Demand MERKUR 5/2021

Nr. 864, Heft 5, Mai 2021
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-608-11188-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)

Nr. 864, Heft 5, Mai 2021

E-Book, Deutsch, 104 Seiten

Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

ISBN: 978-3-608-11188-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Zentrum von Ulrich Gutmairs Essay "Kebabträume in der Mauerstadt" steht Gabi Delgado-López, der unlängst verstorbene Sänger der Band DAF – in Wahrheit geht es aber um den Zusam-menhang von "Gastarbeitern" und Popkultur und um das Mauer-Berlin der achtziger Jahre. Rengenier C. Rittersma ist Historiker und begibt sich auf eine Forschungsreise in deutsche Archive, es geht um Trüffel. In seinem Essay schreibt er über die Archive, sehr viel mehr aber über die hindernisreiche Reise, die er mit einem von seiner Kommune zur Verfügung gestellten E-Auto unternahm. Daniel Kehlmann hat gerade ein Buch über die literarische Minderbegabung Künstlicher Intelligenz veröffentlicht – Hannes Bajohr erklärt, warum Kehlmann seine Fragen so stellt, dass die Ergebnisse kaum spannend sein können. In einem weiteren Beitrag setzt sich auch Simon Roloff mit den Möglichkeiten und Grenzen digitaler Literatur auseinander. Die indische Schriftstellerin Sumana Roy hat absolut nichts gegen postkoloniale Theorie in der Literaturwissenschaft, sehr wohl aber etwas dagegen, dass Literatur, die dazu nicht passt, in den Hintergrund rückt.

In seiner Sinneskolumne beschäftigt sich Bodo Mrozek mit der Frage, was die Pandemie für unsere Sinneswahrnehmung bedeutet. Philipp Oswalt nimmt sich in seiner Architekturkolumne die Frankfurter Paulskirche vor und fragt sich, ob dieser Erinnerungsort tatsächlich einer geschichtspolitischen Revision bedarf.

Viel war in den letzten Jahren von Wutbürgern die Rede: Sighard Neckel geht einer etwas, aber nicht grundsätzlich anders gelagerten Emotion nach: dem Groll. Wolfgang Fach verfolgt Pandemie-Politiken in Gegenwart und, mehr noch, Vergangenheit. Der Arzt Michael de Ridder und der Anwalt Wolfgang Putz haben vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen den Suizidbeihilfe-Paragrafen 217 geklagt. In ihrem Beitrag legen sie ihre Argumente und Beweggründe dar. Und in Hanna Engelmeiers Schlusskolumne geht es um derzeit nur in der Fantasie und Erinnerung mögliche Reisen, um Zimmer und Zellen.

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Weitere Infos & Material


ULRICH GUTMAIR
Kebabträume in der Mauerstadt

RENGENIER C. RITTERSMA
Unter Strom.
Ein Stationendrama

HANNES BAJOHR
Keine Experimente.
Über künstlerische Künstliche Intelligenz

SUMANA ROY
Schluss mit der Schuldsteuer.
Die Überarbeitung des postkolonialen Kanons

BODO MROZEK
Sinneskolumne.
Wahrnehmung unter „Hygieneregimen“

PHILIPP OSWALT
Architekturkolumne.
Bedarf die Paulskirche einer erinnerungspolitischen Revision?

SIMON ROLOFF
Halluzinierende Systeme.
Generierte Literatur als Textverarbeitung

SIGHART NECKEL
Eingesperrt: der Groll

WOLFGANG FACH
Verseuchtes Verhalten

WOLFGANG PUTZ/MICHAEL DE RIDDER
Suizidhilfe – Aufstieg und Fall des Strafrechtsparagraphen 217

