E-Book, Deutsch, Band 3, 253 Seiten
Reihe: Weinbrenner
Detering Liebeskind - Weinbrenners dritter Fall
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-95824-532-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 3, 253 Seiten
Reihe: Weinbrenner
ISBN: 978-3-95824-532-7
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Monika Detering wollte Schiffsjunge, Malerin oder Schriftstellerin werden. Als Puppenkünstlerin arbeitete sie u. a. in New York, Washington und Philadelphia, aber auch auf Langeoog, Juist und Spiekeroog. Jahre als freie Journalistin folgten. 1997 erschien ihr erster Roman, viele weitere folgten. Neben Romanen veröffentlichte sie Krimis, Kurzprosa und Sachbücher. Sie gewann zahlreiche Preise, u. a. mit der Kurzgeschichte »Herrin verbrannter Steine« den 1. Preis des großen Wettbewerbs für Frauen aus deutschsprachigen Ländern. Monika Detering ist Mitglied bei den 42erAutoren. Monika Detering veröffentlichte bei dotbooks die drei Fälle um Kommissar Weinbrenner - auch im Sammelband »Liebesopfer« erhältlich - und ihren Spannungsroman »Bernd, der Sarg und ich«. Auch bei dotbooks erscheinen ihre Romane »Heimweh nach dem Leben« - als Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich -, »Als wir unterm Kirschbaum saßen« und »Das Versprechen eines Lebens«. Gemeinsam mit Horst-Dieter Radke veröffentlichte sie bei dotbooks »Ein Sommer auf Hiddensee« und »Ein Sommer auf der Sanddorninsel« sowie mit Silke Porath zusammen »Das Geheimnis der Inselfreundinnen«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1. Kapitel
Frühjahr 2007
Als er ins Büro kam, sah er ihn sofort. Jemand hatte einen DIN-A4-Umschlag an die Fensterscheibe geklebt. »Werden Briefe neuerdings von der Poststelle dekoriert?« Kriminalhauptkommissar Viktor Weinbrenner übersah das Blinken des Anrufbeantworters und den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Ohne zu wissen warum, war er jetzt froh, im Büro allein zu sein. Sein bisheriges war inzwischen durch andere Kollegen besetzt. Es war ihm durch seine ausnehmend lange Sabbatzeit verloren gegangen. Aber er hasste es, das Allerheiligste nicht mehr für sich zu haben.
Ein verfrühtes Geschenk? Kollegenscherz? Sein zweiundfünfzigster Geburtstag stand bevor, erinnerte unangenehm an die eigene Sterblichkeit und er hatte sich in einer melancholischen Stunde gefragt, wann er sein Leben endlich grundlegend ändern würde.
Er zog den Umschlag von der Scheibe. Der Tesastreifen blieb und hinterließ Klebespuren. Sorgfältig tastete Weinbrenner den Brief ab, feste oder weiche Gegenstände fühlte er nicht. Auf der Vorderseite stand in großer Schrift und einzeln geschriebenen Großbuchstaben sein Name, darunter PERSÖNLICH. Er drehte das Kuvert um und fand keinen Absender.
Er zog vier bedruckte Seiten hervor.
Auf der Insel Langeoog im Jahr 1996
»Ich bin allein?«
Das Kind redete die Wand an, als würde sie antworten können. Irgendjemand, irgendetwas musste doch sprechen.
»Ich hätte gern ein Kaninchen. Kaninchen essen ist besser als streicheln. Wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß. Sprich mit mir, ich hör dich nicht, das Entenküken hat ein Rabe geholt, der fette Engel mit den gefalteten Händen ist ins Meer gefallen.«
Die Beine waren durch das reglose Sitzen taub geworden, und Ameisen kribbelten in den Waden. In dem ordentlich hergerichteten Kinderbett durfte es tagsüber weder sitzen noch liegen. »Ich weine gleich«, sagte es mit zitternder Unterlippe, reckte sich und schaute hilflos zum Fenster.
Du hast Glück, hier sitzen zu dürfen, ich muss arbeiten, hast du ein Glück, nörgelte die Erinnerung. Bei den Worten hatte Mama dem Kind in die Wange gekniffen, es danach mit schwimmenden Augen gestreichelt.
