E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Desai Erbin des verlorenen Landes
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8270-7064-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8270-7064-7
Verlag: Berlin Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kiran Desai wurde 1971 geboren. Die Tochter der Erfolgsautorin Anita Desai studierte an der Columbia University und lebt heute abwechselnd in Indien, England und den USA. Im Herbst 2006 erschien im Berlin Verlag ihr Roman »Erbin des verlorenen Landes«, für den sie den Booker Prize 2006 erhielt.
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ZWEI
Am nächsten Tag ging der Koch auf Geheiß des Richters zur Polizei, unter Protest, denn dasselbe jahrhundertealte Wissen, das ihn die Eindringlinge um Gnade hatte anflehen lassen, besagte auch, dass dies kein guter Plan war.
Die Polizei brachte nie Gutes; wenn die Räuber sie bestochen hatten, würde sie nichts unternehmen, und wenn nicht, wäre das noch schlimmer, denn dann würden die Männer vom Vorabend wiederkommen und sich rächen. Jetzt hatten sie Waffen, die sie vielleicht vom Rost befreien und laden würden, um zu … schießen! Auf irgendeine Weise würden die Polizisten versuchen, an Bestechungsgeld zu kommen. Er dachte an die 250 Rupien, die Onkel Potty ihm für sein sorgsam gebrautes gegeben hatte, das Hirsebier, das den alternden Junggesellen so verlässlich sturzbetrunken zu Boden warf. Gestern Abend hatte er das Geld in einer Tasche seines Zweithemdes versteckt, aber das schien ihm nicht mehr sicher genug. Er band es es hoch oben an einen der Bambuspfeiler seiner Lehmhütte im hintersten Winkel des richterlichen Besitzes, aber als er dann sah, wie die Mäuse auf den Dachsparren hin- und herliefen, bekam er Angst, sie könnten es fressen. Schließlich legte er es in eine Blechdose, die er in der Garage versteckte, unter dem Auto, das nirgendwo mehr hinfuhr. Er dachte an Biju, seinen Sohn.
Auf Cho Oyu konnten sie einen jungen Mann gut gebrauchen.
In seiner zitternd vorgetragenen Botschaft, zu der er die Hände rang, als würde er sich die Worte mit Gewalt aus dem Körper quetschen, versuchte er zu betonen, dass er nur der Überbringer war. Er selbst habe damit und überhaupt mit alledem nichts zu tun und fand, man hätte die Polizei nie damit behelligen sollen; er hätte den Raub viel lieber vergessen, überhaupt den ganzen Streit und alles, was Ärger machen könnte. Er sei machtlos, könne nur gerade lesen und schreiben und habe sein ganzes Leben lang geschuftet wie ein Lastesel, versucht, sich aus allem herauszuhalten, und nur für seinen Sohn gelebt.
Leider wirkten die Polizisten alarmiert und verhörten ihn streng, wobei sie ihm deutlich ihre Verachtung zeigten. Als Dienstbote rangierte er weit unter ihnen, aber ein Waffendiebstahl aus dem Besitz eines pensionierten Angehörigen der Justiz ließ sich nicht ignorieren, sie mussten ihren Vorgesetzten davon in Kenntnis setzen.
Am selben Nachmittag fuhren die Polizisten auf Cho Oyu vor, eine Kolonne krötenfarbener Jeeps, die aus dem weißen Rauschen eines feinen, nervösen Schneeregens auftauchten. Sie ließen ihre Regenschirme in einer Reihe auf der Veranda zurück, aber der Wind wirbelte sie durcheinander – die meisten waren schwarz und verloren im Regen ihre Farbe, aber es war auch einer in Rosa dabei, , mit bunten Blumen darauf.
Sie verhörten den Richter und nahmen seine Anzeige wegen Raubes und Hausfriedensbruchs auf. »Sind Sie bedroht worden, Sir?«
»Sie haben verlangt, dass er den Tisch deckt und Tee aufträgt«, sagte der Koch todernst.
Die Polizisten mussten lachen.
Der Richter presste die Lippen zu einem Strich zusammen: » – dummes Zeug! Geh in die Küche.«
Die Polizei bestäubte alle Oberflächen mit Fingerabdruckpulver und steckte eine Keksdose aus Melamin mit fettigen -Daumenabdrücken darauf in einen Plastikbeutel.
Sie vermaßen die Fußabdrücke auf den Stufen zur Veranda und wiesen viele verschiedene Schuhgrößen nach: »Ein sehr großer, Sir, Bata-Turnschuhe.«
Weil die Residenz des Richters am Ort schon lange ein Gegenstand der Neugier gewesen war, sahen sie sich im Haus genauso gründlich um wie die Waffendiebe.
Und genau wie die Räuber waren sie wenig beeindruckt. Befriedigt betrachteten sie die Spuren des Niedergangs, und einer der Polizisten trat gegen eine wackelige Rohrleitungskonstruktion vom Strom des , hier und da mit tropfnassen Lumpen geflickt. Mit der Taschenlampe leuchtete er in den Wasserkasten der Toilette und entdeckte, dass die Spülvorrichtung von Gummibändern und Bambushölzchen zusammengehalten wurde.
»Was für Beweise suchen Sie auf der Toilette?«, fragte Sai, die ihm nachgelaufen war und sich schämte.
