E-Book, Deutsch, 362 Seiten
D'Orazio Der Duft von Zitronen
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7844-8295-8
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 362 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8295-8
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Am Ende der Sehnsucht liegt das Glück doch in Italien! Carolina ist Zuckerbäckerin mit Leib und Seele. Nur die Liebe lässt auf sich warten. Eines Tages soll ihr kleines Café Immobilienhaien zum Opfer fallen – die Rettung kommt von unerwarteter Seite. Denn Carolinas Gegenspieler bringt ihr verbotene Gefühle entgegen. Kann sie ihm vertrauen?
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1
»Moment noch!«, rief Carolina und wischte sich mit der freien Hand einen Sahnefleck von der Stirn. »Bin gleich fertig.« Ihre Tante Annette stand in der Tür zur Backstube – groß, hager und mit zwei Zornesfalten auf der Stirn. »Das Lokal ist voll, und im Garten stehen die Leute Schlange. Wir haben den ersten schönen Sonnentag, mitten im April. So etwas will ausgenutzt sein.« Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Arbeitsplatte. »Du musst bedienen, Kind, du kannst nicht nur deinen Schokoladenträumen nachhängen. Sonst können wir demnächst unser Geschäft zumachen.« Carolina seufzte leise. Sie hatte gehofft, noch ein wenig Zeit für ihre neueste Kreation zu haben: Sahnetrüffel mit einem Hauch von Eierlikör. Außerdem hatten sie gestern die Kokoskugeln restlos ausverkauft. Zwar zu einem Sonderpreis, der kaum die Kosten deckte, aber immerhin. Außerdem mussten die Kunden nach und nach zu Pralinenliebhabern erzogen werden. Irgendwann würden sie damit auch gut verdienen. Carolina war gern Konditorin, aber sie liebte es, Pralinen herzustellen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie überhaupt nichts anderes gemacht, als den lieben langen Tag lang und gern auch die halbe Nacht kleine süße Spezialitäten zu erschaffen. Doch das waren, wie Annette ganz richtig sagte, Träume, und die Wirklichkeit stellte andere Anforderungen. Das Café Sonnenschein musste Gewinn abwerfen, wenn sie beide davon leben wollten, und das bedeutete für Carolina: täglich viele Kuchen backen, köstliche Torten erschaffen und Bleche voller Plätzchen aus dem Ofen holen. Außerdem natürlich die Gäste bedienen. Carolina stellte das Tablett mit den Sahnetrüffeln beiseite, drehte sich um und lachte ihre Tante an. »Nicht böse sein, ich geh ja schon.« Zwei Minuten später eilte sie von Tisch zu Tisch. Unter ihrer Schürze trug sie eine weite Bluse und einen flatternden Glockenrock, der vielleicht vor zwanzig Jahren modern gewesen war. Carolina kümmerte das nicht. Mit Mode hatte sie nie viel im Sinn gehabt. Wie reizvoll gerade diese etwas altmodische Kleidung an ihr wirkte, fiel ihr selbst gar nicht auf. Sie nahm Bestellungen auf, servierte Kännchen mit heißem Kaffee, dazu Schwarzwälder Kirsch und Nusstorte, nahm sich bei den Stammgästen ein, zwei Minuten Zeit für einen kleinen Plausch und verbreitete mit ihrem einmaligen Lachen rundherum gute Laune. Manche Leute behaupteten ja, das Café sei nach ihr benannt, weil Carolina wie ein Sonnenschein durchs Leben ging. Das norddeutsche, meist graue und nasskalte Wetter konnte unmöglich bei der Namensgebung eine Rolle gespielt haben. Niemand erlebte Carolina je anders als fröhlich, niemand ahnte, dass sich hinter ihrem Lachen eine große, tiefe Traurigkeit