unermüdlich an der Vervollständigung von Barlachs Werkverzeichnissen arbeitete, ist wohl auch der Einzige, dem es gelingt, Barlach als – durch noch zu erläuternde Umstände, aber auch durch dessen Wesensart – fremden Freund auf immer noch gültige Weise zu porträtieren. Er kannte ihn aus Jahren des intensiven Gesprächs und Jahren des angespannten Nebeneinanderher-Schweigens, schließlich des intensiv-ernsthaften Briefgesprächs (im selben Ort!), er erkannte ihn als freundlich-zuwendungsvollen Vater des Sohnes Klaus und als treuen Sohn der psychisch labilen Mutter Luise, die sich im Alter schließlich das Leben nahm.

Dennoch war da immer ein nur metaphysisch zu nennender Vorbehalt dem Leben gegenüber. Dieser Vorbehalt schmolz nur dahin, wenn Barlach – vor allem bei Kälte und Wind – in der Umgebung von Güstrow wandern konnte.

Er ist ein starker Raucher mit krankem Herzen, ein Spaziergänger, gar ein wohltemperierter Flaneur ist er nicht. Er schreitet energisch voran, den Hut tief ins Gesicht gezogen: Drei Stunden zu Fuß im Wald oder über Land, und ich fühle mich gesund und von innen heraus beruhigt in der Art, daß alle kleinliche Sorge oder der falsche, d. h. hetzende Lebensrhythmus beseitigt sind. 3

Schult notiert in seinen »Letzten Aufzeichnungen« über Barlachs Art, die Dinge dieser Welt durchwandernd gleichsam beständig ins Surreale zu verwandeln, ihnen in seinem oft beschwerlichen Lebensalltag eine gespensterhaft-spielerische Gestalt zu geben: »Das Dämonische war ihm seit je vertraut. Er ging mit den Hexen, in denen es Gestalt gewann, jederzeit so freundschaftlich um wie die anderen Zeitgenossen mit Hunden und Katzen.« 4

Er kennt Barlach als kauzigen Eigenbrötler, doch er erkennt dahinter eben auch den Mystiker von barockem Ausmaß, der sich hartnäckig hinter seinem Werk verbirgt, der sich nur insoweit dieser Welt als zugehörig empfindet, als er sich ihr nicht zugehörig empfindet. Da bringt jemand das Kunststück fertig, gleichzeitig archaisch und avantgardistisch zu sein.

Alles Denken, alles Fühlen wurzelt ihm im Paradox. Etwas ist nur wahr, wenn auch sein Gegenteil wahr ist – das hat Barlach nicht nur abstrakt gedacht, sondern tagtäglich gelebt und in Ausdruck verwandelt. Dieser Beter zweifelt, dieser Zweifler betet. Barlach führt die Gegensätze immer wieder auf faszinierende Weise zusammen. Auch die Wirkung seiner Stücke ist nicht nur polarisierend, sondern bringt nicht selten einander sich ausschließende Urteile in einen Widerspruchszusammenhang. Berühmt ist das Diktum Alfred Polgars, der 1925 die konträren Wirkungen von Barlachs Dramen auf das Publikum wie auf die Kritiker so karikierte: »Da stand schwarz auf weiß, klar und eindeutig, wie die Sache gewesen und was von ihr zu halten sei. So lautete der eine Spruch: ›Es ist reiner Dilettantismus, maßlose Langweiligkeit, ein scheintiefes Mißdrama‹, und so der andere: ›Ein ganz großer, unvergeßlicher Abend. Barlachs Werk überwältigte.‹ Ich bin ganz der Meinung der beiden Herren.« 5

Thomas Mann wird im April 1924 in einem »Barlach und Brecht« überschriebenen Theaterbrief aus Deutschland für die Zeitschrift »The Dial« in New York über »Der tote Tag« schreiben: »Die Münchener Kammerspiele hatten den schönen Mut, dies Trauerspiel vom Menschen, dem heldischen Geistsohn, der ewig ein Muttersöhnchen der eifersüchtig klammernden Erde bleiben wird, auf die Bühne zu bringen. Die Aufführung war vorzüglich. Sie konnte ein- oder zweimal wiederholt werden; dann blieb das Publikum aus. Das ist begreiflich, denn die stundenlange Konzentration auf das Raunend-Halbdeutliche ist keine jedermann genehme Abendunterhaltung. Aber es gibt zu grübeln über das Verhältnis von hoher Dichtung und Popularität.« 6

Von »hoher Dichtung« wollen Barlachs Intimfeinde Alfred Döblin und Alfred Kerr nichts wissen, Döblin sieht nur »verqualmten Tiefsinn«, »Knurren«, »Drucksen« und befindet: »Barlach leidet an schwerster seelischer Verstopfung«, er sei eben ein »Provinzler«, ein »Kleinbürger«, »dumpf und nicht tief«. Und Kerr nennt »Die Sündflut«, für die Barlach 1924 den Kleist-Preis erhält, ein »scheintiefes Mißdrama«, »reiner Dilettantismus«. 7 Das scheint mehr als Kritik, purer Hass.

Es gehört zur Aura dieses rätselhaften Menschen, der sich so hartnäckig verbergen will, dass sein beständiges Nicht-mittun-Wollen die ebenso stolze wie demütige Reserve inmitten einer sich in selbstzerstörerische Handlungen stürzenden Zeit ist: die Offenbarung seines Geistes gegen den herrschenden Geist der Zeit.

Barlachs sich wie Sturm und Windstille hin und her wendende Stimme prägt sich ein, zu hören auf seinen letzten Tonaufnahmen vom Januar 1933. Sein Vertrauter Friedrich Droß wird es so ausdrücken: »Barlach sprach wie er ging: stoßweise, bald schnell, bald langsam ...« 8 Noch da, wo er sich in Unverständlichkeit wie in ein Versteck hinein murmelt, um...


Decker, Gunnar
Gunnar Decker wurde 1965 in Kühlungsborn geboren, studierte an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie und promovierte 1994 über Ketzergeschichte. Er lebt als Autor und Journalist in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien wie »Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns« (2009), »Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten« (2012), »Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben« (2016), »Ernst Barlach. Der Schwebende« (2019) und »Rilke. Der ferne Magier« (2023). Ferner erschienen die Geschichtsbücher »1965. Der kurze Sommer der DDR« (2015) und »Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR« (2020). 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.



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