Dobson | Wo die Winterrose blüht | Buch | 978-3-96362-281-6 | www.sack.de

Buch, Deutsch, 384 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 203 mm, Gewicht: 438 g

Dobson

Wo die Winterrose blüht


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96362-281-6
Verlag: Francke-Buch GmbH

Buch, Deutsch, 384 Seiten, Format (B × H): 134 mm x 203 mm, Gewicht: 438 g

ISBN: 978-3-96362-281-6
Verlag: Francke-Buch GmbH


Département Ariège, Frankreich, 1943
Die Fluchthelferin Grace Tonquin, eine unerschrockene junge Frau aus der Gemeinschaft der Quäker, will jüdische Kinder aus dem besetzten Frankreich über die Pyrenäen in Sicherheit bringen. Sie nimmt die verwaisten Geschwister Élias und Marguerite mit in ihre Heimat Oregon. Doch die erlittenen Traumata bleiben nicht einfach in der Alten Welt zurück, sondern drohen, die Familie zu zerreißen …

Oregon, USA, 2003
Addie Hoult möchte ihrem Ersatzvater Charlie helfen, der an einer schweren Erbkrankheit leidet. Nur, wenn sie seine Verwandten findet, kann er gerettet werden. Und vielleicht werden dann auch seine inneren Wunden heilen. Ihre Suche führt sie zum Tonquin Lake und auf die Spuren von Grace und ihrer Familie, die ein Geheimnis zu umgeben scheint …

