E-Book, Deutsch, 253 Seiten
Del Amo Der Menschensohn
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1020-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 253 Seiten
ISBN: 978-3-7518-1020-3
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jean-Baptiste Del Amo, 1981 in Toulouse, Frankreich, geboren, ist Schrifststeller. Nachdem er für seinen Debütroman Die Erziehung den Prix Goncourt erhielt, wurde er für seinen vierten Roman Tierreich mit dem Prix du livre inter ausgezeichnet.
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Der Anführer hält inne, hebt das Gesicht zum Himmel und für den Bruchteil einer Sekunde deckt sich der dunkle Kreis seiner Pupille mit dem weißen Kreis der Sonne, der Stern trifft blitzartig die Netzhaut und das im Mutterschlamm kriechende Wesen wendet den Blick ab, um das Tal zu betrachten, durch das es zusammen mit den Seinen zieht: Eine von den Winden gepeitschte Heide mit karger Vegetation, durchsetzt von kümmerlich gewachsenen Sträuchern; eine trostlose Erde, über der das Bild des Tagesgestirns als Negativ schwebt, ein schwarzer Mond über dem Horizont.
Sie wandern seit Tagen in Richtung Westen gegen den beißenden Herbstwind. Struppige Bärte verdecken das harte Gesicht der Männer. Frauen mit geröteten Gesichtern tragen unter abgewetzten Fellen ihre Neugeborenen. Viele werden unterwegs sterben, von der Kälte blau gefroren oder von der Ruhr dahingerafft, wenn sie vom fauligen Wasser aus den Wasserlöchern trinken, an denen die wilden Herden ihren Durst löschen. Mit den bloßen Fingern oder mit ihren Klingen werden die Männer für sie traurige Löcher in den Boden graben.
Dort hinein werden sie den eingewickelten Körper legen, der in der Nacht des Grabs noch kümmerlicher erscheinen wird; sie werden ein paar entbehrliche Sachen hineingleiten lassen, das Fell, in dem das Kind sich zusammenrollte, ein Püppchen aus Hanf, eine Kette aus Knochen, die sich bald unterschiedslos mit denen des kleinen Toten vermischen. Sie werden ihm ein paar Handvoll Erde ins Gesicht werfen, die seine Augen und seinen Mund verschließen, dann werden sie schwere Steine auf den Grabhügel legen, um den sterblichen Überrest vor Aasfressern auf Nahrungssuche zu schützen. Schließlich werden sie weiterziehen, und allein die Mutter wirft vielleicht einen letzten Blick über ihre Schulter in Richtung des kleinen funkelnden Erdwalls, der schnell vom Schatten eines Hügels verschluckt wird.
Ein alter Mann schleppt seinen abgemagerten Körper unter einem fettigen Fell, dessen Haare sich im Rhythmus der Windböen wiegen. Früher einmal hat er selbst die Gruppe geführt, über die Hochebenen und die Täler, entlang der Wasserläufe mit dicht gesäumten Ufern, hin zu fruchtbaren Erden, milden Himmeln. Nun folgt er mit großer Mühe jenen, die jünger und kühner sind als er, die an der Spitze des Zuges gehen, die am Ende des Tages beschließen, das Lager aufzuschlagen, und im Morgengrauen, es wieder abzubrechen. Und vielleicht entzünden sie am Eingang einer Höhle, bei der sie Halt machen, ein Feuer, das die Nacht aufreißt und dessen Flammen die Umrisse von Höhlenwesen beleuchten, die andere vor ihnen im zitternden Schein einer Fettlampe gezeichnet haben.
Im Herzen der Finsternis pressen sie ihre rauen Leiber unter den großen Fellen, aus denen nur ihre Gesichter hervorschauen, eng aneinander. Ihr Atem dampft und ihre Augen bleiben lange geöffnet, während die Mütter versuchen, weinende, ihre Lippen an Brustwarzen reibende Säuglinge zu beruhigen. Manche der Männer sprechen mit leiser Stimme, sie entfachen die Glut, die rotglimmend aufsteigt – ihr Widerschein huscht wie ein Satellit durch die Iris der nächtlichen Wächter –, sie schwirrt umher, als strebte sie danach, in die himmlische Weite zu gelangen, wo andere Gestirne verbrennen, ehe sie vom gierigen Herzen der Nacht verschlungen werden.
Die sie bedeckenden Felle ermöglichen eine Promiskuität, die sie zur Paarung drängt. Manchmal, ohne Rücksicht auf das Kind, das sie noch an ihrem Bauch wärmt, packt das Männchen den Hintern, den das Weibchen ihm kaum unterscheidbar hinhält oder aber verweigert, traktiert das Geschlecht, das er zuvor mit seiner dickflüssigen Spucke benetzt hat, und windet sich zuckend, bis er sich in ihr entlädt. Ehe es ihren Oberschenkel hinunterläuft, während sie wieder einschläft, wird das Sperma vielleicht das Weibchen befruchten, das dann, die Zähne in einem Stück Holz verbissen, drei Jahreszeiten später im Schatten eines Strauches gebären wird, in der Nähe eines von der Gruppe für die Zeit der Niederkunft aufgeschlagenen Lagers.
In der Hocke, gehalten von den Armen anderer Frauen, die abwechselnd ihre Stirn, ihre Waden, ihr Geschlecht abtupfen, wird sie die Frucht ihrer Begattung direkt auf den Boden ausstoßen oder aber in die Hände einer Hebamme. Mit der Klinge eines Feuersteins wird die Nabelschnur durchschnitten werden. Das ins Licht gezogene und auf den leeren Beutel des Bauches gelegte kriechende Ding wird das Kolostrum aus der Zitze trinken und so den für sein Überleben notwendigen Kreislauf einleiten, in dem es unaufhörlich die Welt verschlingen und wieder ausscheiden wird.
