Diderot | Vier Erzählungen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Reihe: textura

Diderot Vier Erzählungen


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-406-65469-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 128 Seiten

Reihe: textura

ISBN: 978-3-406-65469-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Denis Diderot trat Zeit seines Lebens für die Selbstbestimmung des Menschen ein und wandte sich gegen jeglichen Aberglauben. In seinen Prosawerken geht er mit starkem Interesse an den psychologischen Mechanismen zwischen seinen Figuren den Fragen nach dem freien Willen, der Vorherbestimmung, den Möglichkeiten der Ratio und der Kraft der Erotik nach. Der Band fasst die vier späten Erzählungen "Die beiden Freunde von Bourbonne", "Unterredung eines Vaters mit seinen Kindern", "Dies ist keine Erzählung" und "Madame de la Carlière" aus den siebziger Jahren zusammen, die jede auf ihre Weise eigene Erlebnisse des Autors umkreisen.

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DIE BEIDEN FREUNDE VON BOURBONNE
Es lebten hier zwei Menschen; man könnte sie die Orestes und Pylades von Bourbonne nennen. Der eine hieß Olivier, der andere Felix. Sie wurden am selben Tag, in demselben Haus und von zwei Schwestern geboren; dieselbe Milch hatte sie genährt; denn da die eine der Mütter im Wochenbett starb, nahm die andere beide Kinder zu sich. Gemeinsam wurden sie erzogen; von anderen blieben sie getrennt; sie liebten sich, wie man da ist, wie man lebt – ohne darüber nachzudenken; jeden Augenblick fühlten sie es und hatten es einander vielleicht nie gesagt. Olivier rettete einmal Felix, der ein großer Schwimmer sein wollte und fast ertrunken wäre, das Leben; keiner von beiden erinnerte sich daran. Hundertmal hatte Felix seinen Olivier aus mißlichen Abenteuern befreit, in die ihn sein Ungestüm verstrickt hatte, und niemals war es diesem eingefallen, ihm dafür zu danken; sie kehrten gemeinsam nach Hause zurück, redeten entweder gar nichts oder von etwas anderem. Als die neuen Soldaten ausgehoben wurden, fiel das erste schicksalhafte Los auf Felix; Olivier sagte: das zweite ist für mich. Sie leisteten ihre Dienstzeit ab, sie kamen in ihr Dorf zurück; ob sie einander noch lieber geworden waren als zuvor, könnte ich dir nicht versichern: denn, Brüderchen, wenn gegenseitige Wohltaten eine überlegte Freundschaft festigen, so ändern sie vielleicht nichts an solchen, die ich animalische, häusliche Freundschaften nennen möchte. Bei der Armee wurde Olivier im Gefecht von einem Säbelhieb bedroht, der ihm den Kopf spalten sollte: mechanisch warf sich Felix dem Hieb entgegen und behielt eine Narbe zurück. Man behauptet, er sei auf diese Wunde stolz gewesen: ich glaube es nicht. Bei Hastenbeck zog Olivier den Felix aus dem Haufen Toter, unter dem er geblieben war. Wenn man sie fragte, sprachen sie zuweilen von der Hilfe, die jeder vom anderen empfangen, niemals von der, die er dem anderen geleistet hatte. Olivier redete von Felix, Felix redete von Olivier; aber sie rühmten sich nicht. Als sie eine Zeitlang wieder auf ihrem Dorfe waren, wollte es der Zufall, daß sie sich in dasselbe Mädchen verliebten. Nicht die geringste Rivalität entstand zwischen ihnen; der zuerst die Leidenschaft seines Freundes bemerkte, entfernte sich. Es war Felix. Olivier heiratete; und Felix, des Lebens überdrüssig, ohne zu wissen warum, stürzte sich auf allerlei gefährliche Gewerbe: zuletzt wurde er Schmuggler. Es ist dir bekannt, Brüderchen, daß es in Frankreich vier Gerichtskammern gibt, wo