E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Denis Die Tanten
Die Auflage entspricht der aktuellen Auflage der Print-Ausgabe zum Zeitpunkt des E-Book-Kaufes.
ISBN: 978-3-608-11935-0
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-608-11935-0
Verlag: Klett-Cotta
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Nicola Denis, geboren 1972 in Celle, übersetzt seit vielen Jahren aus dem Französischen, u. a. Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Philippe Lançon und Marie-Claire Blais. 2021 erhielt sie für ihr übersetzerisches Werk den Prix lémanique de la traduction sowie 2023 den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis. Sie lebt mit ihrer Familie im Westen Frankreichs und hat langjährige familiäre Bezüge nach Stuttgart. »Die Tanten« ist ihr literarisches Debüt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Regional- & Stadtgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Oral History (Zeitzeugen)
Weitere Infos & Material
Die Tanten aus Stuttgart bildeten in meiner norddeutschen Kindheit eine feste Größe. 1907, 1909, 1911 und 1917 geboren, waren die vier älteren Schwestern meines Vaters, einen Bruder gab es auch noch, sämtlich unverheiratet geblieben. So drückte sich meine Mutter aus, wenn sie meinte, bei ihren Gesprächspartnern das Verheiratetsein als Norm voraussetzen zu dürfen. In gefährlicher Nähe zu dem scherzhaft verwendeten unbemannt, blieb es ein unzutreffendes Attribut für jene Verwandten, die mir keineswegs den Eindruck vermittelten, diesem Status nachzutrauern. Noch undenkbarer wäre gewesen, sie als ehelos zu bezeichnen, da sie sich vielmehr bewusst gegen das Los der Ehe entschieden hatten und nach einem oft zitierten Ausspruch der Jüngsten, sie wolle nie im Leben Männersocken waschen müssen, eher etwas losgeworden oder vermieden zu haben schienen. Gänzlich unbrauchbar waren auch die in den Achtzigern, meinen Erinnerungsjahren, eingebürgerten Singles als Prädikat für die eng der romanischen Kultur verbundenen Tanten. Niemand hätte gewagt, dem selbstbestimmten Auftreten der vier Schwestern mit einer neumodischen Außenzuschreibung seine Würde zu nehmen. Sie selbst hätten den Begriff höchstens ironisch gebraucht und, wie alle englischen Wörter, nach schwäbischer Art mit einem weichen, stimmhaften S ausgesprochen – mit spitzen Lippen gewissermaßen. Das neutrale ledig traf es schon eher und kam unter den Vokabeln, die Außenstehenden die Besonderheit meiner Tanten erläutern sollte, regelmäßig vor. Das Adjektiv, das mir als Kind wohl unbewusst am passendsten erschien, war jedoch alleinstehend. Plastisch und kompakt, sich selbst genügend. Es beschrieb genau das, was die sprichwörtliche alte Jungfer, ein Prädikat, das selbst den Böswilligsten für die vier Schwestern unpassend erschienen wäre, nicht vermochte: Jene war sitzen geblieben, meine Tanten aber standen aus eigener Kraft.
Dass die Tanten auch über die Familiengrenzen hinweg die Tanten oder die Zimmerlischen Tanten hießen, war ebenso selbstverständlich. Nicht nur, weil diese Bezeichnung aus dem Französischen stammt und zumindest bei der Ältesten, Marianne, alles aus Frankreich Kommende bis zur Kritiklosigkeit verankert gewesen sei, wie sich mein Cousin und einziger Tantenneffe ausdrückt. Auch, weil sie als geschlossenes Quartett der Außenwelt eine sehr eigene, souveräne Daseinsform vorlebten. Als hätten sie einen Pakt geschlossen. Mit ihrer Lebensform waren die Tanten zu einem Familienemblem aufgestiegen. Dabei waren sie streng genommen nur in begrenztem Maße Tanten, hatten neben besagtem Neffen lediglich zwei Nichten und konnten nicht zusätzlich noch als Onkelfrauen Anspruch auf diesen Status erheben. Überhaupt hatten sie kaum etwas Tantenhaftes an sich. Während mit einem onkelhaften Verhalten unmittelbar etwas Gönnerhaft-Klebriges verbunden ist, hat das Adjektiv tantenhaft, als ich ihm nachzuhorchen versuche, einen erstaunlich großen, vor allem negativ besetzten Auslegungsspielraum.
