E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Diamond Warum macht Sex Spaß?
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400092-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Evolution der menschlichen Sexualität
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-10-400092-3
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Professor für Geographie an der University of California, Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. In den letzten 25 Jahren hat er rund ein Dutzend Expeditionen in entlegene Gebiete von Neuguinea geleitet. Für seine Arbeit auf den Gebieten der Anthropologie und Genetik ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Nach ?Der dritte Schimpanse?, ?Arm und Reich?, ?Warum macht Sex Spaß??, seinem internationalen Bestseller ?Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen? und ?Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können? erschien zuletzt bei S. Fischer ?Krise. Wie Nationen sich erneuern können? (2019). Literaturpreise: Britain's Rhône-Poulenc Prize for Science Books 1998, Pulitzer-Preis 1998, Lannan Literary Award 1999, Dickson Prize für Wissenschaft 2006, Wolf-Preis für Agrarwissenschaft 2013
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Das Tier mit dem sonderbarsten Sexualleben
Angenommen, Ihr Hund hätte ein Gehirn wie Sie und könnte sprechen. Wenn Sie ihn dann fragen würden, was er von Ihrem Sexualleben hält, wären Sie von der Antwort wahrscheinlich überrascht. Sie würde sich etwa so anhören:
Diese widerlichen Menschen, die machen Sex an jedem Tag des Monats! Barbara hat sogar Lust darauf, wenn sie genau weiß, dass sie nicht fruchtbar ist – zum Beispiel kurz nach der Periode. John ist ständig scharf auf Sex, und ihm ist es völlig gleichgültig, ob seine Wünsche zu einem Kind führen können oder nicht. Aber der Gipfel ist: Barbara und John haben sogar miteinander geschlafen, während sie schwanger war! Dieselbe Ungeheuerlichkeit erlebe ich, wenn Johns Eltern zu Besuch kommen; dann kann ich auch bei denen hören, wie sie es treiben, obwohl Johns Mutter schon vor Jahren diese Sache durchgemacht hat, die sie Wechseljahre nennen. Jetzt kann sie keine Kinder mehr bekommen, aber Sex will sie immer noch, und Johns Vater tut ihr den Gefallen. Was für eine Kräftevergeudung! Und das Sonderbarste von allem: Barbara und John, aber auch Johns Eltern machen die Schlafzimmertür zu und treiben es im Geheimen, nicht vor ihren Freunden wie jeder anständige Hund!
Um zu verstehen, wie Ihr Hund zu dieser Ansicht kommt, müssen Sie sich von Ihrer menschlichen Perspektive freimachen, die bestimmt, was normales Sexualverhalten ausmacht. Wir halten es heute zunehmend für engstirnig und entsetzlich vorurteilsbeladen, wenn wir diejenigen verunglimpfen, die nicht unseren eigenen Maßstäben entsprechen. Jede Art einer solchen Engstirnigkeit ist mit einem verpönten »Ismus« verbunden – zum Beispiel Rassismus, Sexismus, Eurozentrismus oder Phallozentrismus. Zu dieser Liste der modernen »Ismus-Sünden« fügen Tierschützer heute auch die Sünde des »Spezies-ismuse« hinzu. Besonders verschroben, speziesistisch und menschenfixiert sind unsere Maßstäbe für das Sexualverhalten, denn die menschliche Sexualität ist, gemessen an den dreißig Millionen anderen Tierarten auf der Erde, höchst anormal. Ebenso anormal ist es auch im Vergleich zu den Millionen Pflanzen-, Pilz- und Mikroorganismenarten, aber diese erweiterte Sicht möchte ich außer Acht lassen, denn ich habe meinen eigenen Zoozentrismus noch nicht vollständig verarbeitet. Das vorliegende Buch beschränkt sich auf Erkenntnisse über unsere Sexualität, die wir gewinnen können, wenn wir unsere Perspektive durch die Einbeziehung anderer Tierarten erweitern.
