E-Book, Deutsch, Band 3, 384 Seiten
Reihe: Ein Fall für Liewe Cupido
Deen Der Retter
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86648-833-5
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3, 384 Seiten
Reihe: Ein Fall für Liewe Cupido
ISBN: 978-3-86648-833-5
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mathijs Deen, geboren 1962, ist Schriftsteller und Hörfunkautor. Er veröffentlichte Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten, der für den renommierten AKO-Literaturpreis nominiert war. 2018 wurde ihm für die literarische Qualität seines Werks der Halewjinpreis verliehen. Bei mare erschien von ihm zuletzt 2023 »Der Taucher«, der zweite Fall für den charismatischen deutsch-niederländischen Kommissar Liewe Cupido.
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PROLOG
Als in der Nacht vom 3. auf den 4. März 1995 plötzlich Sturm aufkam, Böen von fast hundert Stundenkilometern durch die Straßen Norderneys fegten, auf dem Hafengelände Türen schlugen und die Stage und Wanten der Boote sangen, wanderten Michael Waagmanns Gedanken, wie immer, wenn er bei Sturm in seiner Koje auf Notrufe wartete, zu jener windstillen Nacht des Jahres 1974, als er Technischer Wachoffizier auf der war. Sie waren mit einer Ladung Holz aus Rumänien im Marmarameer unterwegs, um durch die Dardanellen ins Mittelmeer und dann nach Hamburg zu fahren, und er und der Dritte Offizier Jannes Boll hielten auf der Brücke nach den Leuchtfeuern Ausschau, und es war so merkwürdig still unter den Sternen. Kurz vor Mitternacht kam der Kapitän auf die Brücke und sagte, dass man den Zweiten Offizier nicht für die Hundewache wecken sollte, weil er ihm die heikle Einfahrt in die Dardanellen nicht zutraute und er das Steuern lieber selbst übernahm. Michael und Jannes blieben zuerst noch untätig auf der Brücke, aber nach einer halben Stunde ließen sie den Kapitän allein und gingen in ihre Unterkünfte. Michael war kaum eingeschlafen, als ihn ein heftiger Ruck aus der Koje schleuderte.
Alles, was dann geschah – wie er vorbei an umgefallenen, Türen blockierenden Stühlen zum nächsten Niedergang rannte, wie das Dröhnen des Motors das Schiff vibrieren ließ, wie erschrockene Matrosen schon die Boote klarmachten, wie der Kapitän unter dem Kartentisch lag, wie der verstörte Zweite Offizier auf die Brücke kam, nach vorn zeigte und nichts anderes sagte als: »Kiek doch bloß … kiek doch bloß …«, weil im Schein des Topplichts der zerknautschte Bug an dem Felsen zu sehen war, gegen den der stampfende Motor das Schiff drückte –, all das konnte er sich ins Gedächtnis rufen, als wäre es gestern gewesen. Er hatte nicht vergessen, dass der Kapitän zu verwirrt gewesen war, um irgendetwas zu unternehmen, dass er selbst den Maschinentelegrafen auf Halt stellte, woraufhin der Motor verstummte, was nur heißen konnte, dass der Zweite Technische Schiffsoffizier noch handlungsfähig war, und dass er zum Maschinenraum hinunterrannte und zusammen mit seinem Kollegen die Pumpen in den Laderäumen einschaltete. Nur Raum eins machte Wasser, die übrigen Räume waren trocken, die Schotten folglich dicht, und die würde schwimmfähig bleiben.
Und doch waren es nicht die Gefahren und die Aufregung der Havarie, zu denen während des Wartens bei Sturm seine Gedanken abdrifteten; es war die Stunde der spiegelglatten See vor dem Aufprall, die Stille, als das Schiff über das Marmarameer fuhr und er und Jannes zu den fernen Lichtern ringsum blickten und er dachte: Wie seltsam friedlich es jetzt ist. Die Stunde, in der noch nichts geschehen war.
Der alte Seenotkreuzer , der bald außer Dienst gestellt werden sollte, zerrte an den Festmacherleinen und neigte sich leicht zur Seite. Michael lag auf dem Rücken und achtete auf die Durchsagen des Seefunkdienstes. Er zwang sich, an die anderen Retter zu denken, die mit ihm an Bord waren und wie er in ihren Kojen auf den Sturm horchten. Navigator Atte Germer, der unruhige, gewissenhafte, gläubige Insulaner; Rettungsmann Tade Bojenga, der übermütige jüngere Sohn des Matrosen Bojenga aus Büsum; der schweigsame Maschinist Heiko Büsing, ebenso zuverlässig wie der ihm anvertraute Mercedes-Benz-Achtzylinder. Michael war der Vormann und für sie verantwortlich. Bei allem, was passieren konnte, musste er ihre Eigenheiten berücksichtigen, ihre Stärken und Schwächen.
Der erste Notruf ging um zwanzig nach eins ein. Eine Jacht mit drei Personen an Bord war bei der Einfahrt in die Osterems nördlich von Borkum auf die Brauerplate aufgelaufen. Der Mann am Funkgerät klang unerfahren und panisch. Ein Besatzungsmitglied hatte sich den Arm verletzt – gebrochen oder ausgerenkt, auf jeden Fall hatte der Mann starke Schmerzen. Michael hörte, dass Atte aufstand. Atte, immer der Erste, ungeduldig wie ein Hund, der darauf wartet, ausgeführt zu werden.
