Döring | Bibel statt Parteibuch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Döring Bibel statt Parteibuch

Mein Leben als Christ in der DDR
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86827-863-7
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Mein Leben als Christ in der DDR

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-86827-863-7
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



„Wie war das Leben damals in der DDR als Christ? Fragt man zehn Menschen, wird man zehn unterschiedliche Antworten bekommen. Meiner Meinung nach sollten wir voneinander wissen, was früher war, vor allem deshalb habe ich 25 Geschichten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls aufgeschrieben.“ Christian Döring
Mit seinen 25 selbst erlebten, authentischen Geschichten wirft Christian Döring 25 Schlaglichter auf die ganz besonderen Umstände, die den Alltag eines DDR-Bürgers bestimmten. Er stellt sich den Fragen von Christian Heinritz, einem gleichaltrigen „Westler“, und gewährt tiefe Einblicke in sein Aufwachsen und Leben als Christ in der DDR.
Für die, die erlebt haben, was es heißt, als „politisch Unzuverlässiger“ in einem sozialistischen Staat zu leben, holen sie das entsprechende Lebensgefühl aus der immer stärker hereinbrechenden Dämmerung des Vergessens und helfen ein kleines Stück weit, selbst Erlebtes zu verarbeiten.
Für die, die im Westen aufgewachsen sind, eröffnen sie ein Universum ebenso unbekannter wie spannender Erfahrungen, die helfen, die jüngste deutsche Geschichte besser zu verstehen.
Christian Döring nimmt uns alle mit auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit.

Döring Bibel statt Parteibuch jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1. Die Teilung der Welt

Herr Döring – ist das nicht schade? Vor zwei Jahren hätten wir – vielleicht mit einem Glas Rotkäppchensekt – so schön auf Ihr Doppeljubiläum anstoßen können: 25 Jahre Mauerfall und 50 Jahre Christian Döring. Dummerweise aber hat Herr Honecker die dafür notwendige, rechtzeitige Öffnung der innerdeutschen Grenze im Jahr 1987 verbaselt und uns diese Freude genommen. Aber – wer zu spät kommt, den bestraft bekanntlich das Leben und der Staatsratsvorsitzende musste ja dann die Folgen seines Starrsinns tragen. Das hilft Ihnen aber auch nicht viel weiter, denn ich kann mir vorstellen, dass Sie gerne verzichtet hätten auf diese unfreiwillige Verlängerung – die letzten 24 Monate DDR bis zum November 1989. 25 Jahre Sozialismus, 27 Jahre als Christ leben unter den Restriktionen eines atheistischen Staates, das hat Ihnen am Ende sicher gereicht.

Leider muss ich Sie enttäuschen, Herr Heinritz. Zumindest im Abstand von nun 25 Jahren bin ich ganz zufrieden damit, dass ich die letzten beiden Jahre in der DDR erleben durfte. Ich habe das Wunder der Wiedervereinigung von innen miterleben, mitgestalten und bestaunen dürfen, und das war mein bisher größtes Erlebnis.

Wie aber hat alles angefangen? Wo wurden Sie hineingeboren in dieses „Arbeiterparadies“? Und von wem?