HANNA ENGELMEIER
Der Club ist voll


Beiträge DOI 10.21706/mr-75-5-5 Ulrich Gutmair Kebabträume in der Mauerstadt
Sommer 1978. Die Düsseldorfer Band Mittagspause ist auf dem Weg nach West-Berlin. George Nicolaidis steuert den Wagen. Drin sitzen Sänger Janie Jones alias Peter Hein, Gitarrist Mary Lou Monroe alias Franz Bielmeier, Schlagzeuger Markus Oehlen und Gabi Delgado-López. Gabi spielt bei Mittagspause Diktafon. Manchmal singt er mit. Vor allem aber tanzt er auf der Bühne. Mittagspause sollen beim »Mauerbaufestival« anlässlich der Eröffnung des Punk-Clubs SO36 spielen. Das Festival findet am 11. und 12. August statt, im ironischen Gedenken an den Tag des Mauerbaus am 13. August 1961. Wer damals von Düsseldorf nach West-Berlin fahren will, muss die Transitstrecke durch die DDR nehmen. An der Grenze gibt es Probleme. Gabi hat nur einen spanischen Pass, und Spanien kein Abkommen mit der DDR. Er muss aussteigen, um ein Transitdokument zu bekommen. Während er auf seine Papiere wartet, hat er Zeit, sich umzusehen. Was ihm am meisten zu denken gibt, sind rote Banner, auf denen in weißen Lettern die deutsch-sowjetische Freundschaft beschworen wird. Gabi findet, das sei wenigstens ehrlich. Zuhause in Westdeutschland könnten Poster hängen, um die deutsch-amerikanische Freundschaft zu feiern, überlegt er, aber die gibt es nicht. Stattdessen US-amerikanischen Kulturimperialismus: nachmittags die Westernserie Bonanza, abends Hollywoodfilme im Fernsehen. Ohne es in diesem Augenblick schon zu wissen, hat Gabi den Namen für eine Band gefunden. Der Trip nach West-Berlin bringt ihn aber auch auf die Idee für ein Lied, das Punk in Deutschland musikalisch, textlich und stilistisch auf den Punkt bringen wird. Und das man darüber hinaus als popmusikalische Gründungsurkunde des Einwanderungslands Almanya bezeichnen könnte. Das SO36 befindet sich in Kreuzberg, neben Wedding und Neukölln einer der ärmsten Bezirke von West-Berlin. In heruntergekommenen Altbauwohnungen und in erst vor wenigen Jahren im Zuge von Willy Brandts großem Berliner Wohnungsbauprojekt fertiggestellten Sozialbauten leben viele ehemalige Gastarbeiter und ihre Kinder. Die türkische Community ist dort präsent wie vielleicht nirgends sonst im westlichen Teil Deutschlands. Als nach dem Militärputsch von 1980 noch einmal viele Türken nach Deutschland kommen, gilt West-Berlin als größte türkische Stadt außerhalb der Türkei. Gabi fasst die Eindrücke seines West-Berlin-Ausflugs in einem kurzen Poem zusammen, und bald gibt es ein neues Stück im Repertoire von Mittagspause: »Kebabträume in der Mauerstadt || Türk-Kültür hinter Stacheldraht || Neu-Izmir ist in der DDR || Atatürk der neue Herr || Miliyet für die Sowjetunion || In jeder Imbißstube ein Spion || Im ZK Agent aus Türkei || Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!« Es sind nur insgesamt neun kurze Zeilen, die Gabi im Telegrammstil von Überschriften aus der Boulevardpresse hingeworfen hat. Sie beschreiben die gesamtdeutsche Gegenwart des Jahres 1978 auf ironische Weise: deutsche Teilung, die Insellage West-Berlins, die neue Sichtbarkeit migrantischen Lebens türkischer Provenienz in den ärmeren Vierteln deutscher Städte und die geschürte Angst vor der so genannten »Überfremdung«. Dieser ursprünglich antisemitische Kampfbegriff wird von Rechtsextremisten und ihren Sympathisanten nun gegen die als besonders fremd markierten Türken in Anschlag gebracht. Bei der Zeile »Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei« kippt Gabis Stimme leicht ins Hysterische. (Im Original von Mittagspause singt Peter Hein, aber später spielt Gabi das Stück mit Deutsch Amerikanische Freundschaft selbst noch zweimal ein.) Der Witz dieses Texts besteht offenkundig darin, dass die »Türk Kültür« als so weltverschwörungsmäßig umfassend und übermächtig dargestellt wird, dass sie nicht nur das überschaubare Territorium von West-Berliner Imbissstuben kontrolliert, in denen man Döner Kebab erstehen kann, sondern auch gleich den gesamten Ostblock. Der Untergang des Abendlands, jetzt ist er da. Die Rote Gefahr ist durch den weißen Halbmond noch zersetzender geworden – und selbst die Kommunisten, eben noch als besonders verschlagener Erzfeind aus dem Osten gezeichnet, werden der Orientalen anscheinend nicht mehr Herr. Die vielleicht größte Ironie von Kebabträume