Falls das Kind die ersten Sommer und die ersten Winter überlebt, falls sein sterblicher Überrest sich nicht zu den bereits zurückgelassenen gesellt – ein solcher, vom Marder zu einem kleinen Teich getragen, erhält sich eine Zeitlang noch als halb im Schlamm steckender Brustkorb, und aus dem Rippenbogen, ehe dieser zu Staub zerfällt, sprießt der knochenweiße Stängel eines Ackerschachtelhalms hervor –, wird es bald mit den Seinen laufen, in ihre Mitte aufgenommen, wird den Weg der Sterne entziffern, Steine zerschlagen, um Feuer und Klingen aus ihnen zu gewinnen, das Geheimnis der Pflanzen kennenlernen, Wunden verbinden und die Körper der Toten für ihre letzte Reise vorbereiten.
Vielleicht wird dem Kind ein Aufschub gewährt und es erreicht jenes Stadium, in dem sein bereits ermüdetes Fleisch ihm befiehlt, sich fortzupflanzen. Dann wird es ohne Unterlass danach streben, mit einem der Seinen zu verschmelzen, wird wahllos und tastend ein anderes dieser elendigen Wesen umarmen, in der Kälte einer flammenden Nacht, während die Milchstraße über ihnen den Himmel verwirbelt. Nachdem es wandernd ein Stück Erde erkundet, eine Handvoll fahler Morgengrauen und Dämmerungen erlebt, die Leuchtkraft der Kindheit ebenso erfahren hat wie den unaufhaltsamen Verfall des Körpers, verendet es auf die eine oder andere Weise, noch ehe es das Alter von dreißig Jahren erreicht.
Doch zur Stunde gehört das Kind noch dem Nichts; es ist nur eine winzige, eine kaum haltbare Wahrscheinlichkeit, während die Horde der Menschen mit gesenktem Kopf im Sturmwind voranschreitet, eine vertikale, unermüdliche und zerlumpte Herde. Sie tragen auf ihren Schultern oder ziehen auf Stangenschleifen gegerbte Lederhäute und von ihren Händen geformte Tonwaren, die Fettreserven bergen. Sie bewahren darin die unterwegs gesammelten Wurzeln, Nüsse, Früchte und Beeren auf, von denen sie sich ernähren, indem sie auf dem getrockneten Fruchtfleisch herumkauen, den Fasern, die sie durch ihren Speichel genießbar machen, und schlucken den mal bitteren, mal süßlichen Saft.
Nach wochenlanger Wanderung erreichen sie das Ufer eines fischreichen Flusses mit einem gewundenen Strombett, das so weit das Auge reicht eine weite Ebene durchquert, in der die Schatten der von Ost nach West treibenden Wolken spuken. Die Schatten huschen dahin und sind dem Lauf der Wolken voraus, verdunkeln ganze Teile der Landschaft, graben die Schluchten, ebnen die Torfmoore, verdichten die Wälder, deren grünliches Braun plötzlich zu rußigem Schwarz wird, und verwandeln das Wasser der Sümpfe in riesige Glasflächen, ganz mit trockenen Binsen gespickt, die im Wind rascheln, als wären es Flügel von Insekten. Die Wolken mit den makellosen Spitzen verziehen sich und der Tag bricht von Neuem an, lässt wieder die Erde erglühen. Ein Reiherschwarm erhebt sich über den Mooren; der Pfeil ihrer Hälse zerteilt die Luft und ihre ausgebreiteten Flügel blitzen im elektrischen Blau.
Die Menschen machen Halt und schlagen das Lager auf. Einige der im Fischfang geschicktesten tauchen in die Strömung ein, die gegen die Felsen schäumt oder an den vom Wasser bis hierher geschwemmten Baumstämmen sprudelt. Die Fischfänger arbeiten sich am Ufer entlang vor und suchen den Wassergrund ab. Die Oberfläche wirft das Spiegelbild ihrer affenähnlichen Gesichter zurück und, darüber, das des nebligen, auf dem Gesprenkel der vom Fluss gerollten und geschliffenen Steine schwebenden Himmels. Vom Tosen des Stroms und der Konzentration, die sie aufbringen müssen, um das Funkeln des Wildwassers mit dem Blick zu durchdringen, werden die Fischer rasch in eine Art Trance versetzt. Nach vorn gebeugt, mit pendelnden Armen, die Gischt bis zu den Schenkeln oder zur Taille, streichen sie mit den Fingerspitzen über die Wasseroberfläche und bewegen sich vorwärts wie braune, vom Fluss geformte Stelzenläufer.
Einer von ihnen beugt sich weiter nach vorn und taucht seine Arme in den Strom. In einem Becken mit ruhigem Wasser, beiderseits eines am Ufer liegenden Baumstamms, nimmt der Fischer das geisterhafte Schweben eines Lachses wahr, der gegen die Strömung ablaicht, seine metallischen Lichtreflexe verschmelzen mit dem sich ständig ändernden Gewoge. Er nähert sich ihm in extremer Langsamkeit, gibt Acht, dass sein Schatten ihm nie vorauseilt. Er lässt seine Unterarme im Wasser schweben – dessen Oberfläche verzerrt ihren Anblick so stark, dass die beiden Gliedmaßen nun vom Fischer abgetrennt zu sein scheinen, zu der in sich geschlossenen Wirklichkeit des Flusses gehörend – und er lässt das Auge des Lachses nicht aus dem Blick, die goldgesprenkelte Pupille, die schillernde Opaleszenz der Voraugenschuppen.
Mit unendlicher Vorsicht führt der Fischer seine Hände unter dem Bauch des Lachses zusammen und für einen Augenblick sieht es so aus, als...