»Warte, Atte«, sagte Michael. »Das ist für Borkum.«
Und tatsächlich kam sofort die Antwort der , des Seenotkreuzers von Borkum. Das Gespräch wurde schnell auf einem anderen Kanal fortgesetzt, und es war wieder ruhig. Wasser klatschte gegen das Boot, eine Bö zog die Leinen stramm.
Michael hörte Atte in seine Koje zurückkehren, und seine Gedanken schweiften wieder ab. Erst vor drei Monaten war die nach einem Einsatz nördlich von Ameland kurz vor der Westerems von einer hohen seitlichen Grundsee erfasst worden und durchgekentert, wobei der Maschinist aus dem oberen, offenen Steuerstand gerissen wurde; später, während bereits ein Hubschrauber vergebliche Bergungsversuche unternahm, wurde auch noch der Vormann durch hohe Wellen von dem manövrierunfähigen Schiff gespült. Die war ausgelaufen und konnte zusammen mit einem niederländischen Seenotkreuzer die nach Eemshaven schleppen. Michael wusste, dass Atte und Tade wie er selbst in der neuerlichen Funkstille an die beiden verunglückten Rettungsmänner dachten. Und dass die reparierte trotz dieser Tragödie selbstverständlich wieder auslief, in die Nacht, zu den Strömungen und Grundseen der Ems-Mündungsarme. Es war Niedrigwasser, das Watt südlich von Borkum war trockengefallen, die Retter mussten erst einmal westlich um Borkum herum auf die Nordsee hinausfahren, um zur Osterems zu kommen. Der Mann mit dem verletzten Arm auf der Jacht würde noch lange Schmerzen haben, bis die längsseits gehen konnte.
Angst empfand Michael nicht mehr, nur Ärger. Über die unerfahrene Besatzung der Jacht, die bei diesem Wetter mitten in der Nacht unbedingt versuchen musste, in die Osterems einzufahren, statt auf See bis Sonnenaufgang den Sturm abzuwettern. Was hatten sie überhaupt so früh im Jahr da draußen zu suchen? Er stellte sich die Borkumer Kollegen vor, die noch längst nicht über den Tod ihrer Kameraden hinweggekommen waren und jetzt für diese Stümper ihr Leben riskieren mussten.
Dann kam der zweite Notruf. Es war fünf nach halb zwei. Der deutsche Seeschlepper hatte nach dem Brechen einer Trosse nördlich von Ameland das von ihm geschleppte Schwimmdock verloren. Die niederländische Küstenwache antwortete und fragte nach der Position. Drei Mann waren auf dem Dock und fünfzehn an Bord des Schleppers. Die versuchte, eine neue Leinenverbindung herzustellen, aber man machte sich Sorgen um die drei auf dem Dock.
Michael richtete sich auf und horchte. Das Rettungsboot von Ameland schaltete sich ein und meldete, dass es im Begriff sei auszulaufen. Dieser Notruf betraf die nicht, weil sich alles zu weit westlich abspielte. Außerdem war der Schlepper selbst unbeschädigt, und die drei Mann auf dem Dock schwebten auch nicht unmittelbar in Gefahr. Das Schwimmdock würde im schlimmsten Fall bald auf Grund laufen, das kenterte bestimmt nicht. Ameland würde allein damit fertigwerden.
Doch als die und die auf einen anderen Kanal umschalteten, sagte Michael zu Heiko, Atte und Tade, sie sollten weiter Kanal 16 abhören, während er die Kommunikation zwischen dem Schlepper und den Niederländern verfolgen wollte. Der Kapitän der klang ruhig; wie ein Flugkapitän, der die Passagiere vor der Landung über das Wetter am Zielort informiert.
Der Leuchtturm von Schiermonnikoog mischte sich ins Gespräch und gab eine deutlich andere Position des Schleppers durch. Das Schiff lag nördlich der Rottumerplaat gerade noch innerhalb des Fahrwassers.
Der Kapitän der , ganz von dem Versuch in Anspruch genommen, eine neue Schlepptrosse an das Schwimmdock zu übergeben, beendete vorläufig das Gespräch. Michael horchte in die Stille. Nach einer Viertelstunde streckte er gerade die Hand nach dem Funkgerät aus, um auf den allgemeinen Notkanal zurückzuschalten, als das Gespräch wiederaufgenommen wurde. Es war die Stimme des Kapitäns, nun nicht mehr so ruhig. »Mayday, Mayday!«, rief er. »Wir sind mit dem Dock kollidiert und machen Wasser. Mayday, Mayday!« Bevor die reagieren konnte, antwortete Michael. »Hier die , Norderney. Wie ist Ihre Position?«
»Mayday, Mayday«, wiederholte der Kapitän. »Das Achterschiff macht Wasser.«
Der Leuchtturm von Schiermonnikoog schaltete sich ein. »Die von uns ermittelte Position ist 53° 43' Nord, 6° 26' Ost.«
»Wir kommen«, meldete die .
» ist auch auf dem Weg«, sagte Michael.
Und so kam es, dass Michael Waagmann mit dem Seenotkreuzer von Norderney in...