Am Totensonntag 1962 wurde ich im Güstrower Schlosskrankenhaus geboren. Kein freudiges Ereignis. Mein Großvater war ziemlich verärgert darüber. Bessarabier sind halt nicht nur fromme Leute, sondern hin und wieder auch ein wenig abergläubisch. Seine Befürchtung war: Wer am Totensonntag geboren wird, der lebt nicht lange. Und tatsächlich wurde ich bereits nach drei Lebenstagen krank. Aufgrund einer schweren Ernährungsstörung nahm ich nicht zu, sondern ab, und das ist lebensgefährlich, jedenfalls bei einem Säugling. Anfang der 60er-Jahre wurden diese in ganz Deutschland nicht nach deren Hungerschrei, sondern nach Uhrzeit gefüttert. Aber ich war schon damals ein so sturer Mecklenburger, dass ich mich nicht nach der Uhrzeit richtete. Wenn ich meiner Mutter im Krankenhaus zum Stillen gebracht wurde, schlief ich tief und fest. War die Stillzeit dann um und ich schlief immer noch, hatte ich halt Pech gehabt. Und so schleppten mich meine Mutter und meine Patentante an meinem dritten Lebenstag zur Nottaufe in den Dom zu Güstrow.
Irgendwie schlug ich dem Aberglauben dann aber doch ein Schnippchen und die Nahrung gelangte nach der Taufe in regelmäßigen Abständen in mich hinein. An meinem zehnten Lebenstag wurde meine Mutter aus dem Krankenhaus entlassen und ich zog ins Güstrower Kinderheim ein. Mein Vater hatte nämlich eine offene Lungentuberkulose und durfte aufgrund der Ansteckungsgefahr nicht in engeren Kontakt mit mir kommen. Er durfte mich noch nicht einmal berühren. Das war sehr schwer für ihn. Jedes Wochenende kamen meine Eltern ins Kinderheim, um mich zu besuchen. Eine Stunde lang war Besuchszeit. Hatte die liebe „Tante Sissi“ Dienst, brachte sie mich einen Augenblick hinter eine große Glaswand im Treppenhaus, damit mein Vater mich zumindest kurz sehen konnte. Hatte allerdings die ungeliebte „Blabla“ Dienst, bekam mein Vater mich nicht zu sehen, denn Säuglinge durften das Säuglingszimmer eigentlich nicht verlassen. Ungeliebt war diese Tante bei mir, weil sie später nicht mit Klapsen auf meinen Hintern sparte.
An einem Wochenende, als ich etwas über ein Jahr alt war, hatte wieder „Blabla“ Dienst, als meine Eltern mich besuchten. Mein Vater machte ihr klar, dass er ein letztes Mal mitgekommen war. Seine Ärzte hatten ihn aufgegeben. Mit den Worten: „Wenn Sie mich heute nicht zu meinem Sohn lassen, dann schlage ich Ihnen die riesige Glaswand im Treppenhaus kaputt“, versuchte er mich wenigstens einmal in den Arm zu bekommen. Schwester Bärbel bekam Angst und lief weg. Für meinen Vater war der Weg frei. Meine Mutter zeigte ihm den Weg ins Säuglingszimmer. Er nahm mich auf seine Arme und gab mir einen ersten Kuss. Ich war damals 15 Monate alt. Dies war auch der letzte Kuss. Zwei Wochen später war er tot.
Damit durfte ich nach Hause. Dieses war in der mecklenburgischen Warnowstadt Schwaan. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche, in die es hineinregnete, waren unser Zuhause. Meine Mutter war damals in einem Krankenhaus als Krankenschwester tätig und musste natürlich abwechselnd in Tag- und Nachtschichten arbeiten. Aber der real existierende sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat hatte vorgesorgt. Es gab die sogenannten Wochenkrippen. Da wurden die lieben Kleinen montags um 6 Uhr abgeliefert und durften freitags ab 17 Uhr wieder abgeholt werden.
Lange hielt meine Mutter diese wöchentlichen Trennungszeiten aber nicht aus. Als ich drei Jahre alt war, wurde in unserer Kleinstadt ein dritter Kindergarten gebaut. Mit drei durfte man so eine sozialistische Bildungseinrichtung besuchen. Meine Mutter sattelte um. Aus der Krankenschwester wurde eine Hilfsköchin. Später, als sie bereits 50 Jahre alt war, machte sie ihren Facharbeiter, weil dies über 100 Mark mehr in der Lohntüte ausmachte.
