Demirkan | Septembertee oder Das geliehene Leben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 169 Seiten

Demirkan Septembertee oder Das geliehene Leben


1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1542-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 169 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1542-0
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens, was Glück war. Renan Demirkan, Schauspielerin, Autorin, politische Vordenkerin, zieht Bilanz und erzählt von ihrer Existenz als Deutsche und Türkin, vom Suchen und Ankommen, vom Finden und Loslassen. Bewegend, mitreißend und brillant geschrieben, umkreist ihr Buch diese 'zwei Leben in einer Haut', die, so Demirkans Credo, Last und Chance zugleich sind. 'Eine Schriftstellerin, die mit kleinen Gesten Großes erreicht'. NDR.

Renan Demirkan, geboren 1955 in Ankara, lebt seit 1962 in Deutschland. Sie erhielt den Grimme-Preis sowie die Goldene Kamera und den Hessischen Filmpreis, 1998 das Bundesverdienstkreuz. Ihr Roman 'Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker' (1991) stand monatelang auf der Bestsellerliste. Außerdem veröffentlichte sie die Erzählung 'Die Frau mit Bart (1994) sowie den Roman 'Es wird Diamanten regnen vom Himmel' (1999).
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II.
Rochade ins Land des Lächelns


Wohin ich immer reise,

Ich fahre nach Nirgendland.

Die Koffer voll Sehnsucht,

Die Hände voll Tand.

So einsam wie der Wüstenwind.

So heimatlos wie Sand:

Wohin ich immer reise,

Ich komm nach Nirgendland.

Mascha Kaléko, Kein Kinderlied

Ich wäre gern eine gute Schachspielerin geworden. Meinem Vater zuliebe. Um ihm das Gefühl zu geben: Mach dir bitte keine Sorgen um mich, denn ich habe einen Plan für mein Leben und auch eine Absicht, wie ich ihn umsetze.

Aber ich war nicht einmal mittelmäßig und konnte ihm weder das eine noch das andere präsentieren. Dabei hat er sich die größte Mühe gegeben. Immer wieder setzte er sich mit mir ans Brett, damit ich »das Leben kennenlerne«, wie er sagte. »Kannst du Schach, mein Kind, dann kennst du die Welt«, wiederholte er regelmäßig in einem bewusst tief angesetzten Bariton. Er sprach gern eine Terz tiefer, wenn er etwas Bedeutendes zu sagen beabsichtigte.

So saßen wir, bis ich etwa fünfzehn wurde, regelmäßig in seinen freien Zeiten an dem zusätzlichen Glastisch im Wohnzimmer, mit dem vierzig mal vierzig Zentimeter großen Schachbrett, das immer aufgebaut bereitstand. Immer am selben Platz, an der Ecke zwischen dem zweisitzigen Sofa und seinem Sessel an der Stirnseite des länglichen Couchtisches. Nur die Figuren änderten sich von Zeit zu Zeit. Mal stellte mein Vater das kleine Holzfigurenset auf, mal handgroße, gusseiserne Figuren, die ich gar nicht mochte, weil sie kalt und schwer waren wie Zinnsoldaten.

Es gab noch ein weiteres, komplettes Schachset aus beigegrünem Marmor, das er gern nur als »schöne Abwechslung«, zur Dekoration aufbaute. Einfach so, »weil ein Schachspiel auf dem Tisch schön aussieht«. Aber ich erinnere mich nicht, ob wir es je benutzt haben.

Umso genauer sehe ich in meinem inneren Kino den Film der mitunter unerträglich zähen Stunden am karierten Holzbrett.

Der Vorspann ist immer derselbe: Welche Farbe willst du?

Ich zucke mit den Schultern und sage jedes Mal: Das ist mir egal. Dann bestimmt mein Vater die Seiten.

Doch ab diesem Moment beginnt für mein jugendliches Verständnis von Rhythmus eine völlig überflüssige Zeitlupe: Mein Vater bewegt endlich seine Hand über das Brett und seine weißen Figuren, nach mehrmaligem Ausatmen, Händereiben und Sesselverrücken und nach einer weiteren, unverständlichen Ewigkeit, die Brille auf- und absetzend, zieht er schließlich mit ernstem Gesicht und äußerst bedacht und langsam mit dem Königsbauern von e 2 auf e 4. Endlich.