verbarg. Carolina hatte sich im Griff. Nur manchmal konnte man hinter ihre Fassade schauen. So wie jetzt, als sie in den Garten kam und die kleine Familie am Tisch unter der alten Eiche entdeckte. Sie kannte die Leute nicht, trotzdem traf sie der Anblick mitten ins Herz. Mutter, Vater und eine Tochter von fünf, höchstens sechs Jahren. Die Mutter war mit ihren hellblonden Haaren und den klaren Augen eine nordische Schönheit, der Vater wirkte südländisch, die Tochter hatte von beiden Elternteilen das Beste geerbt. Carolina blieb stehen und musste schlucken. Das Kuchentablett zitterte in ihrer Hand, ihre Augen begannen zu schwimmen. Diese Frau sieht Mama so ähnlich, dachte sie. Und der Mann – ob mein Vater damals wohl so ausgesehen hat? Sie hatte nie ein Foto von ihrem Vater gesehen und eigene Erinnerungen an ihn besaß sie nicht. Dafür war sie zu klein gewesen. Alles, was Carolina wusste, war, dass er Italiener war und dass er die kleine Familie kurz nach Carolinas erstem Geburtstag verlassen hatte, um zurück in seine Heimat zu kehren. Seitdem wurde von ihm nicht mehr geredet. Es war, als hätte es ihn nie gegeben. Carolina unterdrückte das Zittern in ihren Händen, aber sie konnte noch nicht den Blick von der kleinen Familie lösen, die so glücklich wirkte, so vollkommen mit sich und der Welt im Reinen. Das Mädchen, fand sie, hatte nicht viel mit ihr gemein. Es war sehr dünn und blass, während Carolinas Haut als Kontrast zu ihren hellen Haaren einen leichten Bronzeton hatte. Außerdem war sie schon immer ein wenig füllig gewesen. Trotzdem – so hätte ihre eigene Familie sein können, wenn Papa nicht verschwunden wäre, wenn Mama nicht einige Jahre später diese schrecklichen Kopfschmerzen bekommen hätte, die nicht mehr weggingen und an denen sie schließlich starb. Carolina, damals sieben Jahre alt, verstand das nicht. Sie hatte auch manchmal Kopfschmerzen, besonders wenn sie zu viel Schokolade naschte. Aber daran starb man doch nicht. Was ein Hirntumor war, begriff sie nicht. Nur dass ihr Leben plötzlich ein anderes war, das wurde ihr schnell klar. Sie musste zu Tante Annette ziehen, Mamas älterer Schwester, die so groß und streng und still war und niemals lachte. »Pack deine Sachen«, sagte sie nach der Beerdigung, bei der Carolina die ganze Zeit geweint hatte. Weil Mama tot war und weil Tante Annette an ihr zog und ihr dabei fast die Hand zerquetschte. »Alles, was in einen Koffer geht. Du kommst jetzt mit zu mir.« Es war eine lange Fahrt von Hamburg in den Norden, jedenfalls kam sie Carolina sehr lang vor. Sie schlief darüber ein und träumte, ihre Mama würde ihr einen Zitronenkuchen backen. Das hatte Mama wirklich manchmal getan, und als Carolina später unsanft wach gerüttelt wurde, hatte sie noch den süßherben Geschmack auf der Zunge und der Duft kitzelte ihre Nase. Sie musste niesen. »Fang bloß nicht wieder an zu heulen«, sagte Tante Annette, schnappte sich den Koffer und überließ es Carolina, ob sie ihr folgen wollte oder nicht. Sie sah hoch an der grauen Fassade, kletterte aus dem Auto, ging durch die Haustür, die steile Treppe hoch in eine Wohnung, die dunkel war. Die Tante wies mit dem Zeigefinger in Richtung Schlafzimmer. »Du schläfst in meinem Bett, ich nehme das Sofa.