So gingen wir beide täglich morgens um 6.30 Uhr in den Kindergarten. Ich in meine Gruppe und meine Mutter in ihre Küche. Monatlich fehlte ich an nur einem einzigen Tag. Meine Mutter nahm dann ihren Haushaltstag und brachte es nicht übers Herz, mich an ihrem freien Tag in den Kindergarten zu schaffen. Der Haushaltstag war sozusagen ein zusätzlicher bezahlter Urlaubstag im Monat, den der Arbeitnehmer – vorrangig die Frauen, aber auch alleinerziehende Männer – nehmen konnte, um sich um Haushaltsdinge oder Familienangelegenheiten zu kümmern.
Wir wohnten zehn Minuten Fußweg von meinem Kindergarten entfernt. Dieser lag mitten in einem soeben entstandenen sozialistischen Wohngebiet. Weil der letzte Parteitag der SED in Berlin es einstimmig beschlossen hatte, wurden zügig überall zwischen Rostock-Warnemünde und Suhl Wohngebiete in Form von schnell zu errichtenden Plattenbauten aufgebaut. Wir aber lebten weiterhin in einer kleinen Altbauwohnung ohne Kinderzimmer, Toilette und Bad für 20 Mark Monatsmiete. Diese war in keinem sonderlich guten Zustand. Das Fensterholz war zum Beispiel so morsch – wenn man da angefangen hat, mit dem Fingernagel dran zu puhlen, konnte es gut sein, dass man kurz darauf durch ein Loch ins Freie sehen konnte. Ich erinnere mich noch daran, dass einige Fensterflügel einfach zugenagelt waren, weil keine Haken zum Einhängen der Flügel mehr vorhanden waren und es keine neuen zu kaufen gab. Genauso wie es oftmals über Monate kein Klopapier zu kaufen gab. So habe ich mir bereits als Kind meinen Po mit dem Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, dem „Neues Deutschland“, gesäubert, das unsere Nachbarn abonniert und auf die Gemeinschaftstoilette gelegt hatten. Ich sehe mich noch in unserer kleinen Bretterhütte auf dem Hof sitzen. Im Dunkeln und bei minus 20 Grad Celsius war das kein Vergnügen.
Meine erste Wohnung, zu der auch eine Toilette und eine Badewanne gehörten, bezog ich erst 1994. Mein erstes Bad in der eigenen Badewanne habe ich mit 31 Jahren stundenlang genossen. Wie gerne wäre auch ich bereits 1966 in eine der neuen Plattenbauwohnungen gezogen. Da ich aber mit meiner Mutter allein lebte, hatten wir keine Chance auf so eine Wohnung. Wer von uns beiden hätte denn die AWG-Stunden ableisten sollen – jene Arbeitsstunden, die man als ganz normaler Mensch am Wochenende auf dem Bau für die Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft verrichten konnte? Auf diese Weise arbeitete man praktisch am Bau seines zukünftigen modernen Wohnhauses mit. Kies und Zement in den Mischer schippen und Außenanlagen herrichten sowie die Fachleute mit Handlangerdiensten unterstützen, das waren typische Arbeiten für jemanden, der AWG-Stunden verrichtete. Wer die meisten Stunden abgeleistet hatte, wurde natürlich bei der Wohnungsvergabe bevorzugt. Alles in allem ungünstige Umstände für eine alleinstehende Mutter mit einem kleinen Kind … Außerdem wäre eine Frau auf dem Bau damals eine mittlere Sensation gewesen, und wo hätte ich während dieser Zeit bleiben sollen?
In meinen Kindergarten ging ich sehr gern. Er lag direkt am Lindenbruch, einem kleinen Laubwald, in dem wir oft spielen durften. Vormittags beschäftigten sich die Erzieherinnen nach einem vorgegebenen Plan mit uns. Wir bastelten, gingen mal ins Kino, malten oder bekamen ein Märchen vorgelesen. Eine dieser Vormittagsstunden habe ich heute noch gut im Gedächtnis. Es muss in der Adventszeit 1967 gewesen sein.