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KAPITEL 1

Saint-Lizier, Frankreich

September 1943

Die Sonnenstrahlen durchbrachen den Nebel und warfen ihren Schein wie ein Scheinwerferlicht auf eine Bühne in Hollywood. Das Morgenrot der Sonne wies Grace Tonquin und den zwölf Kindern in ihrer Obhut den Weg. In wenigen Minuten würden sie Schutz in der Kathedrale von Saint-Lizier finden. Schutz vor dem hellen Licht.
Morgenröte am Himmel. Grace versuchte, den Gedanken an die Warnungen des Matrosen abzuschütteln, als sie die Kinder eine moosbewachsene Mauer entlangführte. Die zerklüfteten Steine an dieser Stelle verdeckten die Sicht auf das glühende Rot des Sonnenaufgangs. Sie rutschte mit ihren Oxford-Schuhen über das glitschige Kopfsteinpflaster. Die Blasen an ihren Füßen schmerzten, doch sie konnte jetzt nicht stehen bleiben. Ihre amerikanischen Landsleute waren bereits in die Heimat zurückbeordert worden, doch Grace konnte dieses Land nicht verlassen, bis alle jüdischen Kinder entweder ein sicheres Versteck erreicht hatten oder aus Frankreich evakuiert worden waren.
Élias, der Älteste, trug den kleinen Louis auf dem Arm, während er gleichzeitig seiner Schwester Marguerite über eine Pfütze hinweghalf. Über ihrem Weg unter dem schützenden Dach des Herbstlaubes duftete es nach Regen.
Bereits in ihrer Kindheit hatte Grace die Sommertage lieber abseits des Rampenlichts verbracht. Weit weg von den Menschenmengen mit ihren bewundernden Oohs und Aahs, die sie ihr zuwarfen, als wäre sie eine berühmte Persönlichkeit. Aber diese Menschen hatten nie gesehen, wer Grace wirklich gewesen war. Sie sahen in ihr die Tochter von Ruby Tonquin. Nicht das schüchterne Kind, das sich am liebsten in einem Schrank im Beverly Wilshire Hotel versteckt hätte. Ein etwas seltsames Mädchen, das lieber die Sandstrände von Santa Monica erkundete, anstatt Shoppinggelüsten zu frönen. Höchstwahrscheinlich war Grace die einzige Person in ganz Kalifornien gewesen, die Ruby nicht wie eine Göttin verehrt hatte.
Marguerite drehte sich zu Grace um. Ihre Augen waren angeschwollen und rot wie die aufgehende Sonne. Grace bückte sich zu ihr hinunter und legte einen Finger auf die Lippen. Die Stille war ihr Verbündeter, bis sie die Kathedrale erreicht hätten, hatte sie den Kindern erklärt. Das Schweigen war ihr Schutzschild.
Das älteste Mädchen in der Gruppe war fünfzehn Jahre alt. Sie ging den anderen Kindern voran und führte sie nun um eine Häuserecke. Die anderen folgten Suzel wie Entenküken, eingepackt in ihre dunklen Wintermäntel, mit kleinen, aber schweren Tornistern in den Händen und gewobenen Schuhen – Espadrilles – an den Füßen, die ihnen ein Polster auf den harten Steinen boten. Das Wetter war noch viel zu warm für die dicken Wintermäntel. Bald jedoch würden sie sie brauchen, wenn in den nahe gelegenen Bergen der Schneefall einsetzte.
»Muet comme une carpe«, flüsterte Grace.
Stumm sein wie ein Fisch.
Zwei der Kinder stießen miteinander zusammen und begannen zu kichern. Dabei hatte Grace sie sowohl auf Französisch als auch auf Englisch angewiesen, still zu sein. Sie verstanden nicht, was auf dem Spiel stand. Wie sollten sie auch?
Selbst Grace verstand die Lage nicht vollständig. Doch sie hatte Gerüchte darüber gehört, was außerhalb des Einflussbereichs des Vichy-Regimes geschah. Gewalt hatte sich Bahn gebrochen und schwappte nun auch auf die wenigen Gebiete über, die noch immer als sicher für jüdische Kinder galten. Grace musste diese Kinder an einen sicheren Ort außerhalb Frankreichs bringen. Bevor die Nazis sie finden würden.
Sie hatte auch Gerüchte darüber gehört, dass die Alliierten im Krieg gegen Deutschland an Boden gewannen. Sie hörte Berichte über Charles de Gaulle, einen französischen General, der sich selbst im sicheren London aufhielt. Doch alles, was sie hier vor Ort sah, waren französische Polizisten und Nazi-Offiziere, die alle Juden zu hassen schienen, egal ob es sich dabei um Kinder oder Erwachsene handelte. Grace betete, dass die Kinder in Sicherheit sein würden, sobald der Krieg vorbei war. Doch bis dahin würden sie und ihre Mitstreiter, die in Frankreich geblieben waren, weiterhin Hilfe leisten.
