E-Book, Deutsch, 736 Seiten
Denemarková Stunden aus Blei
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-455-01045-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 736 Seiten
ISBN: 978-3-455-01045-9
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Radka Denemarková, geboren 1968, ist eine tschechische Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur. Als einzige tschechische Autorin ist sie dreifache Preisträgerin des Magnesia Litera Preises (in den Kategorien Prosa, Sachbuch und Übersetzung). Ihre Werke wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. 2017 war sie Stadtschreiberin von Graz, 2022 erhielt sie den Literaturpreis des Landes Steiermark. Für ihren Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude (Hoffmann und Campe 2019) wurde sie mit dem Spycher: Literaturpreis Leuk 2019 ausgezeichnet, für ihren Roman Stunden aus Blei (Hoffmann und Campe 2022) zusammen mit ihrer Übersetzerin Eva Profousová mit dem Brücke Berlin Preis 2022. 2023 wurde sie in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen.
Weitere Infos & Material
Cover
Verlagslogo
Titelseite
Widmung
Motto
Motto
Prolog
SHENG – LEBEN
Die erste Familie unter dem Himmel
Wortlose Opfergaben
DAO – WEG, METHODE
Unter dem Himmel aus Blei
Der Sitz des Jadekaisers
Wir auf dem Weg
QI – ATEM, STÄRKE, ENERGIE
Äußere Geschichte
Das ganze schwarzhaarige Volk
Die junge Frau wird uns gefährlich
Rhythmus der Himmelszeiten
MING – WORT
Die Lampe hin- und hertragen
Blei im Blut
Verbotene Städte, verbotene Wohnorte
DE – MORALISCHE KRAFT, TUGEND
Blank liegende Messerklingen
Schroffes Gestein, schroffe Gespräche
Die neue Lesefibel
Der Bogenschütze
GUI – ZURÜCKGEHEN
Eine grüne Wiese soll her
Ephemere Stunden
Dem feinsten Part der Dinge nachspüren
Regieren, indem man die Familie in Ordnung hält
JING – LEBENSKRAFT, VITALITÄT
Wolfskinder
Kein Geäst ohne Stamm
Den Beilstiel zimmern, den Beilstiel zimmern
Dreihundert Zeremonienregeln, dreitausend Benimmregeln
Zwischen vier Meeren
HUN – GEISTSEELE
Mors Tua, Vita Mea
PO – KÖRPERSEELE
Der junge Mann wird uns gefährlich
Viererlei Wege des Edlen
Allgemeine Menschwerdung
Alles, was Blut und Atem hat
Auf Panzern der Schildkröten
Purpurrebe
Auf Stängeln der Schafgarbe
Der Habicht schiesst in den Himmel, der Fisch ins tiefe Wasser
Herzgeräusche der Stadt
MO – STERBEN, VERSCHWINDEN
Gleichwertigkeit von Himmel und Erde
Paranoia
Das Nichtleben
Olivenzweig
Anmerkung
Dank
Literatur
Über Radka Denemarková
Impressum
Prolog
Pilger und Reisende überall unter dem Himmel
Der Reisebericht erscheint gestutzt, kastriert. Die Schriftstellerin beschleicht das unheilvolle Gefühl, sie hätte ihn mit zusammengebundenen Händen geschrieben. Mit Bleigewicht ums Handgelenk. Sie hat über Landschaften und Berge geschrieben, über die tausendjährige Kultur, die Sommerpaläste und Lyrik des alten China, über eierschalendünnes Porzellan, schwungvolle Weitläufigkeit und beschwerliche Schönheit, atemberaubend bis zum Ersticken. Sie hat über buddhistische Tempel geschrieben; das Ziel sei Nirwana, Verwehen von jedem Wunsch und jeder Neuschöpfungslust, selige Nichtswerdung; jede Gewalt wühle den Weltenspiegel auf und verunreinige das Karma. Sie hat über ausufernde Städte und chinesische Gärten geschrieben, über chinesische Küche, chinesische Kalligraphie und über das Feine und das Flirrende, es war witzig und kurzweilig, mit Fotos und praktischen Miniratschlägen gespickt, eine Belanglosigkeit nach der anderen. Haben Sie zu Ende gegessen, geben Sie bitte der Bedienung Bescheid, indem Sie beide Stäbchen nebeneinanderlegen, quer über den Schalenrand. Trinken Sie in Gesellschaft, ist es höflich, den anderen nachzuschenken, sobald ihre Schalen leer sind. Wird Ihnen Tee eingeschenkt, klopfen Sie zum Zeichen des Dankes leicht mit Mittel- und Zeigefinger auf den Tisch. Bedenken Sie beim Besuch der Stadt Lhasa die Höhenkrankheit; manche Hotels stellen Sauerstoffgeräte zur Verfügung.