Alle Kinder meiner Gruppe saßen im Stuhlkreis und meine geliebte Tante Vehlat erklärte, dass nun jedes Kind der Reihe nach aufstehen und sein Lieblingsweihnachtslied vorsingen dürfe. Ich sang sehr gern. Vielleicht nicht immer richtig, aber gern.
Als ich endlich mit dem Singen dran war, begann ich lautstark: „Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein‘ höchsten Bord, trägt Gottes So–“
Aber plötzlich war mit einem Schlag alles vorbei. Mitten in der ersten Strophe beendete meine Tante Vehlat meinen Gesang mit den Worten: „Dieses Lied wollen wir hier nie wieder hören!“
Ich setzte mich wieder in den Stuhlkreis und konnte mir überhaupt keinen Reim darauf machen. Meine Augen suchten erwartungsvoll die ihren, aber sie schaute mich nicht an. Was hatte ich nur verbrochen?
Abends zu Hause nahm mich meine Mutter auf den Schoß und erzählte mir, dass die Leiterin des Kindergartens heute bei ihr in der Küche gewesen sei. Sie hatte mit meiner Mutter geschimpft, weil ich ein Weihnachtslied gesungen hatte, in dem Gott vorkam. Meine Mutter und ich, wir glaubten an Gott, alle anderen in unserem Umfeld nicht.
„Versprich mir, dass du nie wieder so ein Lied im Kindergarten singst oder auch nur eine einzige Geschichte von Gott erzählst!“, forderte meine Mutter von mir.
Ich musste kräftig schlucken, aber geweint habe ich nicht. Was für Gedanken genau mir in Sekundenschnelle durch den Kopf schossen, weiß ich heute nicht mehr, auf alle Fälle musste ich an meine Oma in Serrahn denken und mich beschlich das Gefühl des Verrats an ihr. Wie heute weiß ich noch, dass ich meiner Mutter dann in die Arme gefallen bin und mir klar wurde, dass ich mich ab sofort in zwei Welten bewegen würde. Da hatte ich genau aufzupassen. Ich musste einteilen in die, die an Gott glaubten, und in die, die nichts von ihm wissen wollten. Zunehmend entwickelte ich ein Gefühl des Andersseins. Bei der Auswahl von Freunden und Gesprächsthemen checkte ich vorher ab, ob mein Gegenüber ein Hundertprozentiger oder Dreihundertprozentiger war. Das waren die ganz Gefährlichen. Erst danach wurden aus meinen Gedanken Worte oder gar Taten. Aus Angst, irgendetwas falsch zu machen, sagte ich oft nichts und entwickelte mich zum Schweiger. Dabei wusste ich damals noch nicht einmal, dass der Staat das Recht hatte, Eltern in bestimmten Fällen ihre Kinder wegzunehmen. Konnten sie beispielsweise nicht gewährleisten, dass sie ihre Kinder zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen, konnte der Staat das Sorgerecht übernehmen und die Kinder in Kinderheime oder den Jugendwerkhof stecken. Auch hierbei kam es darauf an, ob man es mit einem hundertprozentigen oder einem dreihundertprozentigen Genossen zu tun hatte. Wäre beispielsweise meine Kindergartenleiterin eine Dreihundertprozentige gewesen, hätte sie den Vorfall mit meinem Weihnachtslied der zuständigen Mitarbeiterin in der Abteilung Volksbildung beim Rat der Stadt Schwaan gemeldet. Im Normalfall wäre meine Mutter dann zu einem Gespräch ins Rathaus zitiert und abgemahnt worden. Hätte ich weiterhin im Kindergarten meine Lieder vom lieben Gott gesungen, wäre es der nächsthöheren Instanz, der Abteilung Volksbildung beim Rat des Kreises, gemeldet worden. Von dort wäre es nur noch eine Kleinigkeit gewesen, mich in ein Heim zu stecken.
Ob Ihnen als Kindergartenkind diese existenzielle Bedrohung bewusst war oder nicht – allein die schroffe Maßregelung durch die eigentlich geliebte Kindergärtnerin reicht aus, um einen Vier- oder Fünfjährigen zu verängstigen und gefügig zu machen. Warum aber wurde Ihr schlechtes Gewissen noch verstärkt durch den Gedanken an Ihre Großmutter?

