Demand / Knörer | MERKUR  11/2023 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

Demand / Knörer MERKUR 11/2023

Nr. 894, Heft 11, November 2023

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR

ISBN: 978-3-608-12178-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



In nüchternen Worten erklärt der Soziologe Sighard Neckel, warum der zur Abwendung der Klimakatastrophe notwendige radikale gesamtgesellschafliche Wandel kaum stattfinden wird. Über den Wandel der Lesegesellschaft und die Frage, ob wir uns in einer "Lesekrise" befinden, schreibt Carolin Amlinger. Wie viel menschliche Arbeit in den neuen Produkten "Künstlicher Intelligenz" steckt, führt Josh Dzieza, der mit vielen dieser Arbeiterinnen und Arbeiter gesprochen hat, sehr deutlich vor Augen.
Bei allem Respekt spart Christian Neumeier nicht mit Kritik an Gertrude Lübbe-Wolffs Verteidigung der direkten Demokratie in ihrem Buch Demophobie. Claus Leggewie zeichnet ein Porträt des in der Bundesrepublik – nicht zuletzt als Geschäftsführer der Carl Friedrich von Siemens-Stiftung – allzu einflussreichen Rechten Armin Mohler.
Der Schriftsteller Joshua Cohen will den traditionsreichen Schocken-Verlag übernehmen – Kai Sina informiert über die Hintergründe. Mit dem Flugblatt-Nichtverfasser und Politiker Hubert Aiwanger setzt sich Willi Winkler auseinander. Claudia Keller berichtet von einer Reise nach Israel, wo sie Vögel beobachtet hat. In David Gugerlis Kolumne geht es um Verluste in der Technikgeschichte.
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Weitere Infos & Material


ESSAY

 

Sighard Neckel                             

Das Dilemma der sozial-ökologischen Gleichzeitigkeit

 

Carolin Amlinger

Lesekrisen.

Ungleichheiten der Lesegesellschaft und die lesende Klasse

 

Josh Dzieza

KI ist harte Arbeit

 

 

KRITIK

 

Christian Neumeier

Demolalie.

Krise und Kritik der repräsentativen Demokratie

 

Claus Leggewie                 

Das gibt einmal eine Explosion!

Armin Mohler redivivus

 

 

MARGINALIEN

 

Kai Sina                               

Die Kadenz widerrufen.

Gegenwart und Vergangenheit des Schocken Verlags

 

Willi Winkler

Aiwanger.

Eine Schulgeschichte

 

Claudia Keller

Zielart auf 11 Uhr, zwischen Blättern versteckt

 

