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E-Book, Deutsch, 608 Seiten

Dotzer Goldener Boden


1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95890-513-9
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 608 Seiten

ISBN: 978-3-95890-513-9
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mit Fleiß und Fortüne baut Gustav Hirsch in Hinterpommern Anfang des 20. Jahrhunderts ein Vermögen auf. Den Grundstock legt sein Aufenthalt in Amerika. Der 19-jährige Bauernsohn ist von Freiheitsdrang erfüllt, er flieht vor dem Kommiss und findet Arbeit bei einem deutschen Friseur in New York. An der Lower East Side lernt er eine Welt kennen, die viel härter ist als alles, was er sich hat vorstellen können – und die ihm zeigt: Nicht überall hat die Obrigkeit das Sagen, und auch ohne Befehl und Gehorsam kann sich eine Gesellschaft organisieren. Gustav findet Anschluss unter deutschen Einwanderern, und er verliebt sich in Lisbeth, die Tochter seines Chefs. Aber dann muss er zurück nach Stolp: Zwei Brüder sind tot und seine verwitwete Mutter allein.

Im März 1945 flüchtet Clara, Gustavs Tochter und jüngste Friseurmeisterin Pommerns, mit vier kleinen Töchtern über die Ostsee. Zunächst in einer Dachkammer in einem thüringischen Dorf, später in Kiel beweist sie, was das alte Sprichwort sagt: Handwerk hat goldenen Boden. Mit nichts als ihrer Hände Arbeit baut sich die Familie eine neue Existenz auf. Sie essen und trinken, erwerben Häuser und feiern Hochzeit – und doch ist zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Denn über allem hängt der Schatten des Schweigens, das, wovon man nicht spricht: die SS-Vergangenheit von Claras Mann.

In Ulrike Dotzers Roman verdienen drei Generationen von Friseuren ihr Geld damit, Menschen schöner zu machen. Wir schauen mit ihnen und ihren Kundinnen und Kunden in den Spiegel und erblicken – auch uns selber. Denn so wie ihnen erging es im letzten Jahrhundert Millionen von Menschen: Sie bauten Wohlstand auf, verloren ihn wieder und fingen von vorne an – trotz der inneren und äußeren Wunden, die der Zweite Weltkrieg ihnen geschlagen hatte. Und so ist dies auch ein Buch über die Angst und den Schmerz in vielen von uns, über die Einsamkeit derer, die im Krieg Kinder waren, und von Erfahrungen, die fortwirken im Verhältnis zu den eigenen Kindern und Enkeln.