Ich verstehe bis heute nicht, warum man für den ersten Zug so lange überlegen muss. Obwohl mir mein Vater zigmal erklärt hat, dass ein Anfang immer über den Rest entscheidet und dass ein guter Schachspieler immer zwei bis drei Züge im Voraus denken sollte, »weil der Anfang, der erste Schritt, die Strategie des ganzen Spiels bestimmt«!

»Aber so was kann man doch nicht von vornherein wissen!«, staune ich.

»Deshalb muss man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein«, antwortet mein Vater wieder in seiner tiefen Tonlage.

»Und woher kennt man denn alle Eventualitäten?«, frage ich.

»Durch Berechnung und Erfahrung«, sagt er.

»Und wenn ich die Erfahrung nicht habe?«

»Dann musst du dich auf die Erfahrung eines anderen verlassen.«

»Und woher weiß ich, dass die Erfahrung des anderen auch auf mich zutrifft?«

»Es gibt objektive Gesetze des Lebens, die Resultanten, wie wir Statiker das nennen, die treffen auf alle zu«, sagt mein Vater.

»Und wo stehen diese Gesetze?«

Mein Vater zeigt auf die Regale um uns herum: »In all den Büchern über Geschichte und Philosophie, über Physik und Biologie.«

Darauf fällt mir keine Frage mehr ein. Ich spüre nur, dass ich noch sehr lange von den Erfahrungen meines Vaters abhängig sein werde, denn er hat einen Riesenvorsprung. Er hat all diese Bücher gelesen, ich nicht ein einziges! Da stand der gesamte Weltgeist mit all seinen Denkern in Hardcover und teilweise sogar mit Goldrand, wie die Brockhaus-Enzyklopädie, die mir schon sehr früh etwas Selbstverständliches war. Denn die erste Anschaffung meines Vaters nach unserer Ankunft in Deutschland waren sündhaft teure, steinschwere Bücher in Blau. Meine Mutter sprach tagelang kein Wort mit meinem Vater, weil sie es nicht nachvollziehen konnte, wie man so viel Geld für Bücher ausgeben kann, während man nicht einmal einen Kühlschrank im Hause hat. Ich erinnere mich auch genau, dass niemand aus der Nachbarschaft diese Anschaffung zu würdigen wusste. Ich weiß noch, wie überrascht ich war, dass die nicht nur den Brockhaus nicht kannten, sondern dass die auch sonst keine anderen Bücher hatten. Deren Schränke waren gefüllt mit Kristallgläsern und bemalten Tellern, Porzellanprinzessinnen und röhrenden Hirschen aus Holz. Nur unser Lehrer wusste den enormen Luxus zu würdigen und sah meinen Vater staunend an, als er mit der flachen Hand vorsichtig die Buchrücken berührte: »Das ist ja in Deutsch. Verstehen Sie das denn?«

Darauf zeigte mein Vater auf die anderen deutschen Bücher von Hegel, Kant und Schopenhauer und antwortete fast akzentfrei: »Im Gegensatz dazu liest sich selbst eine Enzyklopädie wie ein Kinderbuch.«

Mein Vater kaufte im Laufe der Jahre noch sehr, sehr viele Bücher, und meine Mutter stritt noch oft mit ihm. Er aber versuchte unbeirrt seine Geisteswelt zu komplettieren, er ersetzte alte Ausgaben durch neue, baute den historischen und geisteswissenschaftlichen Teil der Bibliothek auf drei Wände aus und erweiterte sie sukzessive mit medizinischer Fachliteratur über alle nur denkbaren Krankheiten.

Nach einer Weile zeigt mein Vater auf das Brett: »Jetzt konzentriere dich. Ein Großmeister kann sogar sechs bis acht verschiedene Stellungen vorbereiten, inklusive die des Gegenspielers. Den kann keiner so leicht überraschen!«

Wie armselig, denke ich, ein Leben ohne Überraschungen ist wie Verliebtsein ohne Kribbeln im Bauch.