Vor ihnen war nun die Kathedrale zu sehen, deren mittelalterlicher Glockenturm in den Himmel ragte. Die Steinmauern ließen das Gebäude wie eine Festung wirken. Ein Ort voller Geborgenheit, dachte Grace. Ein Zufluchtsort wie das Bauernhaus, in dem sie und die Kinder zuletzt gewesen waren. Die meiste Zeit des Tages hatten sie geschlafen, bevor sie ihren nächtlichen Fußmarsch wieder fortgesetzt hatten. Nun waren diese Kinder bereits seit zwei Nächten durchgehend unterwegs. Ihre Reise hatte im Waisenhaus in einem Ort mit Namen Aspet begonnen. Die Müdigkeit kroch ihnen in die Knochen, ihre Füße wurden wund, doch sie mussten immer weitergehen. Bald, so hatte Roland Mercier gesagt, würden sie sich gemeinsam in einem Schloss verstecken, bis er für die Kinder eine sichere Route über die Pyrenäen nach Spanien und weiter nach Portugal gefunden hätte.
Die Stille in diesen frühen Morgenstunden war wahrhaftig ein Segen. Aber eigentlich war es fast zu still, dachte Grace. Nicht einmal das Bellen eines Hundes oder das Geklapper des Milchwagens war zu vernehmen. Auch der Wind, der die Gasse entlangwehte, fühlte sich an wie Wind in der Wüste, als ob sie die Einzigen wären, die es gewagt hatten, das Städtchen am Fluss zu betreten.
Grace schüttelte den Kopf, als ob sie damit gleichermaßen ihre dunkle Vorahnung loswerden könnte. Die Kathedrale war der einzige sichere Ort in diesem Dorf, der Grace’ Schützlingen einen Unterschlupf bieten konnte. Nur noch ein paar Schritte, dann würden sie sich endlich verstecken können, bis die Nacht hereinbrach.
Ein Stück Papier flatterte durch die enge Gasse, wirbelte über das Kopfsteinpflaster und landete schließlich vor Grace’ Füßen. Avis Aux Israelites, Mitteilung an die Israeliten, war darauf zu lesen. Eine weitere Nachricht an die »Unerwünschten«, wie sie genannt wurden. Und wieder die Aufforderung, bei den Behörden vorstellig zu werden.
Grace hasste diese Flugblätter so sehr. Ständig erinnerten sie sie daran, dass die Regierung – eigentlich eine Institution zum Schutz der Bürger – Jagd auf ihre Kinder machte.
Sie kickte das Papier mit dem Fuß in Richtung Rinnstein. Sie mussten diese Kinder unbedingt nach Spanien in Sicherheit bringen, bevor die französische Polizei oder die kalten Winterstürme ihrer habhaft werden würden.
Marguerite griff nach Grace’ Hand. Grace blieb stehen, bückte sich zu dem Mädchen herunter und blickte ihr in die Augen. »Was ist denn los?«
»Ich muss mal!«, flüsterte Marguerite leise.
»Wir sind gleich da.« Nur noch ein letzter Häuserblock.
»Ich muss aber ganz dringend!« Marguerite war den Tränen nahe, was die Dringlichkeit in ihrer Stimme noch einmal verstärkte. Tränen waren der Feind aus dem Inneren. Kleidung konnte man immer wieder reinigen, aber die Tränen eines neunjährigen Mädchens konnten in der Stille dieser Straßen für jeden aus der Gruppe den Tod bedeuten.
Grace schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Es kam ihr so natürlich über die Lippen wie ein Atemzug. Dann spitzte sie die Ohren und lauschte. Doch alles blieb ruhig, abgesehen von den Zweigen, die sich im Wind bewegten.
Sie würde für Marguerite einen Halt einlegen. Jedes der Kinder brauchte schließlich ihren Schutz.
Élias übergab den Jungen auf seinem Arm an Suzel und ging zurück zu seiner Schwester. Seine beiden Hände hatte er lässig in die Hosentaschen gesteckt. Er wirkte wie ein Tourist, der einen Spaziergang durch diese altehrwürdige Stadt machen wollte. Sein brauner Mantel und die lässige Körperhaltung hatte er sich von dem Helden aus seinem Lieblingscomic abgeschaut: dem belgischen Reporter und Abenteurer Tim. Er mochte zwar äußerlich desinteressiert wirken, doch in den braunen Augen von Élias spiegelte sich die Entschlossenheit eines Löwen. Sollte es nötig werden, würde er die Menschen, die er liebte, notfalls auch mit Gewalt verteidigen.
Mit seinen nur dreizehn Jahren konnte Élias schon ein echter Hitzkopf sein. Trotzdem konnte man sich immer auf ihn verlassen. Grace wusste, dass er und Suzel die anderen Kinder sicher zur Kathedrale bringen würden.
»Struppi«, flüsterte er leise den Spitznamen seiner Schwester, den er ihr zu Ehren seines Lieblingscomics Tim und Struppi gegeben hatte. »Hast du dir wehgetan?«
»Sie muss mal auf die Toilette«, sagte Grace.