»Mama, hier riecht es so gut nach deiner Bluse.« Das Mädchen schnupperte angestrengt. Im Nebenzimmer tickte die Standuhr, unerbittlich und laut. Oder waren es Schritte, die langsam immer näherkamen?
Draußen war Sommer, war es warm und hell, draußen fuhr die bunte Inselbahn ein.
***
Verbote waren bedrohlich wie Hornissenaugen, die Großvater in riesiger Vergrößerung gezeigt hatte. Verbote schienen lebendig, und das Kind klebte auf dem Sofa. Es wäre ja möglich, dass Etwas hinter der Wand hervorkommen und sagen würde: »Komm her zu mir!« Es war alt genug, um zu wissen, was dann geschehen würde. Darüber hatte Mama genügend erzählt.
Es betrachtete einen schillernden Käfer, und auf der Fensterbank blühten Vergissmeinnicht mit tausend blauen Augen.
Das T-Shirt klebte am Rücken, die Haut juckte. Worte krochen an sein Ohr: »Du bleibst sitzen, bis ich wiederkomme. Rühr dich nicht vom Fleck. Sonst holen dich die Geister. Du weißt, in der Dunkelheit, dann sind sie da. Sie werden dich fressen und zerhacken, also sei brav, liebes Kind«, hatte die vertraute Stimme noch gesagt. »Nicht wahr, du bist ein braves Kind? Ich sehe alles. Ich höre alles. Ich rieche deine Lügen schon draußen vor der Tür.«
Die Hand hatte kurz und knapp über das braune Haar gestrichen und einen guten und beruhigenden Geruch nach Seife gehabt..
»Kommst du bald wieder?«, hatte es mit hängenden Schultern gefragt, ohne die Stimme großartig zu heben, damit der hämmernde Puls im Hals es nicht erstickte.
»Mama?« Das Kind krümmte sich in vorauseilender Enttäuschung. »Mama?«
Auf der Stirn bildete sich eine dünne Schicht Schweiß, Kälte und Hitze stiegen in die Achselhöhlen, in den Rachen und verklebten den Mund.
Im Zimmer herrschte brüllende Stille und der Wind zog durch die Fensterritzen. Auf dem grau gesprenkelten Teppichboden tanzten Staubmäuse, an der Wand hing das Bild mit dem Riesenfisch, der zwischen den Dünen hin- und her schwamm. Das Mädchen kniff die Augen zusammen, fühlte den Sand, roch die Hitze des Sommers, schmeckte das Meer und durfte nicht raus.
Es wurde dunkel und das Licht weniger, wurde ein Streifen, der an den Füßen vorbeizog bis hin zu der Tür, die abgeschlossen war. Das Kind bewegte die Hände, die Finger, die Arme, zappelte mit den Beinen, es konnte unmöglich noch länger so bewegungslos sitzen bleiben.
Die Furcht kam mit der Verzweiflung. Es war so weit.
Zitternd griff es nach der Puppe mit dem schweinchenrosa Gesicht, den runden blauen Augen und verfilzten Kunsthaaren. »Sollen wir an den Strand? Es ist so schön draußen«, fragte die Puppe.
»Wir? Wir gehen nirgendwohin. Außerdem wird es dunkel.«
»Sollen wir rufen? Nach der Mama?«
»Weißt du doch. Darf ich nicht. Muss leise sein.«
»Dann bleibst du immer hier sitzen. Dann stirb doch.«
Es sah aus, als würde sich die Puppe schlapplachen. Ärgerlich drückten die Kinderfinger gegen Plastikaugen, bis sie im Puppenkopf kullerten und lustige Geräusche von sich gaben. Es zerrte an den Haaren, die im rosa Hinterkopf eingenäht waren. Die Hände drehten die Arme, zogen, bis sie mit einem schmatzenden Plopp aus dem Gelenk flutschten. »Du bist nicht meine Puppe. Meine ist weich und warm und riecht ganz anders.«
»Es gibt keine andere als mich«, höhnte der Torso.
Unten im Flur schepperte das Telefon.
