E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Deen Über alte Wege
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8321-8453-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Reise durch die Geschichte Europas
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8453-7
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Menschen reisen seit einer Million Jahre durch Europa. Unter jedem Fußabdruck befindet sich ein früherer, unter jeder asphaltierten Straße ein Esels- oder Karrenweg. Der niederländische Schriftsteller Mathijs Deen möchte unseren Blick für die großen Straßen Europas schärfen, spielen sie doch die heimliche Hauptrolle in der Geschichte unseres Kontinents. Denn von dem Augenblick an, als der erste Mensch von Afrika kommend europäischen Boden betrat, sind wir unterwegs. So nähert sich Mathijs Deen dem wahren Geist Europas, in dem er den Lebenswegen von Vertriebenen, Wegelagerern, Pilgern, Glücksjägern und Rennfahrern folgt, deren faszinierende Leben sie entlang der Küsten und über die Flüsse und Straßen Europas geführt haben – von Byzanz nach Rom, von Wassenaar nach Smolensk, von Paris nach Wien. Er porträtiert die ersten Europäer ebenso wie historisch verbürgte Personen. Dem Leser begegnen jüdische Flüchtlinge, Soldaten, isländische Eroberinnen und zwangsverheiratete römische Ehefrauen: ›Über alte Wege‹ nimmt den Leser mit auf eine abenteuerliche Fahrt durch Europa und eine faszinierende Reise durch die Zeit. Und es nimmt in den Blick, was uns verbindet und Europa zu dem gemacht hat, was es heute ist.
Weitere Infos & Material
DAS IDEAL Genf, Hauptverwaltung (2015) E 8: London – Colchester – Harwich (ferry to Hook of Holland and to Antwerp, boat to Esbjerg). Hook of Holland – The Hague – Gouda – Utrecht – Amersfoort – Oldenzaal – Osnabrück – Oeynhausen – Hanover – Magdeburg – Berlin – Poznan – Krosniewice – Lowicz – Warsaw – (USSR). Aus: Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries, Vereinte Nationen, Genf 1950 Dass es ein zentral verwaltetes Netz europäischer Straßen gibt, Straßen, die über Tausende von Kilometern den gesamten europäischen Kontinent bis weit nach Asien hinein überspannen und die Territorien benachbarter Klans, Handelspartner, vorläufiger Freunde, erbitterter Feinde und Sprachfamilien miteinander verbinden, ist nicht Teil eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Nur Menschen mit einem sehr speziellen Interesse daran wissen, wer für die Existenz dieses Netzes verantwortlich ist. Wen eine Midlife-Sehnsucht dazu treibt, allein eine große Entfernung zurückzulegen, der richtet den Blick viel lieber auf die Neue Welt, auf die Route 66 oder die Panamericana. Das Vorhaben, zum Zweck der Läuterung oder persönlichen Weiterentwicklung die E 30 zu bezwingen, dürfte auf wenig Verständnis treffen. Die europäischen Straßen spielen keine Rolle in sinnstiftenden nationalen Erzählungen, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Hier keine Früchte des Zorns, hier kein nation building entlang der Routen, die den Kontinent erschlossen haben, keine Inbesitznahme der Landschaft entlang der Nervenbahnen aus Fernstraßen. Das ist leicht zu erklären. Die europäischen Verkehrswege gibt es schon seit Tausenden von Jahren, sie verdanken ihre Existenz der Migration, dem Handel und Eroberungen. Sie gehören niemandem im Besonderen. Sie führen über einen zersplitterten Kontinent, der seit jeher von vielen verschiedenen, häufig verfeindeten Klans bewohnt wurde. Grenzüberschreitende Verkehrswege verlaufen über das Terrain der Nachbarn, und ob man auf deren Wohlwollen rechnen