Meine Großmutter war es, die mir die Liebe zu Jesus ins Herz gepflanzt hat. Wir beide sprachen sehr oft über ihn. Deshalb war es mir nach diesem Ereignis auch besonders wichtig, schnell zu ihr zu kommen. Ich liebte meine Großmutter über alles, für mich war sie neben meiner Mutter die wichtigste Person in meinem Leben. Im Nachhinein bin ich mir sicher, dass ich bei ihr gelernt habe, scheinbar feststehende Dinge zu hinterfragen und nicht alles so hinzunehmen, wie ich es vorfand.
Immer freitagnachmittags ließen wir mein Heimatstädtchen Schwaan hinter uns und fuhren zu meinen Großeltern in das kleine Dorf Serrahn direkt am Krakower See. Hier in diesem Paradies inmitten des real existierenden Sozialismus genoss ich es, der Liebling aller zu sein. Ich, der fünfjährige Steppke, brauchte auf nichts aufzupassen. Fast alle Bewohner des Dorfes waren bessarabische Flüchtlinge und alle glaubten an Gott. Sonntags saßen alle gemeinsam in der Kirche. Da sich die Wohnung meiner Großeltern im Pfarrhaus befand und ich mit dem Pastor sozusagen auf Du und Du war, erkämpfte ich mir allerdings einige Sonderrechte. Beispielsweise brauchte ich nicht in den mir verhassten Kindergottesdienst seiner Frau zu gehen. Die Pfarrfrau erzählte nämlich die Geschichten über Jesus nur sehr knapp und dazwischenfragen durfte ich nicht, und dabei war meine Neugierde bereits damals unerschöpflich. Vielleicht tue ich dieser Pfarrfrau auch unrecht, aber gegen meine Großmutter konnte niemand im Erzählen biblischer Geschichten mithalten. Mit ihr konnte ich stundenlang am Krakower See sitzen.Sie erzählte mir all die Geschichten und vor allem wusste sie auf alles eine Antwort.
Natürlich erzählte ich ihr mein Erlebnis mit Tante Vehlat. Sie saß schweigend da und konnte mir nicht weiterhelfen. Für mich war dies sehr schwer mit anzusehen. Dabei regelte meine Großmutter sonst immer alles zu meinen Gunsten. Hatte ich mal wieder etwas angestellt, sorgte sie dafür, dass die Strafe möglichst gering ausfiel. War in der Woche wieder ein Westpaket in Serrahn angekommen, sorgte sie dafür, dass es stehenblieb, weil ich so gern mit dem Karton spielte. Er roch so herrlich nach Westen und Freiheit. Und hätte ich es nach der Wende nicht schon oft von anderen Menschen bestätigt bekommen, hätte ich mich sicher nicht getraut, das hier zu schreiben. Aber der Duft, der von einem Westpaket ausging, war unbeschreiblich wohltuend, vom süßen Geschmack der Westschokolade ganz zu schweigen.
In der Sache mit Tante Vehlat konnte meine Oma mir zum ersten Mal nicht helfen. Dies war für mich ein so einschneidendes Erlebnis, dass ich mich nach fast einem halben Jahrhundert heute noch sehr gut daran erinnern kann.
Für mich, der ich der einzige noch verbliebene Enkel war – der andere hatte sich wie viele andere junge Leute gerade rechtzeitig vor dem Mauerbau in den Westen abgesetzt –, tat meine Großmutter alles, was ihr möglich war. Aber aus der Gefangenschaft meiner beiden Welten konnte nicht einmal sie mich befreien. Irgendwann tat es mir leid, dass ich solch große Hoffnungen in sie gesetzt hatte, denn ich sah, dass auch sie an dieser Situation litt.
Ich kann dieses Dilemma gut nachvollziehen, doch umso mehr stellt sich mir die Frage, wie die Leute in Serrahn – allen voran der Pastor – ihren Glauben so uneingeschränkt praktizieren konnten. Maßen die staatlichen Stellen mit zweierlei Maß?