»Tut es weh?«, fragte das Mädchen streng. »Wasch dir die Hände. Guck mich nicht so an! Bück dich, hast du? Haaast du?«, und schlug mit der flachen Hand auf den Puppenhintern. »Morgen bringe ich das Stöckchen mit. Ich möchte eine Katze, die kann man nicht wie Kaninchen essen.«
Jemand kam ins Haus. Aus dem unscharfen Geraschel wurden Schritte, ganz leichte, beschwingte. Das Kind presste die Lider zusammen. Blut rauschte in den Ohren, innen drin pfiff es und zirpte bis ins Gehirn. Es versuchte, gleichmäßig zu atmen, ein und aus, aus und ein.
Die Wände begannen ihr seltsames Eigenleben, bogen sich, flossen auseinander und Schatten zeichneten darauf fremdartige Figuren. Jetzt würden sie kommen, sie fressen, düstere riesige Möwen.
Das Mädchen presste die Beine zusammen und hielt die Hände davor. Warm floss es durch die Finger, in das dunkelrote Polster und versickerte.
***
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, der Schlüssel umgedreht. Das Mädchen spürte den Luftzug und wandte ihm sein Gesicht zu. Die hell gestrichene Tür schlug von alleine zu.
»Brav, bist sitzen geblieben, hast nichts angefasst, hast gewartet? Ich hatte heute dreißig Leute bei der Inselführung. Steh auf, dann weiß ich, ob du wirklich mein artiges Herzliebchen warst.« Die Stimme war leise, schmeichelte wie das Samtkissen im Wohnzimmer und warf alle Worte, ganz besonders Brav, in das Dämmerlicht.
Steif und stumm blieb das Mädchen sitzen. Unter der Nase klebte Rotz. Das dunkle Haar begann sich zu kringeln und die Kopfhaut schwitzte. Mama ist da. Schon wirkte das Zimmer heller.
»Steh auf, du hast doch nicht?«
Es schaute seine Finger an, eine kleine Spinne erklomm den Daumen, das Kind flüsterte: »Jetzt ist die Puppe tot.« Ihm war schwindelig.
»Wie bitte? Was hast du gesagt? Hast du etwa wieder? Hast du?«
»Es tut mir Leid!«, sagte das Mädchen und senkte den Kopf.
»Sehr gut. Du hast gelernt, wenn ich bedenke … Egal.«
»Ich bin – Ich habe –« Für den Bruchteil einer Sekunde flammte ein Bild in dem Mädchen auf, sah eine fröhliche Mutter, die es umarmte und küsste. Vielleicht war es wahr und was nun geschah, nur ein Traum, einer von vielen.
Das Kind blickte zur Wand, die wieder gerade war wie immer, seine Blicke huschten durchs Zimmer, an der Mutter vorbei. »Steh auf. Du bist ein wirklich braves Kind.«
Es holte so tief Luft, wie es konnte. Es kannte das Ritual.
Am Ende kam die Gnade der Besinnungslosigkeit, während die Möwen schrien.
***
Weinbrenner fühlte durch dieses Kind seine eigene Einsamkeit, der er selten entrinnen, die seine Freundin Sibylle Gott nur wenig verringern konnte. Die Hilflosigkeit, die ihm diese Worte vermittelten, packte ihn in seiner privaten Seele, während er das Areal des Polizisten für Momente ausblendete.
Er setzte seine neue Brille auf, als wenn er so besser begreifen würde.
Wer hatte das geschrieben? Warum ihm geschickt? Wer hatte es an das Fenster geklebt? »Fremde haben in diesem Büro keinen Zutritt.« Es sei denn, die Person hätte ganz zufällig ein unbesetztes Büro vorgefunden. Aber sie müsste sich an der Anmeldung vorgestellt haben. Interessant! Langeoog 1996 – das war Jahre her. Die Nennung der Insel berührte ihn, war sie doch eine seiner Lieblingsinseln.
***
Zur selben Zeit humpelte im Bielefelder Ortsteil Quelle Marlene Lachner mit ihren Gehhilfen zum Briefkasten und zog neben Werbesendungen und einer Mitteilung der Krankenkasse einen weiteren Brief heraus. Die Anschrift war in einer stark links geneigten Schrift verfasst. Meine Liebe, las sie, freu dich, es ist bald so weit. Du hast...