E-Book, Deutsch, 416 Seiten
del Toro / Kraus Trollhunters
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18442-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-18442-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Guillermo del Toro wurde 1964 in Guadalajara, Mexiko, geboren, wo er auch die Filmschule besuchte. Heute zählt Del Toro, der mit Werken wie 'Pans Labyrinth' und 'Hellboy' Filmgeschichte schrieb, zu den bekanntesten und erfolgreichsten Regisseuren der Welt. Für seinen Film 'The Shape of Water - Das Flüstern des Wassers' wurde Guillermo del Toro mit einem Oscar ausgezeichnet. Nach 'Die Saat' arbeitet er nun erneut mit Bestsellerautor Chuck Hogan zusammen.
Weitere Infos & Material
Ihr seid Futter. Eure Muskeln, die ihr anspannt, um zu gehen, zu sprechen oder etwas hochzuheben? Nur Fleischklopse, garniert mit saftigen Sehnen. Eure Haut, die ihr so oft prüfend im Spiegel betrachtet habt? Ein Auflauf aus diesem leckeren Gewebe ist für Kenner eine Delikatesse. Und eure Knochen, die euch die Kraft verleihen, um im Leben euren Weg zu machen? Sie brechen zwischen knackenden Zähnen, wenn geifernde Mäuler ihr Mark schlürfen. Das alles ist keine angenehme Vorstellung, doch es ist hilfreich, von diesen Dingen zu wissen. Es gibt nämlich Wesen auf dieser Welt, die nicht nur in ihren Höhlen kauern und darauf warten, dass wir sie fangen und über dem Feuer braten. Diese Wesen haben ihre eigenen Jagdmethoden, ihre eigenen Feuerstellen und ihre ganz eigenen Vorlieben.
Jack Sturges und sein kleiner Bruder Jim wussten nichts von all dem, als sie in ihrer Heimatstadt San Bernardino auf ihren Fahrrädern einen ausgetrockneten Kanal entlangjagten. Es war der 21. September 1969, ein herrlicher Tag einer längst vergangenen Epoche. Im Osten floss das Licht der Abenddämmerung über den Gipfel des Mount Sloughnisse, aus den umliegenden Straßen war das Summen von Rasenmähern zu hören, der Chlorgeruch eines Swimmingpools lag in der Luft, und aus einem Hinterhof zog der rauchige Duft gegrillter Hamburger.
In der Tiefe des Kanals konnten die beiden Jungen, unbeobachtet vom Rest der Welt, ihre Schießereien austragen. An diesem Spätnachmittag kämpfte wie immer Victor Power (Jack) gegen Doctor X (Jim). Sie umkurvten Schutthaufen und feuerten mit ihren Strahlenkanonen aus Plastik, und dass Victor Power wie immer der Sieger blieb, lag diesmal ganz entschieden an seinem neuen Fahrrad, einem kirschroten Rad der Marke Sportcrest, an dem noch die Schleifen hingen. Jack hatte es erst heute zu seinem dreizehnten Geburtstag bekommen, aber er steuerte es, als hätte er nie ein anderes Rad besessen, sauste mörderische Uferstellen hinauf und pflügte durch Gestrüpp, manchmal sogar freihändig, um besser zielen zu können.
»Du kriegst mich nie!«, rief Victor Power.
»Und ob!«, keuchte Doctor X. »Ich werde … warte … jetzt warte doch, Jack!«
Jim – oder »Jimbo«, wie sein Bruder ihn nannte – schob seine Brille mit den dicken Gläsern, die gebrochen und mit einem Pflaster geklebt war, die schweißüberströmte Nase hinauf. Er war acht und für sein Alter eher klein. Sein ramponiertes gelbes Schwinn war viel schlichter als das Sportcrest und außerdem so groß, dass er Stützräder dafür brauchte. Dad hatte ihm versprochen, dass er bald hineinwachsen würde. Darauf wartete Jim noch immer. Bis es so weit war, musste er sich aufrichten, wenn er ordentlich Fahrt aufnehmen wollte, aber dann konnte er mit seiner Strahlenkanone nicht mehr richtig zielen. Doctor X war chancenlos.