« Carolina fürchtete sich in dem großen Bett, fürchtete sich vor dem riesigen dunklen Schrank und vor der grau gewordenen Tapete. Sie kroch ganz tief unter die Decke, immer noch mit dem Geschmack von Zitronenkuchen im Mund. Mitten in der Nacht wachte sie von einem bösen Traum auf. Jemand hatte sie mit Erde zugedeckt, bis sie gar keine Luft mehr bekam. Carolina schluchzte vor Angst, aber sie traute sich auch nicht, nach nebenan zu der strengen Tante zu gehen. So ging es viele Nächte lang und das Kind gewöhnte sich an, seinen Kummer für sich zu behalten. Später erinnerte sie sich nicht mehr an diese erste Zeit. Nur, dass ihr die Farben fehlten, das wusste sie noch. Irgendwie war alles grau bei Tante Annette, die Einrichtung, das Leben, die Stimmung. Unten im Haus gab es ein Café, in dem die Tante Blechkuchen und Kaffee anbot. Es kamen nie viele Gäste. Carolina dachte, dass die Leute sich auch vor dem Grau fürchteten. Erst mit der Zeit fanden Tante und Nichte einen Weg zueinander. Es begann damit, dass Carolina um ein eigenes Zimmer bettelte. »Die kleine Kammer, bitte, bitte, liebe Tante.« Und sie wollte sie selbst einrichten. »Für so einen Schnickschnack habe ich kein Geld.« Aber Carolina ließ nicht locker und schließlich setzte sie sich durch. Sie durfte sich die wenigen Möbel selbst aussuchen und sie wählte ein knallrotes Bett mit hellblauer Bettwäsche, einen rosafarbenen Schrank und einen grünen Schreibtisch, an dem sie ihre Hausaufgaben machte. Mit den Farben wurde auch das Leben ein wenig leichter. Die Tante entdeckte, dass sie selbst auch ein Herz besaß, und das Kind fand irgendwann sein Lachen wieder. Aber niemals verlor Carolina ihre tief sitzende Unsicherheit. Bei allem, was sie tat, fürchtete sie sich vor einer neuen Katastrophe in ihrem Leben, und die Angst, sie könnte schuld daran sein, ließ sie niemals ganz los. Als Carolina die Schule abgeschlossen hatte, zog sie nach Hamburg und machte eine Konditorlehre. Sie wollte nun ihr Leben selbst gestalten, aber sie merkte bald, dass dieser Schritt noch zu groß war für sie. Sie hielt die Einsamkeit kaum aus und in der Backstube machte sie aus Unsicherheit so viele Fehler, dass sie davon überzeugt war, sie würde niemals ihre Gesellenprüfung schaffen. Zu ihrer Überraschung ließ ihr Meister sie dann trotzdem bestehen. Er war im Grunde ein gutmütiger Mensch und sein junges Lehrmädchen tat ihm leid. »Wenn du mal kein Nervenbündel bist, hast du was drauf«, sagte er und klopfte ihr so fest auf die Schulter, dass sie fast in die Knie ging. Kurz war Carolina dann doch versucht, ihren eigenen Weg zu gehen, aber sie merkte auch, dass ihr Annette fehlte. Die Tante war nun mal die einzige Familie, die sie noch hatte, und in Hamburg fühlte sie sich schrecklich allein. So kehrte sie zurück, mietete sich eine eigene Wohnung im selben Haus und arbeitete mit in dem Café, dem sie als Erstes den Namen Sonnenschein verpasste. »Das klingt albern«, protestierte Annette und wies auf die dunklen Regenwolken, die schwer und prall gefüllt am Himmel hingen. Aber Carolina ließ sich nicht beirren, malte die grauen Wände orangerot wie der Sonnenuntergang und strahlend blau wie das Meer an und tauschte nach und nach das alte Mobiliar gegen helle freundliche Möbel um. Sofort war das Café wie verwandelt. »Jetzt schlägt dein italienisches Erbe durch«, behauptete Annette, war aber nicht bereit, auch nur ein Wort mehr zu verraten. Carolina versuchte oft, die Tante nach ihrem Vater auszufragen. Aber viel mehr als seine Nationalität erfuhr sie nie. »Er ist verschwunden, als du gerade ein Jahr alt warst«, sagte Annette und ihre...