darf, ist die große Frage. Die »Visionäre«, die sich mit mehr oder weniger Recht als Schöpfer solcher Verbindungen sahen (die Römer, Napoleon, Hitler), ließen Straßen bauen, um Gebiete ihrer Kontrolle zu unterwerfen, um Truppen zu bewegen und zu versorgen. Wo Straßen kamen, folgten Armeen. Überregionale Straßen brachten nur selten Gutes. Kaum hatten sich Menschen in Europa angesiedelt, fingen sie an, sich gegenseitig umzubringen. Archäologische Funde konfrontieren friedliebende Wissenschaftler regelmäßig mit Beweisen dafür, dass der Mensch und seine nächsten Verwandten seit jeher Fremde nur selten in Ruhe gelassen haben – es sind Beweise in Gestalt eingeschlagener Schädel oder gründlich abgenagter menschlicher Knochen. »Krieg, so alt wie die Menschheit«, titeln dann die Zeitungen, oder: »Auch Jäger und Sammler bekämpften sich«. Diese Relikte widerlegen die Vorstellung, der Krieg sei erst von Menschen erfunden worden, die sich dauerhaft an einem Ort niederließen, also eine Heimstätte zu verlieren hatten. »Interessant ist das Ausmaß der Gewalt«, zitieren die Zeitungen immer wieder einmal Archäologen, die darauf hinweisen, dass die gefundenen Knochen offensichtlich mit Absicht gebrochen oder zertrümmert worden waren. Seit seiner Besiedelung durch Menschen war Europa ein Kontinent voller Konflikte, auf dem es sogar für Gruppen umherstreifender Jäger nicht einfach war, einander dauerhaft aus dem Weg zu gehen. Der Kontinent ist eine Halbinsel, durchkreuzt von Wegen, die an Meeresküsten, Flüssen und Gebirgen endeten. Isolierte, vielleicht infolge von Klimaveränderungen voneinander getrennte Klans zogen wie träge Zyklone durch ihre Jagdgebiete. Von den Tiefebenen des Nordens aus gesehen, schien die Welt nach Osten hin endlos, doch nordwärts fließende Ströme behinderten hier das Weiterkommen. Wenn die Europäer Artgenossen begegneten, gerieten sie schnell aneinander. Massengräber voller Steinzeitmenschen, die auf grässliche Weise zu Tode gebracht worden sind, von Cäsar ausgerottete germanische Stämme, von Napoleon aus dem Dorfleben gerissene und über schneebedeckte Straßen getriebene Bauernsöhne – all dies verwundert niemanden. Der Gedanke, dass es möglich sein müsste, Konflikte innerhalb Europas zu entschärfen oder sogar zu vermeiden, indem man die verschiedenen Territorien mithilfe guter Verkehrswege füreinander öffnet, erscheint daher beinahe rührend naiv. ~ Und doch war es genau diese Vorstellung, die 1947, also kurz nach dem bis dahin gewaltigsten Gemetzel auf europäischem Boden, Abgesandte der verschiedenen europäischen Klans zusammenführte. Gemeinsam wollte man über ein Netz von Straßen nachdenken, das die Territorien ehemaliger Feinde verbinden sollte. Die Pläne wurden im Palais des Nations in Genf ausgearbeitet, dem späteren europäischen Hauptsitz der erst kurz zuvor gegründeten Vereinten Nationen. Einen Speerwurf entfernt vom Ort Genava, in dem Cäsar im Jahr 58 v. Chr. eine Brücke über die Rhône vorfand, von den damaligen Einwohnern, den Allobrogern, erbittert gegen alle benachbarten Stämme verteidigt, die sie benutzen wollten. In den Jahren 1947 bis 1950 wurden auf den Sitzungstischen der Wirtschaftskommission für Europa Landkarten ausgerollt. Die Abgesandten – Diplomaten, Ingenieure, Regierungsbeamte –, die an diesen Tischen auf die vertrauten Küstenlinien, Flussläufe, Gebirge und Staatsgrenzen blickten, gingen davon aus, dass eines unabdingbar sei, um Europa aus der Katastrophe in eine bessere Zukunft führen zu können: gegenseitige Erreichbarkeit. Sie versuchten, im Wirrwarr der Straßen ein großes Muster zu