E-Book, Deutsch, Band 4, 400 Seiten
Dix Das verschwundene Fräulein
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-30437-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Seebad-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 4, 400 Seiten
Reihe: Viktoria Berg und Christian Hinrichs ermitteln
ISBN: 978-3-641-30437-9
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Elsa Dix ist eine aus Norddeutschland stammende Krimiautorin. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Hund in Düsseldorf und verbringt jede freie Minute auf Norderney. Bei Goldmann erscheinen ihre Seebad-Krimis um das sympathische Ermittlerduo Viktoria Berg und Christian Hinrichs.
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3
Pappenheimer
In der Friedrichstraße war mal wieder kein Durchkommen. Sommergäste gingen zu zweit, zu dritt nebeneinander, plauderten, blieben ohne Vorwarnung vor den Auslagen der Geschäfte stehen. Christian drängte sich an zwei Männern vorbei, die nebeneinander auf der Mitte der Straße liefen und in ein Gespräch vertieft waren, wich einem Sonnenschirm aus, den eine Dame über ihre Schulter warf, und hielt abrupt an, als ein Kind plötzlich auf ein Schaufenster zueilte, in dem eine besonders große Puppe ausgestellt war. Normalerweise mochte Christian den Trubel in der Einkaufsstraße von Norderney. Doch jetzt fluchte er innerlich. Er war spät dran. Gerade als er aufbrechen wollte, war ein Mann auf die Wache gekommen, der den Diebstahl seines Spazierstocks anzeigen wollte. Gendarm Müller war auf Streife, und so hatte Christian den Fall aufnehmen müssen.
Er drückte sich an der Schlange vor dem Postgebäude vorbei, eilte in großen Schritten weiter. Vor dem Conversationshaus war das nachmittägliche Sinfoniekonzert des Königlichen Badeorchesters bereits fast zu Ende. Sie spielten den »Radetzkymarsch«, Christian hatte ihn in diesem Sommer schon hunderte Male gehört. Aber noch immer begeisterten ihn die vielen Konzerte im Ort. In seiner Kindheit hatte sich selten ein Leierkastenmann in sein Viertel verirrt.
Beim Hotel Bellevue wurden gerade Koffer und Hutschachteln auf eine Kutsche verladen. Die gegenüberliegende Gepäckhalle war bereits verwaist, die Dienstmänner waren auf dem Weg zum Hafen. Der Raddampfer aus Norddeich-Mole würde in einer Viertelstunde einlaufen. Mit ihm würde Viktoria ankommen. Wie immer, wenn er an sie dachte, spürte er ein Kribbeln im Bauch, und er musste lächeln.
Ein Zettel am Aushang bei der Gepäckhalle fiel ihm auf. Obwohl er es eilig hatte, blieb er stehen, denn die Überschrift klang vielversprechend. »An Dauermieter«, war da zu lesen und darunter: »Unmöbliertes Häuschen in der Luciusstraße zu vermieten. Mit Veranda und Küche. Elektrisch verkabelt. Kochhexe vorhanden.« Das wäre was. Eine Dienstwohnung, die er als Polizist hätte beziehen können, war nicht frei. Bislang lebte Christian in einer Pension, die von einer jungen Witwe geführt wurde. Aber sollte Viktoria sich wirklich bereit erklären, ihn zu heiraten, wäre es gut, sich schon einmal nach einer passenden Wohnung umzusehen. Er nahm sein Notizheft aus der Jackentasche, schrieb sich mit Bleistift die angegebene Adresse auf und steckte anschließend das Heft wieder ein. Er wollte sich abwenden, aber ein wütender Aufschrei in der Gepäckhalle ließ ihn innehalten. »Hab ich dich erwischt, du Aas!«
Christian glaubte die Stimme zu kennen und trat durch einen der Torbögen in die Gepäckhalle, einem großen Raum mit Säulen. Dort stand, wie er vermutet hatte, Gendarm Müller. Mit der Linken hatte er einen etwa siebenjährigen Jungen am Arm gepackt. Mit der Rechten holte er aus und gab dem Kind eine gehörige Backpfeife. »Du bist das also, der sich am Gepäck bedient. Na, du kannst dich auf was gefasst machen.«
Tränen liefen über die vom Schlag rot anlaufende Wange des Jungen. »Ich wollte doch nur fragen, ob ich einem der Dienstmänner helfen kann, Herr Gendarm. Ich hab nix gestohlen.«
Müller lachte höhnisch auf. »Das kannst du sonst wem erzählen. Herumschlawinert bist du und wolltest ausbaldowern, ob du was mitgehen lassen kannst.«
Ein alter Dienstmann kam schlurfend dazu. Sein Rücken war gebeugt, er stützte sich auf einen Stock. »In den letzten Wochen sind immer wieder Kleider aus den Koffern verschwunden.«
»Deswegen hab ich mich ja auf die Lauer gelegt«, sagte der Gendarm. Ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf seinem Gesicht, sein blonder Backenbart zuckte. »Und nun hab ich den Dieb erwischt.«
»Ich hab doch gar nichts gemacht«, rief der Junge.