Befassen wir uns zunächst einmal mit der Frage, was normale Sexualität nach den Maßstäben der fast 4300 Säugetierarten auf der Erde ist, von denen wir Menschen nur eine sind. Die meisten Säugetiere leben nicht in Kleinfamilien, in denen ein Mann und eine Frau als Paar verbunden sind und gemeinsam für die Nachkommen sorgen. Stattdessen sind sowohl die Männchen als auch die Weibchen vieler Arten, zumindest während der Brutzeit, Einzelgänger, die sich nur zum Kopulieren begegnen. Die Männchen bieten also keine väterliche Fürsorge; der einzige Beitrag, den sie für die Nachkommen und ihre vorübergehende Partnerin leisten, ist der Samen.
Selbst sehr soziale Säugetiere, wie beispielsweise Löwen, Wölfe, Schimpansen und viele Huftiere, bilden innerhalb ihrer Herde, ihres Rudels oder ihrer Gruppe keine Paare von Männchen und Weibchen. In einer solchen Herde/Gruppe usw. gibt es keine Anzeichen dafür, dass ein Männchen bestimmte Jungtiere als seine eigenen Nachkommen erkennt und sich ihnen auf Kosten anderer Jungen in der Gruppe besonders widmet. Tatsächlich konnten Wissenschaftler, die sich mit Löwen, Wölfen und Schimpansen beschäftigen, erst in den letzten Jahren durch DNS-Analysen herausfinden, welches Männchen welche Jungen gezeugt hat. Aber wie alle Regeln, so hat auch diese ihre Ausnahmen. Eine Minderheit erwachsener Säugetiermännchen kümmert sich wirklich um die eigenen Nachkommen, zum Beispiel die Zebramännchen mit ihren vielen Partnerinnen, Gorillas, die sich einen Harem halten, männliche Gibbons, die monogam bei einem Weibchen bleiben, und Tamarins, gesellig lebende Kleinaffen, bei denen sich ein erwachsenes Weibchen einen Harem von zwei Männchen hält.
Sexualität findet bei sozialen Säugetieren meist in der Öffentlichkeit statt, unter den Blicken anderer Gruppenmitglieder. Weibliche Berberaffen zum Beispiel kopulieren während ihrer Brunstzeit mit allen Männchen des Rudels und machen keine Anstalten, diesen Vorgang vor den jeweils anderen Männchen geheimzuhalten. Die am besten belegte Ausnahme von dem Prinzip der öffentlichen Sexualität findet man bei Schimpansengruppen: Hier zieht sich ein erwachsenes Männchen mit dem brünstigen Weibchen einige Tage lang zurück – menschliche Beobachter sprechen von einer »eheähnlichen Gemeinschaft«. Aber dasselbe Schimpansenweibchen, das sich mit einem Partner zum Sex zurückzieht, treibt es unter Umständen während der gleichen Brunstperiode auch öffentlich mit anderen erwachsenen Männchen.
Die Weibchen der meisten Säugetierarten machen mit unterschiedlichen Mitteln ausdrücklich auf die kurze Brunstphase aufmerksam, in der ihr Eisprung stattfindet und sie befruchtet werden können. Diese Ankündigung kann optisch erfolgen (zum Beispiel indem sich der Bereich um die Vagina rot färbt), aber auch durch Geruch (indem ein bestimmter Duftstoff abgegeben wird) oder durch Verhalten (beispielsweise indem das Weibchen sich vor einem Männchen hinkauert und die Vagina zur Schau stellt). Die Weibchen werben nur während der fruchtbaren Tage um Sexualität. In der übrigen Zeit sind sie für die Männchen weniger oder gar nicht attraktiv, weil sie nicht die erforderlichen Erregungssignale aussenden; Männchen, die dennoch während der unfruchtbaren Tage Annäherungsversuche machen, werden abgewiesen. Der Sex dient also ganz entschieden nicht dem Vergnügen und wird kaum einmal von seiner Befruchtungsfunktion getrennt. Auch diese Verallgemeinerung lässt Ausnahmen zu: Bei wenigen Arten, so bei Bonobos (Zwergschimpansen) und Delphinen, wird Sexualität deutlich von der Fortpflanzung getrennt.
