E-Book, Deutsch, Band 53, 300 Seiten
Reihe: Pulp Master
Disher Moder
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-946582-15-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Wyatt-Roman
E-Book, Deutsch, Band 53, 300 Seiten
Reihe: Pulp Master
ISBN: 978-3-946582-15-1
Verlag: PULP MASTER
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wyatt stiehlt. Und das ziemlich gut, denn er ist vorsichtig wie eh und je, effizient und erfinderisch. Bei der Auswahl seiner Jobs greift er diesmal aufeinen Informanten im Knast zurück, der direkt an der Quelle sitzt: Sam Kramer. Bis zu dessen Entlassung kümmert sich Wyatt im Gegenzug um Kramers Familie. Doch der Afghanistan-Veteran Nick Lazar erfährt von dieser Vereinbarung. Über seinen Insider erfährt Lazar zudem, dass Kramer - und somit auch Wyatt - zu Ohren gekommen ist, dass dem schlitzohrigen Finanzberater Jack Tremayne eine satte Anklage ins Haus steht und sein Koffer mit einer Million schon griffbereit ist: Tremayne will die Flatter machen ...
Garry Disher trägt der Logik und Dynamik der globalen Finanzialisierung Rechnung und konfrontiert Berufsverbrecher Wyatt mit dem Ponzi-Schema :einem finanziellen Betrugssystem, womit Investitionen reicher Anleger verschleiert werden.
Garry Disher wurde 1949 im Süden Australiens geboren und wuchs auf einer Farm auf. Auf sein Konto gehen preisgekrönte Kinderbücher, klassische Romane, Sachbücher und Crime Fiction. Hierzulande gelang ihm mit Letzterem auf Anhieb der Durchbruch: Sein Romandebüt GIER um den Berufsverbrecher Wyatt wurde 2000 mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, genauso wie 2002 sein erster Polizeiroman DRACHENMANN. Zuletzt erschien BARRIER HIGHWAY. Garry Disher lebt auf der Mornington-Halbinsel.
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1
Wyatt hatte sich in diesem Jahr in Sydney niedergelassen. Samt Dokumenten, die ihn als Bürger New South Wales’ auswiesen. In einer schmuddeligen Nacht Ende März – feucht, die Luft abgasgeschwängert – beobachtete er ein zweistöckiges Haus in Rushcutters Bay. Licht des wolken-gestreiften Mondes warf lebhafte Muster auf die Straße und blitzte kurz auf dem Zifferblatt von Wyatts alter Longines auf. Er löste die Armbanduhr von seinem knochigen Handgelenk, schob sie in die Tasche. Er war jetzt bereit, ein Schatten unter anderen Schatten. Ein Schatten, den man für einen Strauch halten würde, nicht für einen Dieb. Er brauchte ohnehin keine Armbanduhr; sein Zeitgefühl war ausgeprägt. Mittlerweile wartete er seit dreißig Minuten. Er glaubte nicht, dass die Polizei sich für Alan Hagger interessierte, obwohl der Typ nicht sauber war. Dennoch, er hielt Ausschau nach einem Überwachungsteam – einem Lieferwagen, einer schnellen Limousine, etwas, was in keiner der Nächte, als Wyatt sich hier aufgehalten hatte, in dieser Straße aufgetaucht war. Oder nach einer Regung, einem sich bewegenden Vorhang, einem schwachen Licht in einem Fenster mit Blickrichtung auf Haggers Haus. Nichts. Und auch keine Spur von einem anderen Mann, der das Geiche im Sinn hatte wie Wyatt. Aber Wyatt kalkulierte stets die unvorhergesehene Variable ein – einen Regenschauer; Hagger, der einen späten Besucher empfängt; einen Junkie, der bei einem Bruch einen Alarm auslöst; andere Dinge, die er nicht einkalkulieren konnte, hoffte er, abwehren, einpassen oder ins Leere laufen lassen zu können. Etwa zehn Uhr dreißig und Hagger würde um elf ins Bett gehen. Das übliche Ritual: seine betagte Katze