»Hunderttausend heulende Höllenhunde!« Élias hatte scheinbar die komplette Comicreihe auswendig gelernt inklusive der vielen Sprüche von Kapitän Haddock, Tims bestem Freund.
»Bring die anderen Kinder zur Kirche. Ich werde Marguerite helfen.«
Élias zögerte kurz, dann wandte er seinen Blick zum Kirchengebäude. »Ich halte Wache für euch.«
»Nein!«, sagte Grace und drängte ihn vorwärtszugehen, damit er sich und die anderen in Sicherheit bringen konnte. »Sag den Nonnen, dass wir gleich da sein werden.«
Élias küsste Marguerites Wange, bevor er wieder zurückging und seinen Platz am Ende der Gruppe einnahm. Ein Zuhause – das war alles, was Grace sich für diese Kinder wünschte. Aber nicht heute. Heute brauchten sie einfach nur die allernötigsten Dinge zum Leben: Essen, Wasser und ein paar Stunden Schlaf.
Die Sonne schien nun schon stärker am Himmel und ließ das feurige Morgenrot langsam verblassen.
»Wir müssen uns beeilen!«, flüsterte Grace Marguerite zu, als sie sich in einen Torbogen duckten und zu einem Innenhof liefen, der sich hinter einer Reihe von Läden befand. Dort würden sie vor dem Wind geschützt sein. Grace hätte sich ob des Gestanks, der von den Menschen stammte, die hier schon vor ihnen ihre Notdurft verrichtet hatten, am liebsten die Nase zugehalten. Doch nun packte sie ihren Rucksack beiseite, um Marguerite dabei zu helfen, ihren schweren Mantel auszuziehen. Während das Mädchen in einer Ecke seine Blase erleichterte, zählte Grace leise die Sekunden.
Jede einzelne dieser Sekunden stand für einen Schritt, mit dem sich der Rest der Gruppe von ihnen wegbewegte. Atemzug für Atemzug – so bewegten sie sich weiter. Leise und unauffällig – wie Fische im Wasser.
Marguerite hatte, wie alle anderen, bereits viel Erfahrung darin gesammelt, für sich selbst zu sorgen. Vor etwas mehr als einem Jahr war sie mit ihrer Mutter und dem Bruder aus ihrer Wohnung in der Nähe von Paris geflohen und schließlich im Internierungslager Gurs gelandet, das westlich des Städtchens lag, in dem sie sich jetzt befanden. Grace wusste nur wenig über die Geschichte von Marguerite und Élias, doch es reichte, um sich sicher zu sein, dass die beiden durchhalten würden. Dieser Krieg, diese Feindseligkeit, hatte den Kindern vor allem eines verschafft: Widerstandskraft. Jedes einzelne von ihnen hatte mehr durchgemacht als sämtliche Erwachsenen in Grace’ Heimat Amerika. Sie hatten auf ihrer Flucht vor den Nazis bereits genug mitansehen müssen und nun mussten sie erneut vor ihnen weglaufen.
Wann würden sie endlich von der Angst frei sein, dass jemand sie ergreifen und mitnehmen würde? Sie betete dafür, dass die ständige Flucht ein Ende finden würde, sobald die Kinder die zerklüfteten Berge – die befestigte Grenze Südfrankreichs – überquerten und in das einigermaßen neutrale Spanien gelangten. Sobald sie sich mit Roland, ihrem Mitstreiter, getroffen hatte, würde er die Kinder auf halbem Weg über die Berge führen. Sie würde dann zurück zum Internierungslager in Gurs gehen und anderen Kindern dabei helfen, Frankreich zu verlassen.
Der Himmel wurde immer heller und damit wurde es für ihre Gruppe auch immer schwieriger, sich zu verstecken. Tageslicht war genauso gefährlich wie Lärm.
»Komm, beeil dich!« Graces Finger zitterte, als sie in Richtung Hofausgang zeigte. Sie mussten zur Kirche gelangen, bevor die Nonnen das Tor verschlossen.
Marguerite zupfte ihre Strumpfhosen zurecht und schlüpfte in ihren Mantel. Sie verzichtete darauf, ihn zuzuknöpfen und griff nach ihrem Tornister. Die beiden beeilten sich, durch den engen Durchgang zu gelangen, doch bevor sie auf die Straße traten, bedeutete Marguerite Grace mit einer deutlichen Handbewegung, stehen zu bleiben.
»La cigarette!«, flüsterte sie.
Beim nächsten Windstoß nahm auch Grace den beißenden Geruch wahr. Es war zwar nur ein leichter Hauch, doch er brannte in Nase und Kehle. Zigarettenrauch bedeutete, dass außer den Nonnen noch jemand anderes in der Nähe war.
Sie mussten die Kathedrale erreichen, bevor die Stadt zu neuem Leben erwachte. Bevor der Raucher merkte, dass eine amerikanische Quäkerin und ein französisches jüdisches Mädchen hier herumliefen.
Sie musste jetzt weiter, um Marguerite und all die anderen Kinder zu retten.