David Gugerli                               

Verlustfrei


Beiträge DOI 10.21706/mr-77-11-5 Sighard Neckel Das Dilemma der sozial-ökologischen Gleichzeitigkeit
Als der Weltklimarat (IPCC) am 20. März 2023 seinen letzten Synthesebericht zum Stand der Erderwärmung veröffentlichte, war einmal mehr der Schrecken in der Öffentlichkeit groß, zeigte der IPCC doch abermals auf, wie rasend schnell die Klimakrise voranschreitet, die unser aller Lebensgrundlagen bedroht und dabei die Ärmsten und die am wenigsten Verantwortlichen am härtesten trifft. Aber nicht allein die vielen schlechten Nachrichten zur Zerstörung des Erdsystems sorgten dafür, dass erneut die Zukunft des Planeten in dunkelsten Farben ausgemalt werden musste. Als mindestens ebenso deprimierend wurde öffentlich wahrgenommen, dass – wie der Newsletter Climate.Table zum Erscheinen des Berichts kommentierte – »wir eigentlich alles gleichzeitig machen müssen, wenn wir das Schlimmste verhindern wollen«. Tatsächlich hatte der IPCC konstatiert, dass »schneller und weitreichender Wandel in allen Sektoren und Systemen notwendig [ist], um tiefgreifende und anhaltende Emissionsreduktionen zu erreichen und eine lebenswerte und nachhaltige Zukunft für alle zu sichern«. Jede noch so geringe Zunahme der globalen Erwärmung werde die Risiken des Klimawandels drastisch erhöhen, Kaskaden vermutlich nicht beherrschbarer Ausnahmezustände auslösen, Anpassungsoptionen unwirksam machen und das Zeitfenster schließen, in dem eine Abwendung schwerster ökologischer Krisen und Katastrophen noch möglich sei. Zudem würden sich die in diesem Jahrzehnt getroffenen Entscheidungen nicht allein auf unsere Gegenwart und die nahe Zukunft auswirken, sondern »für Tausende von Jahren« den Zustand des Erdsystems bestimmen. An diese Aussagen schloss der IPCC einen umfangreichen Maßnahmenkatalog an, der so gut wie keinen Bereich in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auslässt und in all diesen Bereichen durchgreifende und in den meisten Fällen sofortige Schritte zur Eindämmung der globalen Erwärmung fordert. Hierzu gehören unter anderem die rasche Dekarbonisierung der Industrie, die Umstellung des Finanzsektors auf nachhaltige Investments, emissionsarme Energieversorgung, Mobilitätsysteme und Infrastrukturen, eine biodiverse Landwirtschaft und weltweiter Gewässerschutz, der ökologische Umbau von Städten, eine strikte Klima-Governance in allen politischen Institutionen, soziale Schutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen zur Steigerung von Resilienz sowie schließlich Konsumreduktionen und »Verhaltens- und Lebensstiländerungen«. Ein unwahrscheinlicher Wandel
Was hier Regierungen, der Zivilgesellschaft und dem privaten Sektor abverlangt wird, geht über alles hinaus, was moderne Gesellschaften bisher an gesellschaftlichem Wandel erlebt haben, und dies in gleich mehrfacher Hinsicht: Veränderungen sollen nicht inkrementell, also allmählich in einzelnen Schritten vollzogen werden, sondern disruptiv, das heißt unmittelbar und als Abbruch bisheriger Entwicklungspfade; nicht als ein selbstläufiger und im Ganzen nicht planbarer Prozess, sondern beabsichtigt und gesteuert; nicht als Abfolge gesellschaftlichen Wandels in einzelnen Bereichen zu verschiedenen Zeiten, sondern als Gleichzeitigkeit notwendiger Transformationen in allen Gesellschaftsbereichen auf einmal. Wie unwahrscheinlich ein solcher Gesellschaftswandel ist, zeigt ein Blick in die moderne Gesellschaftsgeschichte. Gesellschaftliche Veränderungen haben sich zumeist als eigendynamische Prozesse vollzogen, deren komplexe Folgen kaum jemand vorhersehen konnte und die vielfach unbeabsichtigt und bisweilen auch unerwünscht waren. Was zum Beispiel das World Wide Web bedeutet, hat zunächst kaum jemand erahnen können. Noch 2001 prophezeiten manche Zukunftsforscher ein baldiges Ende des Internetbooms.1 Gesellschaftliche Veränderungen verliefen zudem häufig schleichend, in langsamen Schritten und wurden oft erst bemerkt, wenn sie eigentlich schon längst eingetreten waren. So konstatiert die zeitgeschichtliche Forschung, dass der kulturelle Umbruch im Westen, der sich mit »1968« verbindet, bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eingesetzt hatte.2 Für einen solchen schleichenden