Ein Zeitalter der Abenteurer und Reisenden bricht an. Sie werden die Welt wiederentdecken, mit eigenen Ohren und Augen, mit eigener Seele, ohne Fremdes nachzuplappern und Halbwahrheiten zu verbreiten. Ohne sich auf den trügerischen ersten Eindruck zu verlassen. In China ist alles anders, als es der erste Blick suggeriert. Da ist ein pingeliger zweiter Blick vonnöten und ein dritter und vierter, ein Blick tief unter die Oberfläche. Steht dort das Zeichen für eine Seele, die außerhalb des Körpers existiert? Steht dort das Zeichen für eine Seele, die zeitgleich mit dem Körper stirbt? Bitte beim vierten Blick nicht abwenden. China besteht nicht nur aus modernen Großstädten wie Peking, Shanghai, nicht nur aus Provinzen wie Kanton. China sind mehrere Länder in einem. Jede Provinz verfügt über ein eigenes Zentrum und eine eigene Peripherie mit miserablen Verkehrswegen, rückständigen und ärmlichen Landregionen und korrumpierten Potentaten; Armut und Reichtum lassen sich nicht verbergen.
Im neunzehnten Jahrhundert schwand Pekings Einfluss in Tibet dahin. Nur ein symbolischer Abglanz der einstigen Macht blieb übrig. Nach dem Sturz des Kaiserreichs 1912 agierte Tibet bis zur kommunistischen Invasion von 1950–1951 als ein unabhängiger Staat. Keine kommunistische Regierung will Tibet Unabhängigkeit schenken. Die kommunistischen Machthaber sind nicht einmal gewillt, sich mit dem Dalai Lama, dem geistigen Führer Tibets, auf Autonomie zu einigen. Das Gebiet ist groß, und die Chinesen haben sich eingeredet, es gehöre zum historischen China. Menschen aus Wohlstandsländern reisen gerne nach Tibet. Und berichten in den sozialen Netzwerken, was sie dort aßen und was sie dazu tranken, was sie besuchten und wo sie badeten, welche Berge sie bezwangen und in welchen Betten sie schliefen. Seltsamerweise essen und besuchen sie alle dasselbe; die Welt gleicht einer fröhlichen Wanderung durch einen Wust selbstbezüglicher Informationen. Das bestätigt die Reisenden darin, dass die Welt so aussieht, wie es im Reiseführer steht.
Alles andere würde sie beunruhigen.
1989 bekam der Dalai Lama den Friedensnobelpreis. Seitdem ist Tibet so populär wie nie. Die Stadt Dharamsala, besser gesagt McLeod Ganj, der indische Bergort, wo Seine Heiligkeit lebt, wurde zum Pilgerort für glücksuchende Idealisten; ein Pilgerort des Happy-Mind-Tourismus. Europäer und Amerikaner lassen an diesem Ort ihren Hass und Ärger los, ihre Furcht und Wut. , sagt ein tibetischer Spruch. Alles Tibetische – Buddhismus, Medizin, Kunst – wird im Westen als heilig empfunden; es verkauft sich gut. Mit der chinesischen Okkupation setzt sich niemand auseinander, niemand glaubt an die Rückkehr des Dalai Lama.
Anfangs ein Opfer der chinesischen Aggression. Heute ein Opfer des Neoliberalismus und der Touristen. Die erwarten nichts als tibetische Friedensliebe und Religiosität, Wandern mit Yaks, Meditationen auf Berggipfeln und Buttertee. Der Westen fördert großzügig alles, dem das Adjektiv tibetisch voransteht, insbesondere was Mönche, Künstler, Mystik und Heilpraktiken anbelangt. Aber es gibt keine Bereitschaft, die Tibeter in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen. Der Westen möchte keine Mönche unterstützen, von denen sich jedes Jahr welche aus Protest gegen die chinesische Okkupation bei lebendigem Leib verbrennen.
Für den Westen ist Selbstverbrennung keine Option.
China ist Lächeln und Geduld.
Diese Teile des Manuskripts wurden von der unsichtbaren Hand des Lektorats und Marktes rot markiert. Und später gelöscht. Interessanterweise mussten auch Zitate von Konfuzius dran glauben. Erschien uns besser so, hieß es süßlich säuselnd.