»Eins«, begann Grace flüsternd auf Englisch zu zählen, was ihrem Schützling bereits vertraut war. »Zwei.«
Drei Sekunden würden jedoch bei Weitem nicht ausreichen. Nicht wenn sie nicht wussten, wer oder was da draußen auf sie wartete.
Graces Füße waren wie am Kopfsteinpflaster festgewachsen, ihre Beine verweigerten den Dienst, als wären sie gelähmt, während sie in ihrem Kopf weiterzählte. Sechs, sieben, acht ... die Zahlen wurden immer höher. Wie damals die Stapel von Bohnen, mithilfe derer Grace den Kindern das Rechnen beigebracht hatte.
Als Grace schließlich an Marguerites Hand zerrte, schlangen sich plötzlich zwei starke Arme um ihre Hüfte und zogen sie von der Straße weg.
Grace schluckte ihre Schreie hinunter, um keinen Lärm zu machen, versuchte sich aber gegen den festen Griff an ihrem Körper zur Wehr zu setzen.
»Grace …« Die Stimme des Mannes war leise, aber kraftvoll, wie der Anbruch des neuen Tages.
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass er ihren Namen kannte.
Marguerite erkannte den Mann zuerst. Sie ließ Grace’ Hand los und hängte sich an sein Hosenbein. Grace’ Angst wich und sie hörte auf, sich zu wehren. Der Mann hielt sie noch immer an der Hüfte fest. Sein Gesicht war zwar durch den Schatten verdunkelt, doch als er erneut ihren Namen sagte, wusste sie, dass Roland sie gefunden hatte.
»Ihr seid jetzt in Sicherheit!« Er lockerte seinen Griff und nahm Marguerite auf den Arm.
»Aber ihr müsst Saint-Lizier verlassen.«
»Wir sind doch gerade erst angekommen ...«
»Vite!«, sagte er. »Ihr dürft keine Zeit verlieren!«
Grace machte einen Schritt in Richtung Straße. »Ich muss die Kinder zusammentrommeln.«
»Oh, Kolibri ...«
Kolibri. Diesen Namen hatte er ihr gegeben, als sie zum ersten Mal zusammen in den Internierungslagern an der Befreiung von Kindern gearbeitet hatten. Vermutlich verdankte sie diesen Spitznamen ihrer flatterhaften Art.
Warum hielt er sie jetzt zurück, wenn sie doch fliehen sollten?
Ein Auto ratterte plötzlich über das Kopfsteinpflaster. Dann sah Grace zwei Männer in königsblauen Uniformen und glänzenden schwarzen Stiefeln. Sie schritten die Straße entlang. Ihre Orden glänzten in der Morgensonne.
»Wir kommen zu spät!«, sagte Roland
Alle Polizisten waren mit einer Pistole bewaffnet, als ob die Kinder sich gegen sie wehren könnten. Grace trat auf die Straße, die Blätter unter ihren Füßen knirschten. In Europa herrschte Krieg – warum um alles in der Welt machte die Polizei Jagd auf die Kinder dieses Landes? Sie hatten doch nichts Böses getan. Im Gegensatz zu den Nazis, die die Herrschaft im nördlichen Teil Frankreichs an sich gerissen hatten.
Sie würde mit den französischen Polizisten sprechen, wie sie es auch schon vor ein paar Monaten auf einer Zugfahrt getan hatte. Sie würde ihnen erklären, dass diese Kinder unter dem Schutz der Vichy-Regierung standen. Sie konnten ihr doch nicht die Kinder wegnehmen!
»Grace!« Roland zog sie in die enge Gasse zurück. »Du kannst ihnen jetzt gerade nicht helfen.«
»Ich werde mit der Polizei sprechen!«
»Dann werden sie dich erschießen. Was glaubst du, würde das mit den Kindern machen?«
»Das werden sie nicht tun ...«
»Doch, das werden sie!«, beharrte er. »Du und Marguerite, ihr müsst in die andere Richtung davonlaufen. Folgt dem Fluss in Richtung Süden.«
Sich wegducken? Nein, das konnte sie nicht. Sie würde mit Worten anstatt mit Waffen kämpfen, egal wie viel Angst sie hatte.
Grace befreite sich aus Rolands Griff. Der Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht. Sie war bereit, der Polizei gegenüberzutreten. Doch dann hörte sie neuen Lärm. Dieses Mal klang es wie Donnergrollen. Ein Lastwagen in Tarnfarben hielt vor den Kindern an. Ein halbes Dutzend Soldaten stieg ab, an ihren braunen Uniformen trugen sie rote Armbinden.
Seit wann waren die Nazis denn in Saint-Lizier?
»Großer Gott ...«, entfuhr es Grace und sie flehte Gott um Gnade für all die Kinder an.
Die Soldaten begannen, die Kinder in Richtung Lkw zusammenzutreiben. Schluchzen durchdrang nun die vorherige Stille. Grace hätte am liebsten geschrien. Dieser Wahnsinn musste gestoppt werden! Mit rationalen Worten.
Grace drehte sich zu Roland um. »Ich kann doch nicht einfach hier stehen bleiben und nichts tun.«