Christian trat näher. »Was ist hier los?«
Müller sah auf. Als er Christian erblickte, verengten sich seine Augen. »Ah, der Herr Kriminalassistent!«, sagte er spöttisch. »Dieser Rotzlöffel hier wollte sich gerade an dem Koffer dort zu schaffen machen.« Er deutete auf einen großen Lederkoffer, der an der Wand des Gebäudes stand.
»Ich wollte ausprobieren, ob ich ihn tragen kann«, sagte das Kind und wischte sich über die laufende Nase.
Müller lachte erneut. »Nie um eine Ausrede verlegen. Das kennt man ja. Meiner Meinung nach gehörst du in eine Besserungsanstalt.«
Christian trat näher. »Haben Sie gesehen, dass der Junge etwas aus einem Koffer genommen hat, Müller?«
»Er wollte ihn gerade aufmachen. Das Aas hat wohl gedacht, dass die Gelegenheit günstig ist. Jetzt, wo die Dienstmänner beim Hafen sind, um das Gepäck der Gäste abzuholen.«
»Aber Sie haben nicht gesehen, dass er ihn geöffnet hat«, stellte Christian fest.
Müller schob seine Augenbrauen zusammen. »Mischen Sie sich nicht ein, Herr Kriminalassistent!«, knurrte er.
»Das heißt also, Sie haben es nicht gesehen«, schlussfolgerte Christian.
Müllers blasse Wangen erröteten. »Das brauch ich auch nicht. Ich kenne meine Pappenheimer.«
Der alte Dienstmann nahm eine Pfeife aus dem Mund, sah sich den Jungen an. »Bist du nicht der Lütte von Friedhelm Abben? Deinen Vater hast du wohl gar nicht mehr kennengelernt. Das Kutschenunglück war doch, als deine Mutter mit dir schwanger war.«
Der Junge nickte mit ausdrucksloser Miene. »Mein Vater ist zwei Monate vor meiner Geburt gestorben.«
»Und seitdem bringt deine Mutter dich allein durch?«, fragte der Dienstmann.
Der Junge nickte erneut.