Das Haus war vor vielen Jahren von einem Schotten erbaut worden, einem leidenschaftlichen Leser der Sachbücher seiner Zeit: , von einer Abenteurerin. . . . . Sein wahres Selbst war in ihm erwacht und hatte ihm erklärt, dass es auch wild und tapfer sei und sich eigene Abenteuer nicht länger verbieten lassen wolle. Wie immer war der Preis für eine solche romantische Eskapade hoch und musste von anderen bezahlt werden. Träger hatten Felsbrocken aus dem Flussbett geschleppt – eingeknickte Beine, gequetschte Rippen, krumme Rücken, gebeugte Köpfe, immer weiter, bis sie nichts mehr sahen als den Boden –, bis hinauf zum Bauplatz, ausgesucht um seiner herrlichen, für das menschliche Herz spirituell erhebenden Aussicht wegen. Dann trafen die Wasserrohre ein, die Badezimmerfliesen, die kunstvoll gearbeiteten schmiedeeisernen Tore, die man wie Brüsseler Spitzen zwischen ihre Pfosten hängte, die Schneiderpuppe, über die nun die Polizei auf dem Dachboden stolperte – bumm bumm, ihr Trampeln ließ noch die letzte Tasse aus Meissener Porzellan auf ihrem Untertässchen knirschen wie einen Zahn. Tausend tote Spinnen lagen wie vertrocknete Blüten auf dem Dachboden, und über ihnen, auf der Unterseite des löchrigen Dachs, duckte sich ihre Nachkommenschaft vor den Regentropfen und starrte die Polizei genauso an wie ihre Ahnen – in unendlicher, untertassengroßer Mitleidlosigkeit.
Die Polizisten sammelten ihre Regenschirme ein und stapften zur Hütte des Kochs hinüber, besonders wachsam, besonders misstrauisch. Jeder wusste, dass Dienstboten bei Einbrüchen meistens Komplizen waren.
Vorbei ging es an der Garage, wo das Auto langsam in den Boden sank, mit der Nase voran, Gras wucherte schon von unten in sein Inneres, die letzte keuchende Fahrt nach Darjeeling zu Bose, dem einzigen Freund des Richters, war längst vergessen. Vorbei ging es an einem seltsam gut gepflegten Fleckchen hinter dem Wasserspeicher, wo der Schneeregen ein Schälchen Milch leergewaschen und ein Häuflein Süßigkeiten aufgeweicht hatte. Diese unkrautfreie Zone ging auf jenen Tag zurück, da der Koch, gepiesackt von einem verdorbenen Ei, seinen Darm statt am üblichen Ort am Ende des Gartens hinter dem Haus entleert und zwei Schlangen gegen sich aufgebracht hatte, , Mann und Frau, die in einem nahen Loch lebten.
Der Koch erzählte dem Polizisten die dramatische Geschichte. »Sie haben mich nicht gebissen, aber mein Körper schwoll trotzdem auf seine zehnfache Größe an. Ich ging in den Tempel und dort trugen sie mir auf, die Schlangen um Vergebung zu bitten. Also habe ich eine Kobra aus Ton geformt und hinter den Wasserspeicher gelegt und das Gebiet rundherum mit Kuhfladen gereinigt und eine gefeiert. Sofort ging die Schwellung zurück.«
Die Polizisten gaben ihm Recht. »Wenn man zu ihnen betet, werden sie einen immer beschützen und niemals beißen.«
»Ja«, stimmte der Koch zu, »sie beißen nicht, die beiden, und sie stehlen auch keine Hühner oder Eier. Im Winter sieht man sie nicht oft, aber sonst sind sie immer da und halten Wache. Drehen auf dem Grundstück ihre Runden. Wir wollten hier einen Garten anlegen, aber wir haben die Stelle ihnen überlassen. Sie ziehen am Zaun rund um Cho Oyu entlang und dann zurück in ihren Bau.«
»Was für Schlangen?«
»Schwarze Kobras, so dick«, sagte er und zeigte auf die Keksdose, die einer der Polizisten im Plastikbeutel bei sich trug. »Mann und Frau.«
Aber vor den Räubern hatten sie Cho Oyu nicht beschützt … einer der Polizisten verbannte diesen ketzerischen Gedanken aus seinem Kopf und sie machten einen respektvollen Bogen um den Fleck, für den Fall, dass die Schlangen oder ihre beleidigten Verwandten es auf sie abgesehen hatten.
Als sie die Hütte des Kochs erreichten, die unter einem wüsten Gestrüpp aus Tollkirschen begraben lag, wich sofort der Respekt aus den Gesichtern der Polizisten. Hier konnten sie ihrer Verachtung freien Lauf lassen und sie warfen das schmale Bett um und all seine Besitztümer landeten auf einem Haufen.
Sai tat es in der Seele weh, zu sehen, wie wenig der Koch besaß: ein paar spärliche Kleidungsstücke auf einer Leine, eine einzelne Rasierklinge und ein Bröckchen billiger brauner Seife, eine Kulu-Decke, die früher ihr gehört hatte, eine Pappschachtel mit metallener Schließe aus dem Besitz des Richters, die nun die Papiere des Kochs enthielt, die Empfehlungsschreiben, die ihm seine Stelle beim Richter verschafft hatten, Bijus Briefe, Gerichtsunterlagen aus einem Prozess um fünf Mangobäume, die er in seinem Dorf im fernen Uttar Pradesh an seinen Bruder verloren hatte. Und in einem Etui aus Satin im Innern der Schachtel lag eine kaputte Uhr, deren...