E-Book, Deutsch, 574 Seiten
Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-8309-7470-3
Verlag: Waxmann Verlag GmbH
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 574 Seiten
ISBN: 978-3-8309-7470-3
Verlag: Waxmann Verlag GmbH
Format: PDF
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Die Ordnung der Welt zeigt sich in der Ordnung der Dinge. Dinge haben Macht. Lange Zeit Stiefkind der kulturanthropologisch-volkskundlichen Forschung, tritt die materielle Kultur erneut ins Blickfeld der Analyse.
Dieser Band versammelt facettenreiche Beiträge prominenter Wissenschaftler zur Sachkulturforschung und schreitet das Feld exemplarisch ab. Akademische Weggefährten der Münsteraner Volkskundlerin Ruth-E. Mohrmann möchten die Impulse und Verdienste einer Wissenschaftlerin würdigen, die stets der Gegenständlichkeit allen Kulturdaseins ihre Aufmerksamkeit widmet und die die Aspekte der Materialität und des historischen Gewordenseins alltäglicher Lebensvollzüge nie aus den Augen verliert.
In dem Band geht es um den Sitz der Dinge im Leben der Menschen, um deren Gebrauch, deren Bewertung, deren Kraft. Dinge repräsentieren: Sie vergegenwärtigen Erinnerungen, sie symbolisieren soziale Beziehungen, sie choreographieren unsere rituelle Existenz. Davon handelt dieses Buch.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Vorwort;10
3;Dimensionen der Dingbetrachtung. Versuch einer museumskundlichen Sichtung;12
3.1;I.;12
3.2;II.;14
3.3;III.;16
3.4;P.S.;24
3.5;Literatur;25
4;Die Dinge der Macht;28
4.1;Literatur;34
5;The uses of history in consumption studies;36
5.1;Historical perspectives on consumption;36
5.2;Smoking;37
5.3;Consumers or anti-consumers?;39
5.4;New routines for old;40
5.5;Moral battles;41
5.6;Longing for the American dream;42
5.7;Needs, wants and desires;44
5.8;References;45
6;Alltägliche Daseinsformen der Menschen als Objekte einer Neuen Kulturgeschichte;46
6.1;Literatur;63
7;Material Culture: Museum Collections and Everyday Assemblages;68
7.1;Collections;68
7.2;Assemblages;71
7.3;Conclusions;76
7.4;References;78
8;Die Ordnung der Dinge;80
8.1;Die unsichtbaren Dinge;81
8.2;Rekonstruktion – Restitution?;82
8.3;Der mentale Platz der Dinge – die „andere“ Einrichtung;84
8.4;Das singuläre Wissen;85
8.5;Literatur;87
9;Geld als Gabe. Wert und Wertigkeit von Geldgeschenken;88
9.1;Literatur;98
10;Rauch-Zeichen. Zur Symbolik der Zigarette im 20. Jahrhundert;100
10.1;1.;100
10.2;2.;101
10.3;3.;102
10.4;4.;102
10.5;5.;104
10.6;6.;104
10.7;7.;105
10.8;8.;106
10.9;Literatur;107
11;Two Incorporatory Regimes: On Corsets, Dancing, and Habitus in Early Modern Europe;108
11.1;I;108
11.2;II;111
11.3;III;113
11.4;IV;115
11.5;References;118
12;Der Goldzahn oder: Distinktionsmerkmale zwischen Ost und West;120
12.1;Erkenntnisziel;120
12.2;Die Legende;120
12.3;Die Vorgehensweise;121
12.4;Quellenpotpourri;121
12.5;Das Internet;122
12.6;Trends: das Grill-fever;122
12.7;Die Minsker Gegenwart;123
12.8;Fazit;126
12.9;Anhang: Fragebogen für Minsk;127
12.10;Literatur;128
13;„En Buer wär’k, keen Eddelmann“;130
13.1;Hierarchie über den Tod hinaus;135
13.2;Gräber und Menschen;138
13.3;Auf dem Friedhof wie im Dorf;141
13.4;Literatur;142