erkennen, ein Gewebe aus überregionalen Verbindungen zwischen West und Ost, Nord und Süd, wie ein Netz, mit dem sich durch einen einzigen Wurf der gesamte Kontinent einfangen ließe. Irgendwo musste man anfangen, doch von Beliebigkeit konnte bei dieser Aufgabe keine Rede sein. Die erste der vorgeschlagenen Routen verlief daher gleich ein Stück über See (Southampton – Le Havre), denn es war nun einmal bei allem Bemühen um Neutralität geradezu undenkbar, dass die erste europäische Straße der Zukunft, die E 1, nicht London und Paris verbinden würde, die Hauptstädte der Alliierten Großbritannien und Frankreich. Eingedenk der europäischen Geschichte ließ es die Kommission nicht dabei bewenden, sondern zog die Route weiter zum historischen Anfangs- und Endpunkt aller europäischen Straßen: Rom. Und weil das Ideal, dem sich diese Verkehrsplaner verpflichtet fühlten, ein so umfassendes war, führten sie die Straße sogar über Rom hinaus, weiter und weiter bis hin zur natürlichen Grenze des Kontinents, dem Mittelmeer. Als Endpunkt wurde Palermo auf Sizilien gewählt, vielleicht weil die Bewohner der Insel die Alliierten bei ihrer Landung unterstützt hatten. Brindisi, seit zwei Jahrtausenden Zielort der Via Appia und deshalb eigentlich die näherliegende Wahl, war als letzte Station für die E 2 vorgesehen, die ebenfalls in London begann, aber über Reims und Mailand führte. Die ersten Routen sahen auf dem Papier ebenso selbstverständlich wie visionär aus. Fast alle folgten den alten römischen Straßen. Unter jedem Fußabdruck auf europäischem Boden liegt ein noch älterer. Unter jeder Straße liegt ein Weg, ein Pfad, den Vorfahren ausgetreten haben, ob als Händler oder Eroberer. ~ Natürlich fiel die Initiative zum Wiederaufbau nicht vom Himmel. Wie Frank Schipper es in seinem Buch Driving Europe anschaulich dargestellt hat, begannen vorausblickende Regierungsbeamte schon auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, vorsichtig Bilanz zu ziehen. So vieles war zerstört, das man nach dem Ausbruch des Friedens nicht einfach sich selbst überlassen konnte. Deshalb befassten sich die Regierungen der Alliierten eingehend mit Planungen zum Wiederaufbau dessen, was ihre Armeen gerade zerbombten und zerschossen. Nach der Kapitulation Deutschlands wurde diese Aufgabe von der European Central Inland Transport Organization (ECITO) übernommen, und nachdem die Vereinten Nationen erst sich selbst und bald darauf die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) gegründet hatten, fand das Ideal seine würdige Heimstatt in Genf. Dass die ehemaligen Kriegsgegner an einem Strang ziehen sollten, nicht nur beim Wiederaufbau, sondern auch, indem sie großzügig grenzüberschreitende Verkehrswege anlegten, war natürlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Dennoch wurden gleich die ersten vorgeschlagenen Fernstraßen im Nachkriegseuropa so entworfen, dass sie Erzfeinde miteinander verbanden. Die E 1 und E 2 sollten von London aus über Frankreich nach Italien führen, die E 3 (Lissabon – Paris – Stockholm) durch das Herz des zerstörten Deutschlands. Hätte man 1947 die E 3 befahren können, so wären vor allem die Abschnitte durchs Ruhrgebiet, durch Hannover und Hamburg wenig ermutigend gewesen; nur auf kürzeren Teilstrecken bei Oberhausen und Hamburg wäre man verhältnismäßig glatt durchgekommen, weil Hitler dort bereits gute Verbindungen hatte anlegen lassen. Im Jahr 1950 war der Plan fertig. Er wurde in der Declaration on the Construction of Main International Traffic Arteries festgeschrieben. Vorgeschlagen wurden erst vierundzwanzig, dann...