in den Garten hinterm Haus bringen und warten, bis sie ihr Geschäft erledigt hatte. Abschließen, Alarmanlage aktivieren, Zähne putzen, ins Bett. Wyatt rührte sich. Er verstand sich aufs Warten, war aber, wenn in Bewegung, ruhig und konzentriert – mit einer Intensität, die kein reines Vergnügen darstellte, sondern ein kaltes, völliges Vertieftsein. Natürlich wollte er das Geld. Aber er wollte auch das Gedankenspiel und die Aktion. Er näherte sich Haggers Haus, verschmolz mit jedem Schatten, seine Bewegungen verhalten, nicht augenfällig für einen Nachbarn, der womöglich zur Nacht die Vorhänge zuzog. Dann war er auf Haggers Seitenweg, schlüpfte in den Garten, hockte sich neben die Terrasse, während er eine seidene Skimaske überstreifte. Er blickte den Garten hinunter, die Augen nicht fokussiert, aber darauf eingestellt, Bewegungen wahrzunehmen, mit denen er sich möglicherweise befassen oder die er ignorieren sollte. Er war mit dem Grundstück vertraut. Er hatte es mehrere Tage beobachtet, wohl wissend, dass etwas Banales sich als kritisch entpuppen konnte. Er beobachtete zudem schichtenweise – zunächst das gesamte Bild, dann die Einzelheiten. Dieser Job – wie alle anderen, die er durchgezogen hatte – reduzierte sich auf eine gewöhnliche Strategie, fußte auf keinem fein ausgeklügelten Masterplan. Für Hagger war er nur ein Schatten im Mondschein, als der Mann in leichtem Pyjama und lockerem Bademantel auftauchte und die alte Katze in ein Gartenbeet setzte. Hagger erleichterte sich nur zu gern selbst und wässerte den Zitronenbaum, während Wyatt ins Haus schlüpfte. Wyatts Bewegungen waren zurückgenommen, Knie leicht gebeugt, Atmung tief und gleichmäßig. Zuerst zur Treppe, in geduckter Haltung, die Handfläche an einer Gipskartonwand. Dann die nächste Wand, eine dritte, um Schwingungen zu erspüren, die eventuell auf Regungen anderswo im Hause schließen lassen könnten. Da war aber nichts. Hagger lebte allein. Kein Besucher anwesend. Plane fürs Optimum, erwarte das Schlechteste, beachte die Fluchtwege. Dann flugs die Treppe hinauf, immer an der äußeren Kante, wo die Stufen weniger knarren sollten, bis er in Haggers Schlafzimmer war. Großzügig, dezent von einer Nachttischlampe beleuchtet. Ein breites Doppelbett, ein begehbarer Kleiderschrank, schwere Vorhänge, ein einfarbiger dicker Teppich, ein angrenzendes Badezimmer. Für Wyatt von Interesse: diverse Schränke und Kommoden. Einige enthielten Haggers Kleidung, andere seine »berühmte Sammlung von Kellyana« – wie der Sydney Morning Herald es formuliert hatte. Eine Geschichte, die von einem Freigänger namens Sam Kramer an Wyatt weitergegeben worden war. Ein Großteil Wyatts jüngster Jobs war von Kramer vermittelt worden. Ein schneller Blick unter Kissen und Matratze und in die Nachttische. Keine Waffe, kein Messer, kein Taser oder Alarmknopf. Dann vergewisserte er sich, dass niemand im Bad war, und schlüpfte in den begehbaren Kleiderschrank. Er wartete. Kurz darauf stieg Hagger die Treppe hinauf, wusch sich die Hände, warf seinen Bademantel auf den Stuhl neben dem Bett, stieg ins Bett und machte es sich bequem, löschte das Licht. Fünfzehn Minuten später hatte das Atmen des Mannes zu einem langsamen, mühseligen Rhythmus gefunden. Wyatt schob sich ins Zimmer und hielt inne, nahm eine Einschätzung der dunklen Leere zwischen sich und dem Bett vor. Bereit, einzutauchen und von ihr verschluckt zu werden. Die Handschellen würden vorerst in seiner Tasche bleiben, das Metall vor