14;Fundstücke. Zur Zeichenhaftigkeit abgelegter Dinge im Kontext aktueller Bestattungskulturen;144
14.1;1. FriedWald – vom Verein zur GmbH;144
14.2;2. Spurensuche;147
14.3;3. Dinge, Symbole, Rituale;150
14.4;4. Symbolische Objekte;151
14.5;5. Legitime Markierungen;152
14.6;6. Mit Dingen Zeichen setzen;156
14.7;Literatur;157
15;Scherben-Lese(n). Botschaften aus einem Garten;160
15.1;Der Fundort;161
15.2;Der Scherm – die Scherbe;162
15.3;Scherben machen Geschichte;162
15.4;Gärten in Scherben – bricolage mit Scherben;163
15.5;Scherben bringen Glück? Scherben-Bräuche;165
15.6;Die Kunst der Scherbe – vom Zauber der kleinen Form;167
15.7;Ars povera: das Recyclingprinzip des Nek Chand;169
15.8;Die Freude an Dingen und ihre Verwandlung;169
15.9;Literatur;170
16;Das Kleid ändern;172
16.1;Literatur;179
17;Der Wermutbranntweinkönig;182
17.1;Literatur;187
18;Stoffe der Erinnerung. Notizen über das vestimentäre Gedächtnis;188
18.1;Das kleine Schwarze;191
18.2;Brüsseler Spitze;193
18.3;Die Macht der Wünsche;194
18.4;Die Lebenden und die Toten;195
18.5;Ein Hut-Gedicht;195
19;Geld, Einkommen und Preise Überlegungen zum Erzählen über ein heikles Thema;196
19.1;1. Wirtschaftslagen und Alltagssprache;196
19.2;2. Formen und Wandel;201
19.3;3. Geld und Preise in der Lebensgeschichte;205
19.4;Literatur;207
20;Erzählen von Dingen des Lebens;210
20.1;Interviews (i) Mitte/Ende Oktober 1995 Kurzvorstellung von Interviewpartnerinnen und Lebenssituationen;211
20.2;Fragen zur historischen sonntäglichen bzw. kirchlichen Kleidung in Auswahl;212
20.3;Literatur;219
21;Die Flachstrecke;220
21.1;1. Verortung;220
21.2;2. Kommode und Kredenz;221
21.3;3. Postmoderne Wohnwenden?;222
21.4;4. Flachstrecken-Forschungen;223
21.5;5. Flachstrecke als Metapher;224
21.6;Literatur;226
22;Den Trauring gaben sie hin für Zigaretten;228
22.1;I. Kriegsgefangenenlager in den USA und Kanada;229
22.2;II. Kriegsgefangenenlager unter Verwaltung der Westalliierten in Europa;231
22.3;III. Russische Kriegsgefangenenlager in der ehemaligen Sowjetunion;236
22.4;Literatur;243
23;„Wie das Korn harrt auf Mairegen, hoffen wir auf Freiheit und Frieden“;246
23.1;Literatur;260
24;Modemenagerie;262
24.1;Pelzmoden seit Beginn der Moderne;264
24.2;Nach dem Zweiten Weltkrieg;266
24.3;Diskurse;267
24.4;Tiermord und Luxusweib;268
24.5;„Warum der Pelz wieder erlaubt ist“;269
24.6;Literatur;271
25;Von Modetieren und Tiermoden;274
25.1;Zwischen Vermenschlichung und Kommerz: Das Heimtier als Freund und Wirtschaftsfaktor;279
25.2;Vermenschlichung – Infantilisierung – Versachlichung? Versuch einer Einordnung;283
25.3;Literatur;286
26;„Die Lieb’ ist groß, die Gab’ ist klein, Das nächste Jahr soll’s besser sein!“;288
26.1;Kulturphänomene Schenken und Geschenke;289
26.2;Schenken in der kulturellen Praxis;290
26.3;Quellen;296
26.4;Literatur;296
27;Quo vadis, Holzschuh?;298
27.1;1. Aussehen und Beschaffenheit;299
27.2;2. Herstellung von Holzschuhen im westlichen Münsterland;300
27.3;3. Gebrauch von Holzschuhen;302
27.4;4. Vertrieb von Holzschuhen;304
27.5;5. Holzschuhe im Gespräch;305
27.6;6. Holzschuhe im Bild;306
27.7;7. Fazit: Holzschuhe als Identifikationsangebot;308
27.8;Literatur;309
28;Be-wohnte Dinge;310
28.1;Sofawelten;311