Ja, das klingt heute alles, als wäre es in einer anderen Welt passiert. Viele Gesetze waren mal mehr, mal weniger dehnbar. Es gab Bürger, die konnten sich mehr erlauben, und andere wiederum haben wegen jeder Kleinigkeit Ärger mit den Genossen der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises bekommen. Dort gab es immer einen zuständigen Mitarbeiter für Kirchenfragen. Dieser war stets ein Genosse und ganz inoffiziell in den häufigsten Fällen auch gleichzeitig ein Mitarbeiter des MfS.
So kann es also sein, dass heute einem Pastor vorgeworfen wird, er habe mit der Staatssicherheit gesprochen, ihm dies aber damals überhaupt nicht bekannt war, weil die Mitarbeiter in den Abteilungen für Inneres oft zwei Herren dienten. Und auch da kam es wieder auf den einzelnen Menschen an, mit dem man es zu tun hatte. Auch da gab es die Hundertprozentigen. Traf man auf sie, kam man oft mit einem blauen Auge davon. Geriet man allerdings an einen Dreihundertprozentigen, dann spielte dieser in den meisten Fällen seine Macht aus und es machte ihm große Freude, sein Gegenüber zu schikanieren. Solche Leute waren es oft auch, die dafür sorgten, dass Kinder in Heime oder den Jugendwerkhof kamen und dem Staat das Sorgerecht übertragen wurde oder dass jemand ohne Prozess in den Knast kam.
Bei den Bessarabiern in Serrahn war ich im ganzen Dorf als das „neugierige Krischtschanlein“ bekannt, das immer etwas zu erzählen wusste. Ein Mann aus dem Dorf brachte mir den Spruch bei: „Walter Ulbricht ist unser Chef, Willi Stoph unser Ministerpräsident, und ich bin seine rechte Hand.“ Diesen Spruch konnte ich in Serrahn überall, an jeder Haustür erzählen. Alle haben sich mächtig amüsiert und es war für mich völlig ungefährlich. Serrahn bestand so gut wie nur aus Bessarabiendeutschen. Jeder kannte jeden. Jeder vertraute jedem. Rückblickend ist dieser Ort für mich ein heiliger Ort. Es vergeht kein Jahr, in dem ich nicht mindestens einmal dorthin zurückkehre.
Es war halt ein kleiner geschützter Ort. Die Einwohner sprachen einen bessarabischen Dialekt. Sehr gut kann ich mich noch an eine Geschichte aus jener Zeit erinnern. Einmal in der Woche kam ein Schiff über den Krakower See gefahren. Es holte morgens die einkaufswilligen Serrahner ab. Diese hatten dann zwei Stunden Zeit, in Krakow einzukaufen. Damals gab es noch viele Tante-Emma-Läden. Wann immer es ging, nahm meine Großmutter mich mit. Und so standen wir beide vor dem Verkaufstresen und meine Oma las alle Wünsche vor, die auf ihrem Einkaufszettel standen. Die Verkäuferin stellte auch alles auf den Tisch, lediglich als sie hörte: „Und dann hätt ich gern noch a Fläschle Lemonagschmack“, schaute sie einen Moment unsicher und antwortete dann schnell: „Nein, so etwas haben wir nicht.“
Meine Großmutter schaute siegessicher in Richtung der kleinen gelben Fläschchen und zeigte darauf: „Na da steht doch der Lemonagschmack.“ Wütend meinte die Verkäuferin: „Bei uns heißt das Zitronengeschmack. Sie kommen bestimmt aus Serrahn, wo sie alle so komisch reden.“ Ich bekam einen roten Kopf. Meine Großmutter antwortete nichts. Wir zahlten und gingen aus dem gut mit Kundschaft gefüllten Laden. Einige lachten wohl auch. Aber das war ja auch die andere Welt.
Serrahn war wirklich eine Welt für sich. Fuhren die Leute aber an Werktagen nach Krakow am See oder Güstrow zur Arbeit, war Schluss mit lustig und auch sie mussten wieder auf jedes Wort, das sie sprachen, aufpassen. Auch mir als Kind war zu diesem Zeitpunkt völlig klar, dass ich meinen Spruch niemals in Schwaan erzählen dürfte. Politische Witze waren damals absolut tabu, und wer sich dabei erwischen ließ, musste im schlimmsten Fall mit Gefängnis rechnen.
Heute ist die Dorfgemeinschaft der Bessarabiendeutschen in Serrahn längst auseinandergefallen. Die Kinder und Enkel der Bessarabier zog es schon zu meinen Kindertagen in die Städte. Dort, wo sie Berufe erlernten, gründeten sie auch ihre Familien und viele entfernten sich im Lauf der Zeit immer mehr von Gott. Somit bekam die SED letztlich doch, was sie wollte.


Christian Döring wurde 1962 in Güstrow in der DDR geboren. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder. Heute rezensiert er vor allem christliche Literatur für seinen Bücherblog "bücherändernleben".



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.