die Schmuggler gerichtet werden: Caen, Reims, Valence und Toulouse; und daß unter den vieren die in Reims die strengste ist, an der ein gewisser Coleau den Vorsitz führt, der grausamste Mann, den die Natur je hervorgebracht hat. Felix wurde, mit den Waffen in der Hand, ergriffen, vor den schrecklichen Coleau geführt und, wie fünfhundert andere vor ihm, zum Tode verurteilt. Olivier hörte von dem Verhängnis, das Felix getroffen hatte. Eines Nachts erhebt er sich von der Seite seiner Frau, und, ohne ihr etwas zu sagen, begibt er sich nach Reims. Er geht zum Richter Coleau, er wirft sich ihm zu Füßen und bittet um die Gnade, Felix sehen und umarmen zu dürfen. Coleau sieht ihn an, schweigt einen Augenblick, winkt ihm, sich zu setzen. Olivier setzt sich. Nach einer halben Stunde zieht Coleau seine Uhr hervor und sagt zu Olivier: Wenn du deinen Freund lebend sehen und umarmen willst, so mußt du dich beeilen; er ist auf dem Weg; und geht meine Uhr richtig, so wird er, ehe zehn Minuten vorbei sind, gehängt sein. Außer sich vor Wut springt Olivier auf, entlädt auf dem Nacken des Richters Coleau einen ungeheuren Stockschlag, der diesen fast tot zu Boden streckt; läuft zum Richtplatz, kommt, schreit, schlägt auf den Henker, auf die Gerichtsdiener ein, bringt den Pöbel auf, der über solche Hinrichtungen erbittert war. Steine fliegen; Felix wird befreit und flieht; Olivier sucht sich zu retten; aber ein Gendarm hatte ihm sein Bajonett zwischen die Rippen gestoßen, ohne daß er es bemerkt hatte. Er gewann das Stadttor, konnte aber nicht weitergehen: barmherzige Fuhrleute warfen ihn auf ihren Karren und setzten ihn vor seiner Haustüre ab, kurz bevor er sein Leben aushauchte. Kaum hatte er noch Zeit, seiner Frau zu sagen: Weib, komm her, daß ich dich umarme; ich sterbe, aber das Narbengesicht ist gerettet. Als wir uns eines Abends, wie gewohnt, auf der Promenade ergingen, sahen wir vor einer Strohhütte eine hochgewachsene Frau stehen; vier kleine Kinder waren zu ihren Füßen; ihre traurige, aber aufrechte Haltung machte uns aufmerksam, und unsere Aufmerksamkeit weckte die ihre. Erst schwieg sie eine Weile, dann sagte sie: Seht die vier kleinen Kinder; ich bin ihre Mutter und habe keinen Mann mehr. Diese stolze Art, Mitleid hervorzurufen, mußte uns rühren. Wir boten ihr unsere Hilfe an, die sie mit Anstand entgegennahm. Bei dieser Gelegenheit erfuhren wir die Geschichte ihres Mannes Olivier und seines Freundes Felix. Wir haben ein Wort für sie eingelegt, und ich hoffe, unsere Fürsprache wird nicht nutzlos gewesen sein. Du siehst, Brüderchen, daß Seelengröße und erhabener Charakter in allen Ständen und allen Ländern vorkommen; daß mancher unbekannt stirbt, dem nur ein anderer Schauplatz fehlte, und daß man nicht bis zu den Irokesen zu gehen braucht, um zwei Freunde zu finden. Zur Zeit, als der Räuber Testalunga Sizilien mit seiner Bande unsicher machte, wurde sein Freund und Vertrauter Romano ergriffen. Er war Testalungas Stellvertreter. Der Vater jenes Romano wurde verhaftet und wegen Verbrechen ins Gefängnis geworfen. Man versprach Romano, seinen Vater zu begnadigen und in Freiheit zu setzen, wenn er seinen Hauptmann Testalunga verriete und auslieferte. Gewaltig stritten in ihm Kindesliebe und geschworene Freundschaft. Aber Vater Romano überzeugte seinen Sohn, der Freundschaft den Vorrang zu geben, voller Scham, sein Leben einem Verrat verdanken zu sollen. Romano fügte sich dem Urteil seines Vaters. Vater Romano wurde hingerichtet; und nicht die grausamsten Folterungen vermochten dem Sohn Romano auch