28.2;Eigenheim;313
28.3;Stadtlandschaften;314
28.4;Rück-Eroberung des öffentlichen Raumes?;317
29;Eisenmöbel zwischen Klassizismus und Jugendstil;318
29.1;Literatur;324
30;Mors certa hora incerta. Eine mögliche Deutung der geschnitzten Zifferblätter an Wirtschaftsgiebeln Sauerländer Bauernhäuser des ausgehenden 18. Jahrhunderts;326
30.1;Die Befunde;327
30.2;Die Bedeutung;331
30.3;Die Urheberschaft;333
30.4;Fazit;335
30.5;Literatur;336
31;The Priest Assisted by Automatons;340
31.1;References;346
32;Jenseits der Dinge;350
32.1;Zur Bildcharakteristik;351
32.2;Zur Bildpraxis;353
32.3;Zur Bildpragmatik;357
32.4;Literatur;358
33;Die „Narren“-Semiotik und das „wirkliche Leben“;360
33.1;Literatur;368
34;Die folkloristische Optik böhmischen Heiratens Frühe mitteleuropäische Zeugnisse des Biedermeier;370
34.1;Brautzug und Kammerwagen des Egerlands in „ authentischen“ Grafiken;371
34.2;Der Prager Huldigungs-Trachten-Festzug zur Krönung des böhmischen Königs 1836;378
34.3;Literatur;382
35;Das Zeeuwse meisje als Ikon der auferstehenden Niederlande;386
35.1;Ein prominenter Platz für Seeland;387
35.2;Das Zeeuwse Meisje (seeländisches Mädchen/seeländische junge Frau in Tracht) als Ikon für die freien und geläuterten Niederlande;390
35.3;De kracht van de dracht – Die Kraft der Tracht;393
35.4;Ikon in Zeiten der Not;395
35.5;Literatur;396
36;Von Toiletten und anderen Symbolen;400
36.1;1.;400
36.2;2.;403
36.3;3.;405
36.3.1;a. Das „türkische Klosett“ als Realie;407
36.3.2;b. Das „türkische Klosett“ als Symbol;409
36.3.3;c. Die „türkische Toilette“ als politischer Gegenstand;412
36.4;4.;414
36.5;Literatur;416
37;Über die Macht der Bilder oder „Gruss vom Finckenfang“;418
37.1;Literatur;427
38;Der Foto-Eisbär – Ein ungewöhnlicher Erinnerungsträger an schöne Augenblicke;430
38.1;Einleitung;430
38.2;Das Quellenmaterial;431
38.3;Die Eisbär-Fotografen und die Aufnahme-Orte;433
38.4;Zum Eisbärkostüm und technischen Ablauf;435
38.5;Die Fotografierten – Situationen und Motivationen;437
38.6;Literatur;442
39;Ego […] hoc epitafium ordinavi et hic in loco erexi;444
39.1;Das Epitaph als volkskundliche Quelle;444
39.2;Das Breslauer Epitaph des Johannes Pretwitcz;444
39.3;Erste Ergebnisse und Fragestellungen;448
39.4;Betrachtung des Stifters im Kontext seiner Zeit und seines Lebensumfeldes;449
39.5;Zusammenfassung und Schlussfolgerungen;452
39.6;Literatur;454
40;„Der Tod des heiligen Josef hat mir sehr gut gefallen …“ Heiligenbilder und Schutzengel aus dem Sauerland;456
40.1;Engel und Heilige aus Medebach-Oberschledorn;456
40.2;Die Malerfamilie Mühlenbein aus Marsberg;458
40.3;Kunst – Handwerk – Kunsthandwerk – oder Kunstgewerbe?;460
40.4;Die Werke der Familie Bergenthal als historische und soziale Zeitfenster;460
40.5;Zwischen Glauben und Aberglauben;463
40.6;Literatur;465
41;Jubiläen und Feiern. Erinnerung als Ordnungsleistung;466
41.1;Literatur;474
42;Das Phantom der Oper (Paris 1911);476
42.1;1. Das Phantom der Oper – Paris 1911;477
42.2;2. Angst, Trance und Traum;479
42.3;3. Demaskierung;481
42.4;4. Die Unterwelt der Kultur;483
42.5;Literatur;484
43;Die Leinenweber oder Dockmaker, ihre Gilde und die „ Borghorster Herren“;486
43.1;Die Dockmaker-Gilde;487
43.2;Die Laurentius-Prozession;493