Und schließlich sind die Wechseljahre als regelmäßig vorkommendes Phänomen bei den meisten wildlebenden Säugetieren nicht sicher nachgewiesen. »Wechseljahre« bedeutet dabei das völlige Verschwinden der Fruchtbarkeit im Laufe einer Zeitspanne, die viel kürzer ist als die vorangegangene Fortpflanzungsphase und auf die eine unfruchtbare Lebensphase von nennenswerter Länge folgt. Wildlebende Säugetiere sind entweder bis zu ihrem Tod fruchtbar, oder ihre Fruchtbarkeit nimmt mit fortschreitendem Alter ganz allmählich ab.
Stellen wir nun einmal der oben beschriebenen Sexualität von Säugetieren das menschliche Sexualverhalten gegenüber. Folgende Merkmale unseres Geschlechtslebens halten wir für selbstverständlich und völlig normal:
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Die meisten Männer und Frauen in den meisten menschlichen Kulturkreisen gehen irgendwann eine langfristige Paarbeziehung (»Ehe«) ein, in der die Angehörigen dieses Kulturkreises einen Vertrag mit gegenseitigen Verpflichtungen sehen. Die Partner betreiben immer wieder Sex, und zwar vorwiegend oder ausschließlich miteinander.
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Die Ehe ist nicht nur eine sexuelle Beziehung, sondern auch eine Partnerschaft zum gemeinsamen Großziehen der daraus entstehenden Kinder. Insbesondere übernehmen Mann und Frau gemeinsam die elterliche Fürsorge.
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Obwohl ein Mann mit einer Frau ein Paar bildet – oder gelegentlich auch mit mehreren Frauen einen Harem –, leben Menschen nicht wie Gibbons in einem Territorium, das sie gegen andere Paare verteidigen, sondern sie sind Teil einer Gesellschaft, in der sie mit anderen Paaren kooperieren und Zugang zu einem gemeinsamen Territorium haben.
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Sex unter Eheleuten findet in der Regel im Privatbereich statt; es ist ihnen nicht gleichgültig, ob andere Menschen anwesend sind.
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Der Eisprung ist bei Menschen nicht offensichtlich, sondern versteckt, das heißt, die kurze fruchtbare Phase rund um den Eisprung ist für potentielle Sexualpartner und meist auch für die Frau selbst nur schwer zu erkennen. Die sexuelle Bereitschaft einer Frau geht über die fruchtbare Phase hinaus und erstreckt sich auf den ganzen oder fast den ganzen Menstruationszyklus. Deshalb findet Geschlechtsverkehr bei Menschen auch zu Zeiten statt, die sich nicht für die Befruchtung eignen. Oder anders gesagt: Sex dient bei Menschen vorwiegend dem Vergnügen und nicht der Befruchtung.
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Alle Frauen, die älter als vierzig oder fünfzig Jahre sind, machen die Wechseljahre durch, und die Fruchtbarkeit kommt völlig zum Erliegen. Bei Männern findet meist nichts Entsprechendes statt: Einzelne Männer können zwar in jedem Alter Probleme mit der Fortpflanzungsfähigkeit haben, aber eine Häufung in bestimmten Altersgruppen oder ein totales Ende der Fruchtbarkeit gibt es nicht.
Mit den Normen gehen auch Normverletzungen einher: Wir bezeichnen etwas einfach deshalb als »Norm«, weil es häufiger vorkommt als das Gegenteil (die »Verletzung der Norm«). Das gilt für die Normen der menschlichen Sexualität ebenso wie für alle anderen. Beim Lesen der letzten beiden Seiten fallen einem natürlich sofort die Ausnahmen von den beschriebenen allgemeinen Regeln ein, aber als allgemeine Regeln gelten sie dennoch. So gibt es zum Beispiel auch in Kulturen, die durch Gesetz oder Gewohnheit die Monogamie vorsehen, viel vorund außereheliche Sexualität, und häufig ist sie nicht Teil langfristiger Beziehungen. Die Menschen erleben auch Liebesabenteuer, die nur eine Nacht dauern....