Eher beschaulich fängt es damit an, dass sich in Heines Harzreise »tantenhaft vergnügt« weiße Birken bewegen. Meine Stuttgarter Verwandten erschienen mir als Kind zwar keineswegs beschaulich und nur bedingt vergnügt, doch Bewegung, Berge, »hohe Buchen«, die »gleich ernsten Vätern« das tantenhafte Treiben verfolgen, passten in ihre Lebenswelt. Altjüngferlich, betulich, etepetete, gouvernantenhaft schreiben die Synonymwörterbücher und lassen damit neben Johanna Spyris Fräulein Rottenmeier bestenfalls Werner Bergengruens Greiffenschildtsche Damen wieder aufleben, denen es bestimmt ist, »jüngferlich zu leben oder jüngferlich zu sterben«, und die nur kleine und niedliche Dinge von winzigen Schüsselchen und Tellerchen essen. Nicht aber meine selbst bestimmenden Tanten, die mit gesundem Appetit zulangten, nichts Geziertes an sich hatten und eingegangen wären wie eine Primel, wenn sie nach Art von Walter Benjamins Großtanten, »immer unter dem gleichen schwarzen Häubchen und im gleichen Seidenkleide, aus dem gleichen Lehnstuhl, vom gleichen Erkerfenster« aus in die Welt hätten schauen müssen. Bei Goethe nehmen junge Mädchen, die sich den Jünglingen an Reife überlegen fühlen, ein »tantenhaftes Betragen an« – eine Zuschreibung, in der hinter dem Gouvernantenhaften das verkappt Mütterliche durchschimmert, das Überbemühte, Überfürsorgliche derer, die sich an Neffen und Nichten schadlos halten müssen. Was in meinem Fall zwar nicht auf meine Cousine und mich zutraf, aber durchaus, wenngleich dieses Verhältnis von niemandem als mütterlich bezeichnet worden wäre, auf den Stuttgarter Cousin, den meine Tanten besonders ins Herz geschlossen hatten. Herb, unzugänglich und spröde – das hingegen lässt sich aus den unversiegbaren Wörterbüchern auch für meine kindliche Wahrnehmung festhalten. Die vier Vaterschwestern Marianne, Hanne, Hilde und Irene bildeten zweifelsohne eine unbequeme moralische Instanz in meinem Familienkosmos: Bei der Erwähnung der Stuttgarter schien urplötzlich ein strengerer Wind über die norddeutsche Tiefebene zu wehen.
Eines Tages dann wuchsen meine Tanten für mich aus ihrer Rolle heraus. Ihr Chor, der das Familiengeschehen mal hinter den Kulissen, mal im Mittelpunkt unisono kommentiert hatte, wurde vielstimmiger. Das, was jahrelang gleich geklungen hatte, bekam einen neuen Unterton; bisher Selbstverständliches verstand ich anders. Als junge Erwachsene verlegte ich meinen Lebensschwerpunkt nach Frankreich, in eines der Lieblingsländer der Tanten. In ein Land, das für Alleinstehende, ob Männer oder Frauen, nur das Wort célibataire kennt, wenn es seine Junggesellinnen nicht gleich ex negativo mit dem Etikett non marié versieht. Ein Land, dessen Sprache die Gemeinten mit weiteren Synonymen wie seul, solitaire oder isolé geradewegs als Vereinsamte verortet: esseulées. Wenn Sprache das Denken formt, wenn sie die Wahrnehmung beeinflusst, muss es vielen alleinstehenden Französinnen ungleich schwerer fallen, aufrecht durch die Welt zu gehen. Noch immer erinnere ich mich an meine Fassungslosigkeit, als man mir nach ein paar Wochen im Land eine bildschöne, kluge Frau, als bedauernswerte Junggesellin vorstellte. Sie war damals nicht einmal dreißig, und sie steht noch heute, ebenso viele Lebensjahre später, in der Selbst- und Fremdwahrnehmung ihres Milieus nur bedingt auf eigenen Füßen. Offenbar galt also das Ledigsein jenseits des Rheins nicht als vollwertiger Familienstand, war nicht die frei gewählte Selbstbehauptung, die ich als Kind und Jugendliche mit den souverän wirkenden Alleinstehenden in meinem Umfeld verknüpft hatte. Familienstand ledig – immerhin war das eine von vier verschiedenen Optionen, mit denen man im Deutschland der Achtzigerjahre offiziell seinen Beziehungsstatus angeben konnte. Im Wort Familienstand schien mitzuschwingen, dass man auch als verwitwete, geschiedene oder eben ledige Person Familie sein und bilden konnte. In der französischen Entsprechung état civil aber hat der Staat das Sagen; der gleiche Staat, der 2012, genau vierzig Jahre nach dem ministeriellen Fräulein-Erlass in Deutschland, die halbherzige Empfehlung aussprach, die Bezeichnung Mademoiselle aus den Verwaltungsformularen zu tilgen. Dessen ungeachtet lebt sie, wie ich immer wieder erstaunt bemerke, umso hartnäckiger in dem Wortschatz distinguierter älterer Herren weiter, die es sich noch immer nicht nehmen lassen, eine unverheiratete Frau, und sei sie jenseits der Achtzig, mit Mademoiselle anzureden. Wozu jenes Beharren auf der Leerstelle, auf dem Fehlen der besseren Hälfte, auf dem vermeintlich Unvollkommenen? Noch mehr staunte ich, dass in den Sechziger- und Siebzigerjahren geborene Französinnen von ihren Vätern mit einer Ausbildung zur Sekretärin oder Reisebürokauffrau ins Leben geschickt wurden: Übergangsberufe, Versorgungstrittbretter, auf die sie zwei, drei Jahre lang aufspringen sollten, bevor die Kutsche des Märchenprinzen vorfahren und die goldene Trittleiter ausgerollt werden würde.
Meine Tanten indes schienen derlei Requisiten über Bord oder vielmehr aus dem Fenster des kleinen VW-Käfers geworfen zu haben, mit dem sie, dicht aneinandergedrängt und aufeinander eingeschworen, durchaus auch mal holprig und unsanft, immer aber selbständig durchs Leben steuerten. Vor meiner französischen Hintergrundkulisse legten sie, und mit ihnen all die ledigen Gefährtinnen aus dem Kreis von Familie und Bekannten, ihre Rolle als geheime Miterzieherinnen ab. Stattdessen gewannen sie eine Bedeutung: eine...