43.3;Die Häuser der Dockmaker;494
43.4;Borghorster Weber in Haarlem;495
43.5;Die Herkunft der Leinengarne und die Sorten der Gewebe;496
43.6;Jüngere Quellen zur Geschichte und Entwicklung der Borghorster Textilindustrie;499
43.7;Literatur;499
44;Ein Symbol religiöser Erneuerung;502
44.1;Vorgeschichte: Verlegung des Friedhofs;504
44.2;Die überfüllte Kirche;504
44.3;Der Neubauplan;505
44.4;Gegen die profanen Aspekte des Kirchhofs: Neubau im Pfarrgarten;507
44.5;Widerstand der Gemeinde;508
44.6;Der ausgeführte Bau;512
44.7;Der Umgang mit der alten Kirche;513
44.8;Literatur;514
45;Die Verwandlung des Narren;516
45.1;1. Einleitung;516
45.2;2. „Geck“ und „Pritschenmeister“;517
45.3;3. Die neue Zeit – oder: Alter Wein in neuen Schläuchen?;518
45.4;4. Die neuen Konstellationen: Der Geck als Störenfried;520
45.5;5. Nach dem Ersten Weltkrieg: Rückkehr und Domestizierung des Gecken;523
45.6;Literatur;528
46;Anders als erwartet: Der Fackelzug des Neusser Bürger- Schützen- Vereins;532
46.1;„Der heimliche Star beim Fest der Superlative“ – Der Neusser Fackelzug heute;532
46.2;„Auf dem Markte Absingung des Fackel-Liedes bei geschlossenem Kreise“ – Ein neues Fest;534
46.3;„Brüder! schlingt ein treulich Band um den hehren Fackelbrand!“ – Ein Fest für alle Bürger;536
46.4;„Es sind Fackeln […], die flammend hoch lodern den Himmel hinan“ – Das Spiel mit dem Feuer;538
46.5;„… mit all den bunten, vielgestaltigen Ballons“ – Transformationen;539
46.6;Literatur;542
47;Einmal Einsamkeit und zurück;544
47.1;Literatur;553
48;Volkskunde in der Universität Münster im 20. Jahrhundert;556
48.1;Kulturgeschichte und Volkstum 1900–1918/20;558
48.2;Germanisten und Theologen 1918/20–1950/53;558
48.3;Schier – Schepers 1950/53–1971;563
48.4;Literatur;567
49;Tabula gratulatoria;570
Be-wohnte Dinge (S. 309-310)
Wolfgang Kaschuba
„Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ Diesen Werbespruch des schwedischen Einrichtungshauses IKEA kennen wir alle. Denn er ist im deutschsprachigen Werbemarkt omnipräsent und in den letzten Jahren fast schon sprichwörtlich geworden. So machte Spiegel Online daran den spezifi schen IKEA-Stil fest und fragte weiter: „Siezt du noch, oder duzt du schon?“ Andere gingen eher in sich: „Würde Jesus bei IKEA einkaufen?“ – am Ende leider ohne päpstlichen Bescheid aus Rom. Oder sie verbanden mit der Gewissensfrage nach dem Wohnen oder Leben das eher pragmatische Angebot:
„Komm in unsere WG!“ Und Elke aus Göttingen bloggte einfach ihr neues Lebensglück ins Netz: „Mit Moses, Billy und Vikka ist es doch viel weniger einsam!“ Nun sind Ethnologen ja stets auf der Suche nach kulturell Rätselhaftem. Und je länger ich über diesen IKEA-Leitsatz nachgedacht habe, desto rätselhafter und unverständlicher erschien er mir! Jedenfalls hat ihn mir bisher noch niemand richtig erklären können. Nicht einmal Anna, die auf der IKEA-Startseite dafür empfohlen wird: „Brauchst du Hilfe, frag einfach Anna!“ Anna konnte auch nur darauf verweisen, dass IKEA auf jeden Fall „multikulti“ sei, dass es „vielen Menschen einen besseren Alltag schaffen“ wolle und dass das Möbelhaus kürzlich ehrenvoll ausgezeichnet worden sei für seine Kampagne „Together in Hessen“.