Wandel stellen Kriege und Revolutionen gewisse Ausnahmen dar, doch auch für sie gilt, dass ihre Folgen sich kaum je mit den Erwartungen deckten, die sich mit diesen einschneidenden Ereignissen verbanden. Schließlich blieben auch in Phasen beschleunigten Wandels viele Lebensbereiche stabil, während andere nach kurzer Zeit kaum wiederzuerkennen waren. Die Globalisierung der Märkte, die nach 1990 eingesetzt hat, dringt auch bis heute nicht überall in die letzten Ecken lokaler Lebenswelten vor. Die »Große Transformation« hingegen, wie der geforderte Umbruch der gesamten Wirtschafts- und Lebensweise allgemein heißt,3 beabsichtigt auf breiter Front einen geplanten Wandel in kurzer Zeit, da inkrementelle Veränderungen zu langsam und zu ungewiss sind, als dass sie die Erderwärmung zumindest noch unter 2 Grad halten könnten. Überdies verlangt sie nach simultanen Umbrüchen quer durch alle Sektoren hindurch, da es praktisch keinen einzigen Gesellschaftsbereich gibt, der nicht in eigener Weise zur Klimakrise beitragen würde. Im Zeitalter des Anthropozäns sind die Ursachen der globalen Erwärmung so umfassend und vielschichtig mit menschlichen Aktivitäten verwoben, dass kaum eine Handlungssphäre vom schnellen Veränderungsdruck ausgenommen werden kann. Diesen simultanen Ursachen des Klimawandels entsprechen seine verhängnisvollen Folgen, die in den pessimistischsten Prognosen der Klimaforschung als »simultane Mega-Krisen« beschrieben werden. Durch die Verkettung gleich mehrerer Kipppunkte könnten sie ein »Climate Endgame«4 einleiten, mit katastrophalen Konsequenzen für das Erdsystem und die planetaren Lebensgrundlagen. Treibhaus der Konflikte
Die Große Transformation befindet sich somit in einem Zirkel von Gleichzeitigkeiten: So gut wie alle tragenden gesellschaftlichen Systeme führen mit ihren Emissionen in der Summe einen Klimawandel herbei, der seinerseits die Gestalt untereinander verketteter simultaner Extremereignisse annehmen kann. Hierauf vermag eine Politik des Klimaschutzes nur so zu reagieren, dass sie versucht, all diese Systeme gleichzeitig zu verändern. Nicht erst in seinem Synthesebericht vom März 2023 hat der IPCC diesen Zirkel beschrieben, von dem wir nicht wissen, ob er sich nicht vielleicht als ein Teufelskreis herausstellen wird. Auch seine vorherigen Sachstandsberichte haben gleichzeitige Umbrüche in allen Sektoren gefordert, weil nur solche der multiplen Ursachen der Klimakrise Herr werden könnten. Und auch andere Stimmen im Klimadiskurs argumentieren in einer vergleichbaren Weise. So hat in Deutschland etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Klimaschutz davon gesprochen, dass im Interesse der »Schonung künftiger Freiheit« »in allen Lebensbereichen (Produktion, Dienstleistung, Infrastruktur, Verwaltung, Kultur und Konsum)« Entwicklungen eines entschlossenen Klimaschutzes einsetzen müssten, um den notwendigen Übergang zur Klimaneutralität noch rechtzeitig genug einzuleiten.5 Der Schlüssel zur Großen Transformation liegt dabei heute bei den Gesellschaften selbst, wie vom Weltklimarat bis zum Bundesverfassungsgericht zahlreiche Stellungnahmen zur Klimakrise lauten. Naturwissenschaftlich gäben der Klimawandel und seine Bekämpfung keine unlösbaren Rätsel mehr auf, auch wenn die Prognosen zu seinen Auswirkungen eine gewisse Bandbreite aufweisen. Technologisch wären genügend Verfahrensweisen vorhanden, um Energieversorgung, Produktionsstätten und Infrastrukturen zu dekarbonisieren. Finanziell lägen für Investitionen in Nachhaltigkeit weltweit immense Kapitalsummen bereit, wobei der Weltklimarat beklagt, dass ökologisch ausgerichtete Finanzströme bisher völlig unzureichend sind. Was aber vor allem fehle, sei der politische Wille, die vorhandenen Instrumente des Klimaschutzes auch wirksam einzusetzen, sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, die Große Transformation tatsächlich in Angriff zu nehmen. Diese Voraussetzungen wären gegeben, wenn in den Gesellschaften weitgehend Einigkeit über die Vorrangigkeit des Klimaschutzes und über eine nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise herrschte. Davon kann aber nicht die Rede...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.


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