Das Sportcrest schoss durch einen Müllhaufen. Kurz darauf folgte Jim mit quietschenden Stützrädern. Als er den zusammengequetschten Milchkarton sah, blieb er mit einer Drehung stehen. Auf der Seite des Kartons war das Gesicht eines lächelnden Mädchens aufgedruckt, darunter stand VERMISST. Jim schauderte. Auf diese Weise wurde bekannt gegeben, wenn wieder ein Kind vermisst wurde. Das passierte andauernd.
Ein Jahr zuvor war das erste Kind verschwunden, und in ganz San Bernardino waren Suchtrupps und Rettungsteams gebildet worden. Dann wurde ein zweites Kind vermisst. Dann noch eins. Eine Zeit lang suchte man noch gezielt nach jedem einzelnen, doch schon bald kam fast täglich eine neue Meldung, und irgendwann konnten die Erwachsenen nicht mehr. Die Resignation in den Gesichtern der völlig übernächtigten Eltern war das Schlimmste für Jim gewesen. Sie hatten sich der unbekannten Macht ergeben, die ihre Kinder raubte, und wenn sie am Frühstückstisch Milch in die Schüsseln ihrer Familien gossen, versuchten sie, nicht auf die Gesichter zu blicken, die auf den Milchkartons aufgedruckt waren und über denen stand:
WER HAT DIESES KIND GESEHEN?
Die letzte Zahl, die Jim gehört hatte, war 190. Dass so viele Kinder als vermisst galten, war eigentlich nicht zu glauben, aber die Veränderungen in der Stadt erlaubten keinen Zweifel: Um das Schulgelände war ein höherer Zaun errichtet worden, immer mehr Eltern überwachten die Spielplätze, und wenn Kinder nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen waren, griff sofort die Polizei ein. Normalerweise durften Jim und Jack so kurz vor Sonnenuntergang nicht mehr mit den Rädern unterwegs sein, aber heute, an Jacks Geburtstag, hatten ihre Eltern eine Ausnahme gemacht.
Als Erstes hatte Jack sein neues Rad aufgemöbelt, indem er sein Transistorradio mit einem Stück Draht an den rot glänzenden Lenker gebunden hatte. Dann hatte er es voll aufgedreht, und den ganzen Nachmittag hatten groovende Songs aus der Hitparade die beiden Brüder begleitet: Sugar, Sugar, Hot Fun in the Summertime, Proud Mary. Es mag seltsam klingen, aber diese Musik war der perfekte Soundtrack für die Lasersalven von Victor Power und Doctor X. Solange Jim nicht an die Milchkartons dachte, war dieser Nachmittag der beste in seinem Leben.
Aus dem Radio an Jacks Fahrrad erklang jetzt What’s Your Name? von Don and Juan, ein Liebeslied, das Jim nicht besonders mochte, dessen sehnsüchtiges Säuseln aber irgendwie zur Stimmung des vergehenden Tages passte. Die Sonne ging rasch unter, morgen fing die Schule wieder an, und der letzte Kilometer bis nach Hause war vielleicht das letzte Aufflackern des Sommers, bevor der Herbst und der Alltagstrott ihn wie die Flamme einer Kerze erstickten.
Jim blinzelte in die Sonne. Jack trat so heftig in die Pedale, dass die Vögel davonstoben und wahrscheinlich erst wieder landen würden, wenn sie ihr Winterquartier im Süden erreicht hätten. Er johlte vor Freude, während im Windschatten des Sportcrest Laub aufwirbelte. Gleich würde er unter der Holland Transit Bridge hindurchsausen, einem Klotz aus Stahl und Beton. Oben auf der Brücke fuhren ein paar Autos, und darunter breitete sich eine Dunkelheit aus, die so tief und schwarz war, dass einem die Augen wehtaten, wenn man hineinsah.