besteht aber in einem historischen Zusammenhang, der dem Szenario des Lieds unausgesprochen zugrunde liegt: Das Jahr 1961 war nicht nur das Jahr des Mauerbaus, sondern auch des Anwerbeabkommens Deutschlands mit der Türkei, das sich im Oktober 2021 zum sechzigsten Mal jährt. Zwei Monate nachdem die Führung der DDR der Massenflucht ihrer Bürger in den Westen durch Mauer und Stacheldraht ein Ende setzt, vereinbart die Regierung der Bundesrepublik Deutschland die Entsendung von Gastarbeitern aus der Türkei. Sie sollen nur zwei Jahre bleiben und dann durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Das nannte man Rotationsprinzip; daher der Begriff »Gastarbeiter«. Doch schon bald wurde das Rotationsprinzip aufgrund des Drucks westdeutscher Unternehmen gekippt. »Das war ja ’ne einzigartige Situation, umgeben von Stacheldraht, inmitten eines kommunistischen Staates diese Türk-Kültür vorzufinden in voller Blüte«, hat Gabi das in einem Gespräch kommentiert, das ich im Jahr 2010 per Telefon mit ihm führte. Nach langen Jahren in Berlin war er in seine Heimatstadt Córdoba zurückgekehrt und bereitete gerade das letzte, bis zu seinem Tod anhaltende Comeback von Deutsch Amerikanische Freundschaft vor. Wenig später werden DAF im Festsaal Kreuzberg bei einem Konzert auftreten, das als »Heimatabend« annonciert wird. Anlass unseres Telefonats war aber etwas anderes, eine Sondernummer der taz, die sogenannte Deutschlandtaz, die als Reaktion auf den immensen Erfolg von Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und seine Thesen entstand. Wir hatten uns entschieden, diese Ausgabe der Zeitung gerade nicht in einem wohlmeinend linksalternativ-multikulturalistischen Gestus als »Migrantentaz« firmieren zu lassen, was den Diskurs über fremde Elemente im Volkskörper unserer Meinung nach nur bestätigt hätte, sondern dezidiert als Deutschlandtaz. Das fand Gabis ungeteilte Zustimmung. Man kann die Zeile »Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei« als satirische Vorwegnahme von Deutschland schafft sich ab lesen. Ich fragte Gabi Delgado-López also: »Damals war es ein satirischer Pop-Slogan, heute kann man mit fast demselben Spruch Millionen Bücher verkaufen. Was ist da passiert?« Er antwortete: »Ich würde sagen: Mit einem ähnlichen Slogan. Denn wenn man sich die Nuancen ansieht, dann gibt es eine aktive Komponente bei Sarrazin: Deutschland schafft sich selber ab. Während in unserem Slogan kismetmäßig mit Deutschland etwas passiert, es also eine passive Rolle spielt. Da sehe ich den großen Unterschied, dass Sarrazin der deutschen Politik und Gesellschaft unterstellt, zu liberale Politik zu machen.« Allerdings sind die Anwerbeabkommen genauso wenig schicksalhaft über Deutschland gekommen wie Angela Merkels Entscheidung, auf die syrische Flüchtlingskatastrophe nicht mit geschlossenen Grenzen zu antworten. Eben dieser Umstand liegt der Verschwörungstheorie des zeitgenössischen, identitären Neofaschismus zugrunde: der große, von den Eliten aktiv gewollte »Bevölkerungsaustausch«. Wer die Debatten der Gegenwart verfolgt, könnte den Eindruck bekommen, erst in den vergangenen zehn Jahren, also grob seit Sarrazins Bestseller, dem größten deutschen Sachbucherfolg seit Mein Kampf, sei die deutsche Gesellschaft mit der Diskriminierung von Minderheiten, mit Fragen zu nationaler, kultureller und sexueller Identität und mit emanzipatorischen Gesten der Selbstermächtigung konfrontiert worden. Dass dem nicht so ist, lässt sich exemplarisch an der Biografie, mehr aber noch am Werk von Gabi Delgado-López zeigen, der am 18. April 1958 in Córdoba geboren wurde und am 22. März 2020 in Portugal starb. Gabi hatte ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein, er verstand sich bis zuletzt als Kommunist. Er war ein radikaler Künstler mit einem wachen Blick für Gesten, Bekleidungsstile, Images. Er liebte die deutsche Sprache und konnte den Zeitgeist lesen, jenes Konglomerat subkutaner Wünsche, noch nicht ganz ausformulierter Ideen, die sich anschicken, den gesellschaftlichen Trend zu setzen. Viele seiner künstlerischen Antworten auf zeitgenössische Fragestellungen waren ihrer...


Demand, Christian
Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010).
Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.



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