unliebsamen Geräuschen bewahrt. Am Bett angelangt, wartete er, dass sich seine Augen anpassten. Hagger wurde vom Licht der Uhr auf dem Nachttisch schwach beleuchtet. In Rückenlage, die Knollennase zur Decke gerichtet, die Arme über der Bettdecke ausgestreckt. Wyatt war das Betthaupt bereits aufgefallen, eine einfache, aber nützliche Konstruktion aus Holzlatten und Pfosten. Jetzt umschloss er sanft Haggers rechtes Handgelenk, zog es über die weiche, atmende Brust und fesselte es mit den Handschellen an den Bettpfosten hinter der linken Schulter des Mannes. Hagger rührte sich. Wurde ganz still. Versuchte, sich aufzurichten, als Wyatt die Nachttischlampe einschaltete und die Schatten flohen, wurde aber vom eigenen Arm daran gehindert. Unbehagen, ein stechender Schmerz, der gelindert werden könnte, drehte er sich auf den Bauch – aber in welchen Schwierigkeiten er auch stecken mochte, er würde ihnen dann den Rücken zukehren. Er gab es auf. Wyatt beobachtete ihn, wie er nachdachte. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
Auch das war erwartbar gewesen. Wyatt wusste, es kämen Wut, Angst und Verwirrung hinzu. Er war darauf vorbereitet, solange zu warten, bis sich alles gelegt hatte und er mit der Arbeit fortfahren konnte. »Was wollen Sie?«, fragte Hagger. »Geld?«
Dann, als hätte er es überdacht: »Mein Sohn muss jede Minute nach Hause kommen.«
Wyatt wartete. »In genau diesem Augenblick geht im nächsten Polizeirevier ein Alarm los, nehmen Sie also die Beine in die Hand und verziehen Sie sich in das Loch, aus dem Sie gekrochen sind.«
Einer von den Polterern. Auf die ließ man sich nicht ein. Es würde schlimmer und schlimmer, bis sie sich lächerlich vorkamen. Dann verfielen sie in das andere Extrem, um diesem Eindruck entgegenzuwirken, und es würde weitergehen, bis jemand Schaden nähme. Wyatt wartete. Haggers mächtige Brust hob sich für den nächsten Ausbruch, und dann brach es aus ihm heraus. »Werden Sie mir etwas antun?«
Wyatt schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, dem Mann eine Stimme zu präsentieren, an die er sich würde erinnern können. Hagger sagte: »Dieser Zeitungsartikel?«
Wyatt nickte. Es war ein weitverbreiteter Fehler unter Sammlern, unter Neureichen: das Prahlen in Lifestyle-Artikeln. Wyatt ging zum ersten Schrank im Zimmer. Unterwäsche, Socken. Frisch gewaschen und zusammengelegt und, davon war Wyatt überzeugt, gebügelt. »Es ist nichts hier«, sagte Hagger. »Es ist alles in einem Schließfach in der Bank.«
Nein. Ein besessener Sammler all dessen, was Bezug zur Kelly Gang hatte, würde alles in seiner Nähe verwahren. Falls sich nichts im Zimmer befand – und weshalb sonst gab es so viele Schränke? –, musste es irgendwo unten sein. Aber hier konnte sich Hagger die wertvollsten Gegenstände schnappen, sollte im Haus jemals ein Feuer ausbrechen. »Das mit dem Alarm meine ich ernst.«
Wyatt zuckte mit den Achseln. Er hatte das Haus betreten, bevor die Alarmanlage angeschaltet worden war. Sie würde losgehen, sobald er das Haus verließe, doch das war in Ordnung. Es war nun mal die einzige Möglichkeit, wie Wyatt an einer modernen Alarmanlage vorbeikam. In der Vergangenheit war er in der Lage gewesen, die meisten Alarmsysteme zu deaktivieren, aber der technische Fortschritt hatte ihn überflügelt. Heutzutage passte er sich den Umständen an. Benutzte ein Brecheisen, wenn es sein musste. Ließ einen nachlässigen Hausherrn die Arbeit für ihn erledigen. Ein Bücherschrank mit Glastüren stach ihm ins...