Roland wies mit dem Kopf in Richtung Marguerite. »Wenn die Nazis dich auch mitnehmen ... werden sie sie sicherlich finden.«
Grace sank in sich zusammen und lehnte sich an die kalten Steine der Mauern. »Bring sie an einen sicheren Ort. Bitte ...«
Damals in Aspet hatte Roland diese Route durch die Hügel für sie und die Kinder geplant, da sie nicht länger mit dem Zug fahren konnten. Er würde jemanden finden, der sich um Marguerite kümmern konnte, bis Grace wieder zurückkehrte.
»Ich muss los.« Er ratterte eine Wegbeschreibung zu einer Kirche außerhalb der Stadt herunter, wo Grace und Marguerite sich verstecken konnten. »Wartet dort auf mich.«
»Ich kann das nicht!«
Er hob ihr Kinn mit seiner Hand an. »Ihr müsst fliehen, Grace. Nur noch einen weiteren Tag.«
Ein weiterer Tag. Nach diesem Motto hatte sie nun schon monatelang gelebt. Mit Gottes Hilfe würde sie vielleicht vierundzwanzig Stunden durchhalten können. Auch wenn dabei jede Minute ihr Herz brechen würde.
»Gott sei mit euch!«, sagte Roland und küsste sie auf die Wange.
Dann war er verschwunden. Er machte sich auf den Weg, um in diesen Morgenstunden noch jemand anderem zu helfen.
Marguerite vergrub ihr Gesicht in Graces Wollrock, um nicht mitansehen zu müssen, wie ihr Bruder weggebracht wurde. Wie sollte sie dieses Mädchen zurücklassen können, um die anderen Kinder zu retten?
In Frankreich war derzeit nahezu alles unmöglich.
Die Soldaten zwangen zuallererst das älteste Kind – Suzel –, in den Lkw zu steigen. Grace hätte ihr Gesicht am liebsten auch irgendwo vergraben. Die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte, war einfach zu grausam. Doch wegsehen und die Angst der Kinder ignorieren, konnte sie auch nicht. Sie musste hinsehen trotz ihrer Ängste. Gerade wegen ihrer Ängste. Sonst würde es sich anfühlen, als würde sie die Kinder ein weiteres Mal im Stich lassen.
Von der Stelle, an der sie stand, konnte sie die Gesichter der Kinder nicht erkennen, nur ihre Schatten. Doch sie betete für jedes der Kinder, als diese in den Lkw gepfercht wurden.
»Schütze sie«, betete Grace flüsternd. »Zeig ihnen deine Liebe.«
Grace strich Marguerite durchs Haar. Die Tränen des Mädchens sickerten in ihren Mantel. »Es tut mir so leid!«
Marguerite blickte kurz auf und vergrub ihr Gesicht dann wieder in Graces Rock. »Die Farben haben in meinen Augen wehgetan.«
Grace sah keine Farben, abgesehen von den narzissenähnlichen Farben des Sonnenaufgangs, die die Sorgen in ihrem eigenen Herzen linderten. Wenn sie doch nur den Himmel wieder schwarz anmalen und das Licht wegwaschen könnte! Doch stattdessen musste sie mitansehen, wie diese Männer dort ihre Kinder mitnahmen. Und sie konnte nichts dagegen tun.
Eine der Nonnen aus der Kirche wurde ebenfalls mitgenommen. Und dann wurden auch die übrigen Kinder in den Lkw gepfercht. Bevor einer der deutschen Soldaten die Luke des Lkws schloss, zählte sie durch. Zehn. Nicht elf.
Hatte sie sich verzählt?
Ihre Augen suchten den Dorfplatz ab, doch sie konnte niemanden sehen.
Als die Lkws wegfuhren, schloss Grace die Augen und lehnte ihren Kopf an die Steinmauer. Die Kinder, um die sie sich hatte kümmern sollen, für die sie hatte kämpfen sollen, waren weg. Sie waren ihr anvertraut worden. Und sie, Grace, hatte versagt.
Marguerite warf sich ihren Tornister über die Schultern und machte sich bereit weiterzugehen.
Nur noch ein Mädchen war an Grace’ Seite. Ein Mädchen, das einen sicheren Ort brauchte.
Sie würde nicht noch einmal versagen.
Grace’ Blick schweifte noch einmal über den Platz auf der Suche nach dem elften Kind. Doch über der steinernen Passage und dem Dorfplatz lag Schweigen und Schockstarre.
Als Grace und Marguerite eilig Saint-Lizier verließen und in Richtung der mit Kiefern bewachsenen Hügel in der Ferne flohen, wurde Grace von einer Frage verfolgt.
Wie sollte sie jemals in der Lage sein, diese Kinder zu befreien?


Dobson, Melanie
Melanie Dobson hat Journalismus und Kommunikation studiert und war als Werbeleiterin tätig, bevor sie sich mehr und mehr dem Schreiben widmete. Eine besondere Vorliebe hat sie für Bücher, in denen Geschichte und Gegenwart miteinander verknüpft werden. Mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebt sie in der Nähe von Portland, Oregon.



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