Am logischsten wäre eigentlich noch die Lesart des Satzes als Werbung für Obdachlosigkeit: „Wohnst du noch, oder lebst du schon?“ als Aufforderung zur fi nalen Selbstverwirklichung, outdoor, außerhalb unserer beengenden Wohn- Container. Oder notfalls auch die leichte, selbst-ironische Variante, dass man mit IKEA-Möbeln nicht eigentlich „wohnt“, sondern eben tatsächlich viel „er-lebt“: Vor allem beim Auspacken und Zusammenbauen haben angeblich alle immer viel Spaß …
So locker meint es IKEA aber wohl auch wieder nicht. Also soll der rätselhafte Satz wohl etwas ganz anderes bedeuten. Er will offenbar an jene postmoderne Lebensstil-Debatte anknüpfen, in der die Dinge, die uns umgeben, „uns“ selbst repräsentieren sollen und in der ihr Raumarrangement zur Bühne wird, zum Laufsteg unserer Selbstverwirklichung, zum performativen catwalk. Wohnen mit IKEA ist dann nicht mehr routinierter Alltagsvollzug zwischen Bad und Bett. Vielmehr meint es Inszenierung und Stilisierung des Lebens selbst, dramatisiert oder traumatisiert letztlich in der bangen Frage des Kreativen:
„Wie fände ich meine Wohnung, wenn ich mich gerade selbst besuchen würde?“ Diese Suche nach Selbstverwirklichung also zeigt uns unmissverständlich die uns kulturell längst tief eingeschriebene „Macht der Dinge“ – unsere Macht durch sie wie ihre Macht über uns. Und sie verlängert damit unsere Wohn- und Dingwelt zugleich weit über die Wohnungsschwelle hinaus in die Stadt. Auch dort beansprucht sie längst ihre Räume als eine immer weiter ins Öffentliche auswuchernde „private“ Lebenswelt: das Straßencafé als Frühstückszimmer, der städtische Strand als Gartenidylle, die szenige location als Salon, kurz: die Innenstadt als öffentliches Wohnzimmer – keineswegs nur mehr für Mitglieder und Sympathisanten der „digitalen Bohème“.
„Wohnen“ verliert damit einerseits seine alte Trennschärfe zwischen privatem und öffentlichem Raum. Zugleich gewinnt es dadurch andererseits eine erweiterte, gleichsam „angelsächsische“ Bedeutungsdimension hinzu. Denn dort wird bekanntlich auch sprachlich zwischen „Wohnen“ und „Leben“ nicht unterschieden; „to live“ meint eben beides. Nun sprechen ja auch die Kulturwissenschaften ganz gerne Englisch. Und so reden sie gegenwärtig viel vom spatial turn, von einer Wendung hin zu einer neuen Räumlichkeit der Lebensformen und ihrer Betrachtungsweisen, von einem sich neu ausgestaltenden Bedürfnis auch der Menschen nach „Örtlichkeit“ und „Zugehörigkeit“, das im Gegenlicht globaler Horizonte wachse.