nur ein verräterisches Wort über seine Spießgesellen zu entreißen. Du wolltest gerne wissen, Brüderchen, was aus Felix geworden ist; diese Neugierde ist so natürlich und ihr Beweggrund so lobenswert, daß wir uns Vorwürfe machten, sie nicht selbst gehabt zu haben. Um diesen Fehler wiedergutzumachen, dachten wir zuerst an Herrn Papin, Doktor der Theologie und Pfarrer von Sainte-Marie in Bourbonne; doch Mama hat sich anders besonnen, und wir haben den Subdelegaten Aubert vorgezogen, einen guten, entgegenkommenden Mann. Dieser hat uns folgenden Bericht zugeschickt, auf dessen Wahrheit du dich verlassen kannst. Besagter Felix lebt noch. Den Händen der Justiz in Reims entwischt, schlug er sich in die Wälder der Provinz, wo er während seines Schleichhandels alle Wege und Stege kennengelernt hatte, und versuchte, sich Schritt für Schritt der Wohnung Oliviers, dessen Schicksal ihm unbekannt war, zu nähern. Im Innersten eines Waldes, wo Sie, Madame, zuweilen spazierengingen, hauste ein Kohlenbrenner, dessen Hütte dergleichen Leuten als Zuflucht diente; auch war sie Lager für ihre Waren und Waffen. Dorthin begab sich Felix, nicht ohne sich der Gefahr auszusetzen, in die Fallen der Gendarmerie zu laufen, die ihm auf der Spur war. Einige seiner Verbündeten hatten die Nachricht seiner Verhaftung in Reims dorthin gebracht; und der Kohlenbrenner und die Kohlenbrennerin hielten ihn bereits für hingerichtet, als er vor ihnen erschien. Ich will Ihnen die Begebenheit erzählen, wie ich sie von der Kohlenbrennerin gehört habe, die vor nicht allzu langer Zeit hier gestorben ist. Zuerst sahen ihn die Kinder, die um die Hütte strolchten. Während er verweilte, das jüngste, dessen Pate er war, zu liebkosen, rannten die anderen in die Hütte und schrien: Felix, Felix! Vater und Mutter kamen heraus und wiederholten das gleiche Freudengeschrei; aber der Elende war vor Müdigkeit und Entbehrung so ermattet, daß er nicht die Kraft hatte zu antworten und fast ohnmächtig in ihre Arme sank. Die guten Leute sprangen ihm bei mit dem, was sie hatten; gaben ihm Brot und Wein, etwas Gemüse: er aß und schlief ein. Sein erstes Wort, als er erwachte, galt Olivier. Kinder, wißt Ihr nichts von Olivier? Nein, nichts, war die Antwort. Er erzählte ihnen von dem Abenteuer in Reims; er brachte die Nacht und den folgenden Tag bei ihnen zu. Er seufzte; er rief den Namen Oliviers; er glaubte ihn in den Kerkern von Reims; er wollte dorthin; er wollte mit ihm zusammen sterben; und den Kohlenbrenner und die Kohlenbrennerin kostete es nicht wenig Mühe, ihn davon abzubringen. Um die Mitte der zweiten Nacht nahm er eine Flinte, hing sich einen Säbel um und rief leise: Kohlenbrenner! – Felix! – Nimm die Axt, wir wollen gehen. – Wohin? – Schöne Frage! Zu Olivier. – Sie gehen. Aber kaum haben sie den Wald verlassen, sind sie schon von einer Abteilung Gendarmen umringt. Ich halte mich an das, was mir die Kohlenbrennerin darüber zu erzählen wußte; dennoch wurde nie vernommen, daß zwei Männer zu Fuß sich gegen zwanzig Berittene haben halten können: allem Anschein nach hatten sich diese verteilt und wollten ihre Beute lebend fassen. Wie dem sei, das Gefecht war hitzig; fünf Pferde wurden lahm...


Denis Diderot (* 5. Oktober 1713 in Langres; † 31. Juli 1784 in Paris) war ein französischer Schriftsteller, Übersetzer, Philosoph, Aufklärer, Literatur- und Kunsttheoretiker, Kunstagent für die russische Zarin Katharina II. und einer der wichtigsten Organisatoren und Autoren der "Encyclopédie".



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