Die Schriftstellerin weiß nicht, was sie mit dem zweiten, dritten und vierten Text anfangen soll. Mit der brutalen Unruhe der Satzgefüge und der Figuren; alle verdienen eine eigene Stimme. Belangloses, kleinste Begebenheiten, aneinandergehängte Gedanken; Gespräche, Gespräche; Briefe und noch mehr Briefe.
Das chinesische Tagebuch.
Übereinanderliegende Erdschichten schieben sich durch Jahrhunderte. Wer nicht weiß, an welche Stelle er den Fuß setzen soll, schlittert in einen tückischen Spalt hinein. Verschwindet für immer in dem unauffälligen Riss. Hat nie existiert.
China legt Charaktere frei. China legt Beziehungen frei, den Kern. Eintauchen in den menschlichen Ozean gleicht einer Reinigung; der Grundton bleibt. Die Schriftstellerin nimmt Abschied vom alten Europa. Von ihren Idealen. Europa ist ein Ameisenhaufen. Die Ameisen stinken nach klebriger Angst, schichten ständig ihren Besitz um und ziehen Mauern hoch. Das hilft nicht. China kauft sich die Welt. Totale Marktwirtschaft gegen freie Marktwirtschaft, und Meister Chronos spricht:
Die Hölle, die du nicht ändern kannst. Die Hölle, in der du allen wiederbegegnest. Der Mensch dem Menschen ein Wolf. Der Bruder dem Bruder ein Basilisk. Alle Länder auf unserem Planeten werden in regelmäßigen Zyklen zur Farm der Tiere.
Die Schriftstellerin schmeißt die Belegexemplare des Reiseberichteunuchen in den Altpapiercontainer. Die Uhr zeigt Zeit an. Sie greift nach Tusche, Kalligraphiepinsel und Papier. Sie wird das Buch über ihr China malen; nicht der Mensch reibt die Tusche an, es ist die Tusche, die den Menschen anreibt.
Sie wird im Unterbewusstsein von China keschern.
Also auch im Unterbewusstsein ihres Landes.
Vielleicht sieht sie alles falsch.
Und das wäre noch das Beste.
Die Blauelster () flattert kreischend in den Parkanlagen von Peking und in den umliegenden Wäldern von Baum zu Baum. Ein Schwarmvogel. Mit schwarzem Kopf und langen blauen Schwanzfedern, mit denen sie beim Fliegen steuert. Beim Landen werden sie gespreizt wie ein Fächer aus verkümmerten pastellfarbenen Pfauenfedern.
Knatternde Rasselstimme.
Als hätte sie rostige Stangen in der Kehle, wundscheuernden Stacheldraht. Sobald der Draht die zarte Haut berührt, schrillt die Blauelster im Falsett wie ein zukünftiger Eunuch bei der Kastration.
Sie behält ihr Revier im Blick. Ihr Geschrei ist schneidend. Für alles, was ihr zu sehen bestimmt war, bestimmt ist und sein wird, zahlt sie mit dem Augenlicht. Es gibt das Leben, und es gibt den Tod.
Und es gibt das Nichtleben.
Dabei ist sie keineswegs sentimental, weder egoistisch noch elitär. Sie versteht die Welt nicht als das Nonplusultra, deutet auch die menschlichen Charaktere am liebsten nur positiv. Als Ideale, die der Bequemlichkeit entspringen und den Gottheiten von Wasser, Erde und Himmel den Blick auf echte Menschennatur versperren.
In Peking hat sich die schwarze Krähe eingenistet und verbreitet. Sie ist blind; sie wurde einer Gehirnwäsche mit vollkommen richtigen und vollkommen widersprüchlichen Antworten unterzogen.
Der Krieg zwischen der schwarzen Krähe und der Blauelster ist bereits im Gange. China ist ein Konzentrationslager mit undurchlässigen Grenzen. China ist ein blühender Garten. Das ist kein Widerspruch. Es sind zwei gegensätzliche Meinungen, die beide freudige Zustimmung auslösen.
Das Zentrum von Peking ist verstopft, staubbedeckt. Die stickige Mitternacht legt sich faul über die Straßen. Die Autos schwitzen, hupen um Hilfe; sie verkünden eine Hetzjagd, und Meister Chronos sagt:
Die Zündschnur brennt, und die Uhr zeigt Zeit an.
Sie rotten sich entlang der langen chinesischen Mauern zusammen. Im scharfen Schein der Neonlichter hocken Gestalten zu Füßen der Häuser. Mit gekrümmten Rücken über...