Jim musste ihn unbedingt einholen. Er wollte, dass sie gleichzeitig als Brüder nach Hause kamen, als Jack und Jim Sturges, und nicht als das immer gleiche Paar von Gewinner und Verlierer, als Victor Power und Doctor X. Er richtete sich auf und trat mit aller Macht in die Pedale. Die Stützräder protestierten – quietsch, quietsch, quietsch –, doch Jim holte alles aus seinen Beinen heraus. Er wünschte, sie wären kräftiger und länger.
Als er wieder aufsah, war Jack nicht mehr da.
Unter der Brücke lag, im Licht der untergehenden Sonne, nur das Sportcrest. Der Lenker war verbogen, und das Vorderrad drehte sich noch. Jim raste schon auf die Brücke zu, trat jetzt aber rückwärts und brachte sein Schwinn ein paar Schritte vor dem Dunkel unter der Brücke schlitternd zum Stehen. Keuchend stand er da, die Beine über dem Mittelrohr gespreizt, und hielt in der Finsternis Ausschau nach seinem Bruder.
»Jack?«
Das Vorderrad des Sportcrest drehte sich noch immer, als träte Jacks Geist weiter in die Pedale.
»Komm schon, Jack. Sei nicht so blöd. So schnell kriege ich keine Angst.«
Die einzige Antwort kam von Don and Juan. Ihr Harmoniegesang hallte von den Wänden wider und wurde zu einer gruseligen Wehklage:
»I stood on this corner, / Waiting for you to come along, / So my heart could feel satisfi-i-i-ied …«
Mit ploppenden Geräuschen wie von gedämpften Böllern gingen eine nach der anderen die Laternen neben Jim an und verbreiteten ihr gelbliches Licht im Kanalbett. Jetzt war es endgültig Nacht. Sie hatten draußen nichts mehr zu suchen.
»Wenn wir nicht gleich zu Hause sind, kriegen wir wochenlang Hausarrest. Jack?«
Jim schluckte, stieg ab und umfasste die Strahlenkanone fest mit seiner verschwitzten Hand. Dann ging er, das Fahrrad neben sich schiebend, in das Dunkel unter der Brücke. Dort war es zehn Grad kälter. Er zitterte. Die Stützräder drehten sich langsamer, klagten aber noch immer.
Quietsch, quietsch, quietsch.
Er ging bis zum Sportcrest. Das Vorderrad drehte sich immer langsamer. Plötzlich schien es Jim, als sei dieses Rad Jacks Herz, und wenn es stillstand, wäre sein Bruder für immer verschwunden.
Er blickte in die unergründliche Finsternis. Trotz eines Tröpfelns, das nach Feuchtigkeit klang, eines Huschens, das vielleicht von Ratten stammte, des Wummerns von Autoreifen über ihm und des Wimmerns von Don and Juan rief er:
»Jack! Jetzt komm schon! Ist dir was passiert? Jack, das ist nicht komisch!«
Als der Widerhall seiner Worte ihn erreichte, zuckte er zusammen. Das gelbliche Licht der Laternen, der lilafarbene Himmel, die klamme Kälte, das Echo, das sich über seine Angst lustig zu machen schien – wie hatte sich ein Traum so schnell in einen Albtraum verwandeln können? Jim drehte sich um, sah erst in eine Richtung in der Dunkelheit, dann in eine andere, immer hastiger sprang sein Blick umher, in seiner Brust stieg ein Schluchzen auf, und seine Wangen brannten vor Furcht. Nach einer Weile hatte er in jeden Winkel geschaut, nur eine Richtung hatte er vermieden.
Langsam hob er den Kopf und sah zur Unterseite der Brücke.
Dunkel. Nichts als Dunkel.
Doch dann...