Der alte Dienstmann zog an seiner Pfeife. »Der Abben war ein guter Mann. Es war Pech, dass das Pferd durchgegangen ist und die Kutsche ihn erwischt hat. Direkt über seinen Bauch ist das Rad gerollt. Er hat es nicht mal bis ins Krankenhaus geschafft.«
»Das gibt dem Jungen noch lange nicht das Recht, sich an fremder Leute Koffer zu schaffen zu machen. Ich schreibe eine Anzeige. Seine Mutter wird eine gehörige Strafe zahlen müssen.«
Die Augen des Jungen wurden groß. »Bitte, Herr Gendarm, meine Mutter arbeitet ohnehin schon so viel. Wir haben kein Geld.«
»Wie wollen Sie eine Anzeige aufnehmen, wenn Sie nichts gesehen haben, Müller?«, fragte Christian verärgert. Normalerweise legte der Gendarm keinen Arbeitseifer an den Tag. Aber jetzt, wo er einen Schwächeren vor sich hatte, glaubte er offenbar auftrumpfen zu können. »Es reicht, wenn Sie mit der Mutter reden. Die wird ihrem Sohn schon den Kopf waschen.«
Müller starrte ihn einige Sekunden wortlos an. Warf einen Blick auf den Dienstmann, der aber nur ruhig an seiner Pfeife zog. Schließlich ließ er den Jungen los. »Wenn Sie meinen, dann kümmern Sie sich doch um dieses Pack. Aber ich sage Ihnen: Wenn ich den Jungen noch mal erwische, kommt er in die Besserungsanstalt.« Er schob das Kind in Christians Richtung, drehte sich um und stapfte davon.
Der Dienstmann blickte ihm hinterher. »Ist manchmal ganz schön aufbrausend, unser Kuddel.« Er nahm seine Pfeife aus dem Mund, und dicker Rauch quoll ihm aus dem Mund. »Gut, dass Sie das übernehmen mit dem Jungen. Der Kuddel schießt leicht über das Ziel hinaus. Wobei er aber auch nicht ganz unrecht hat.« Er sah den Jungen durchdringend an. »Wenn ich dich hier noch mal erwische, dann setzt es was.«
Der Junge nickte mit großen Augen. Seine Unterlippe zitterte.
Der Dienstmann tippte sich an die Mütze und schlurfte davon.
In der Ferne hörte Christian das durchdringende Horn des Raddampfers. Er fluchte. Die Fähre legte gleich an, und er würde auf jeden Fall zu spät kommen, um Viktoria abzuholen. Warum hatte er sich nur einmischen müssen? Aber es half nichts. Christian hatte sich die Suppe eingebrockt, jetzt musste er sie auch auslöffeln. »Wo wohnst du?«
Der Junge ließ den Kopf hängen. »In der Ellernstraße, kurz vor dem Armenhaus«, sagte er kaum hörbar.
Christian deutete zur Tür. »Dann man los.«
Schweigend gingen sie nebeneinanderher, bis sie in die Straße abbogen, in der Hannes lebte. Christian blieb stehen, fasste das Kind an der Schulter. »So, Hannes, bevor ich jetzt mit deiner Mutter spreche, sagst du mir, was du wirklich in der Gepäckhalle gemacht hast. Und kein Schnack. Ich will die Wahrheit wissen.«
Der Junge schlug die Augen nieder, seine Wangen waren rot angelaufen. »Der Gendarm hatte recht. Ich wollte was mitnehmen. Eine neue Schürze für meine Mutter. Ihre ist gestern gerissen. Ich dachte, es merkt ja keiner. Die Sommergäste haben doch so viele Sachen.«
»Gehen die anderen Diebstähle auch auf dein Konto?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »War heute das erste Mal.«
Christian war sich nicht sicher, ob er ihm glauben sollte. Aber es war eine Sache, einen Diebstahl zu versuchen. Und eine andere, ein Kind in eine Besserungsanstalt zu schicken. Christian hatte in seiner Jugend im Schanzenviertel zwischen Altona und Hamburg genug Armut gesehen und wusste, wozu sie verleitete. Sein bester Freund Willy hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er stahl. Es hatte ihrer Freundschaft keinen Abbruch getan. Zumindest nicht bis zum letzten Jahr, als Willy sich an eine Gaunerbande auf Norderney gehalten und ausgeplaudert hatte, was niemand wissen durfte. Nämlich dass Christian dabei gewesen war, als Willy in ein Haus eingebrochen war. Auch wenn er Willy nur begleitet hatte, weil er damals als Reporter arbeitete und einen Artikel für die Zeitung schreiben wollte. Die Sache war gründlich schiefgegangen. Willy und Christian waren von einem Gendarmen entdeckt worden. Bei...