»Es geht ums Entweder-Oder«, ergänzt mein Vater. »Entweder gewinnst du, oder du verlierst. Das Leben ist Kampf, und Schach ist eigentlich kein Spiel, sondern ein Überlebenstraining.«

So ein Quatsch, denke ich und setze zügig den Turmbauern zwei vor, von h 7 auf h 5.

»Willst du das wirklich tun?«, fragt mein Vater streng. Ich bin verunsichert und will gerade zurückziehen, da sagt er: »Was steht, das steht! Du hättest dir vorher überlegen sollen, was du tun willst.«

Und wieder beginnt seine Zeitlupe, Ausatmen, Hände reiben, im Sessel ruckeln – dann die aufsteigende rechte Hand – die Finger wollen greifen – aber nein – doch nicht – die Hand zuckt zurück – und setzt etwas später wieder von neuem an.

Währenddessen starre ich auf das schwarzweiße Karree, von klein a bis klein h waagerecht, von eins bis acht senkrecht. Das kann doch nicht das Leben sein, denke ich. Denn erstens sind Zahlen im Matheunterricht endlos, und zweitens gibt es keine Sprache mit acht Buchstaben! Und in Wirklichkeit leben Schwarz und Weiß getrennt und mischen sich fast nie. So wie unsere deutschen Nachbarn uns selten besuchen oder wir von denen eingeladen werden. Das Brett ist ein Brett, ohne Pulsschlag und Bewegung.

Mein Vater zieht den Läufer f 1 auf c 4 und bedroht meinen Bauern. Ich könnte heulen, gleich verliere ich meinen ersten Stein und würde am liebsten aufhören.

Ich frage mich, was das für ein Training sein soll? Und wozu? Ich kann zwar immer noch nicht auf die Frage antworten, »was ich mal später werden will«, aber eins weiß ich schon sehr genau: Dass ich niemals etwas machen werde, womit ich Menschen wehtun könnte oder sie demütigen müsste.

»Du hast gewonnen«, sage ich zu meinem Vater, weil ich den Bauern nicht opfern will. Darauf er: »So schnell verliert man nicht, mein Kind! Hab keine Angst und mach weiter. Der Mensch erträgt viel, sehr viel!« Dabei wird es weiß um seine Lippen.

»Sehr, sehr viel!«, wiederholt er und wirkt plötzlich tieftraurig.

Ich weiß bis heute nicht, was meinen Vater innerhalb weniger Sekunden so erbleichen ließ, als würde er ein anderer. Für Sekunden wirkte er dann hilflos und fahrig, als zerrte jemand in seinem Inneren an seinem Vorhandensein. Ich bekam Angst und hatte zugleich Mitleid mit ihm. Denn für Augenblicke verschwand mein sonst so kontrollierter und beherrschter Vater samt seiner Autorität, mit der er unser Familienleben dirigierte, hinter einer Blutleere.

Ich ahnte nur, dass es etwas mit seinem Anfang zu tun haben musste. Er selbst hatte es mir ja immer wieder gesagt: Der Anfang entscheidet über den Rest. Das heißt, es musste etwas in seiner Kindheit versteckt sein, das ihm wehtat wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt. Aber er sprach nie darüber. Zwar erzählte er manchmal in groben Zügen über die verschiedenen Abschnitte seiner Kindheit, aber nichts darüber, was er dabei empfand, was ihn freute oder ängstigte oder was er vermisst hat.

Mein Vater wie auch meine Mutter oder wir Kinder sprachen nie über Gefühle. Nicht weil wir es nicht konnten, sondern weil wir es nicht kannten. Man zeigt seine Schwäche nicht, das ist haynape, sagen die Tscherkessen, das gehört sich nicht. Also sprach man nicht über seine seelischen Zustände, sondern tat alles dafür, sich stark und stolz zu zeigen.

Obwohl mein Vater sehr oft und sehr ausführlich mit einer...



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