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1.KAPITEL
Ellis Island, 2. April 1896
Gustav steht auf dem Platz vor der Halle und hat Angst. Den Koffer hält er in der einen Hand, das mit dem Federbett verschnürte Paket und die Geige in der anderen. Drei Gepäckstücke sind erlaubt. So viele Menschen auf einem Haufen! Ein Gewirr von Sprachen, Gerüchen, Kommandos, die er nicht versteht. Die Menge schiebt sich langsam voran. Wo ist Max abgeblieben? Max aus Kolberg, der einzige ihm halbwegs vertraute Mensch, abgesehen von Leon, den sie beide erst an Bord kennengelernt haben. Max Brausewetter, eine Bekanntschaft, so wichtig wie eine Fahrkarte. Dass sie sortiert würden bei der Ankunft in Ellis Island, das war schon klar, das hatten sie ihnen schon in Hamburg und auf dem Schiff gesagt. Am Abend vor dem Einlaufen kam ein Offizier aufs Zwischendeck, teilte die Papiere aus und sagte ihnen, dass zuerst die Gesundheitsprüfung käme. Aber dass so viele andere Schiffe da sein würden, mit Scharen von Passagieren, und sie alle hier gemustert würden, sich wie beim Kommiss ausziehen müssten, damit hat er nicht gerechnet. Er ist zwar gesund, ein neunzehnjähriger Junge aus Pommern, der alles auf eine Karte setzt, aber er hat diese rechte Hand, die nicht so gut zufassen kann wie die andere, und vielleicht ist das nicht genug. Nicht genug, um Amerikaner zu werden! Vielleicht nehmen sie hier nur Arbeiter, größer als einen Meter achtzig und mit zwei Pranken, Händen, denen man zutraut, Häuser entlang dem Hudson River hochzuziehen. Schultern, die Balken tragen können. Herzen, die schwindelfrei sind. Gustav zuckt zusammen. Ein Schrei hackt hinein in seine Gedanken. Eine magere Frau mit Kopftuch, ein Kleinkind auf dem Arm, kreischt, als gelte es ihr Leben. Offenbar schreit sie nach ihrem Sohn, der abhandengekommen ist. Drei weitere Rotzlöffel drängen sich an sie. Italienisch, das muss Italienisch sein. An Bord hatte es keine Italiener gegeben, da waren die meisten Russen, Deutsche und Leute aus der Habsburger Monarchie. Familien, aber auch viele junge Männer, einige aus Polen, allein wie er. Wo ist Max geblieben? Vergeblich späht er in alle Richtungen. Es ist ein warmer Nachmittag, und der nervöse Lärm der Menge mischt sich mit ihren Ausdünstungen, sie alle haben sich seit zehn Tagen kaum waschen können. Einige, er rümpft die Nase, tun das vielleicht auch nie. Für die Einreise hat er an diesem Morgen einen weißen Kragen angelegt. Die Menschen bilden Trauben, die in Bewegung geraten, sich verschlanken, bis eine einzige Schlange sich auf den Eingang zu bewegt. »Gepäckaufbewahrung rechts« – er atmet auf, als er Worte in seiner Sprache liest. Die Prozedur in der roten Halle dauert vier Stunden.1 Schemenhaft nimmt er die amerikanische Flagge wahr, die unter der Decke hängt. Darunter ein Labyrinth von Gängen und kleinen Räumen, durch Metallgitter gebildet, so platzsparend wie auf einer Viehauktion und von Stimmengewirr erfüllt. »Männer nach rechts!« »Wollen Sie Gepäck aufbewahren?« Auf keinen Fall! Bestohlen zu werden steht ganz oben auf der Liste seiner Ängste. Taugt sein Körper für die Neue Welt? Schon steht er im Unterhemd. Ein Arzt für Rachen, Nase und Lunge, zwei andere für die Augen. Die Untersuchung, im Stehen durchgeführt, ist scheußlich: Mit einem Haken hebt der Doktor die Augenlider, während ein anderer hineinleuchtet. Der Junge vor ihm in der Reihe erntet ein Kopfschütteln, dann drückt ihm der Arzt einen gelben Zettel in die Hand. »Get your things, come along!« Hinter der Stellwand aus Stoff, die die Sicht kaum und Geräusche gar nicht hindert, steigt ein Schluchzer empor. Und schon führen zwei Männer in blauen Anzügen den Jüngling ab. Gustavs Beklommenheit wächst. Musterung, das gibt es in Pommern auch. Da wird es nur viel sperriger ausgedrückt und umständlicher betrieben. Dem hat er sich entzogen, das ist sein Geheimnis, er teilt es mit Max, das haben sie einander schon in Hamburg auf dem Grasbrook anvertraut, als sie ihr Gepäck aufgaben, und es schweißt sie zusammen. Den Aufruf der »Ober-Ersatz-Kommission«, veröffentlicht im Kreisblatt für Lauenburg, am 30. März vor dem »Gasthof Jäger« zu erscheinen, wie alle Jünglinge, die in diesem Jahr zwanzig werden, hat Gustav ignoriert. Da war er schneller. Er hatte die Anzahlung an die HAPAG schon gemacht. Sollte doch das »Departement-Ersatz-Geschäft« andere Jungs in die Kasernen holen! Die Beamten hier mustern auch, aber keiner trägt Uniform – die Männer in Westen und Hemden sehen eher aus wie Buchhalter. Ob sie was gegen seine Einwanderung haben? »Naturalisation«, das hat er auf der Augusta Victoria gelernt, darum geht es hier nicht, das kommt später. So lautet das Wort für Einbürgerung: Na-tju-rae-lei-säi-schen. Tatsächlich muss Gustav auch die Füße zeigen, vor kritischen Blicken einige Schritte machen. Sein Herz flattert. Was werden sie zu seinen Händen sagen? Da reicht dem Doktor ein kurzer Blick. Dann ein barscher Befehl. Schuhe anziehen! Und weiter geht es. Die Gänge münden in Wartebereiche, so eng, dass die Bänke hintereinanderstehen wie in der Kirche. Da hocken die Wartenden und kämpfen um Fußraum, darum, Bündel und Koffer in der Nähe zu behalten. Die meisten haben – misstrauisch wie er – das Angebot, Gepäck aufzubewahren, abgelehnt. Ein Trommelfeuer von Namen prasselt durch den Raum: Sie werden einzeln aufgerufen. Jeder lauscht angestrengt in der Furcht, seinen Aufruf zu verpassen. »Gustav Hirsch!« Er springt auf die Füße. An einem Pult warten die nächsten Gatekeeper zur Neuen Welt. »Where are you from?« Zwei Beamte blicken prüfend auf ihn herab. »Germany.« Einer wechselt ins Deutsche: »Wie alt sind Sie?«, »Wohin wollen Sie?« Und dann: »Warum nach New York?« Das ist eine naheliegende Frage, aber sie bringt ihn ins Schwitzen. Dabei hat er seit Monaten an nichts anderes gedacht! »Ich … ich will mir Arbeit suchen. Eine große Stadt … ich hoffe …« »Bargeld?« Er nestelt umständlich an seinem Gürtel. Die beiden runzeln die Stirn. »Fifty dollars are requested!«, sagt der eine, und der andere übersetzt. Gustavs Herz schlägt bis zum Hals. Mehr als vier Dollar hat er nicht. »Ich hab zwei Hände zum Arbeiten!« Er zeigt seine Hände. »Oh boy, there are thousands like you in Manhattan, all of them unemployed«, sagt der andere. Die Beamten, es sind Männer mittleren Alters mit Stirnglatzen, für Gustav sind es alte Männer, sehen einander an. Der eine seufzt. Dann schießt er weiter Fragen ab: Wohin genau und zu wem? Angehörige? Adressen! Gustav nestelt ein Blatt mit den Adressen des Deutschen Emigrantenhauses, der Kirchengemeinde St. Paul und des Christlichen Wohnheims aus seinem Gürtel und hält den Atem an. »Wollen Sie in den USA bleiben?« »Ja«, sagt Gustav entschlossen. Hinter ihm weht ein Weinen und Klagen durch die Halle, einem Seufzen gleich, das erklingt und verebbt. Dies ist das erste Mal, dass er seit seinem Aufbruch mit Wehmut an seine Mutter in Budow denkt. Und es schnürt ihm den Hals zu. Mütter mit Kindern dürfen – anders als die anderen – in der Halle zusammenbleiben. Hat so eine Mutter aber keinen Mann, der kommt, um sie abzuholen, hat sie keine Briefe von Angehörigen, die irgendwo in Amerika warten, geschweige denn Bargeld vorzuweisen, dann steht es schlecht für sie. Diese Unglücklichen bleiben hängen, wie Klumpen im Sieb, zu eng die Maschen, kein Loch groß genug für sie, schon werden sie abgeführt und eingesperrt. Auf einem der nächsten Schiffe geht es für sie zurück nach Europa. Aber irgendwann ist es geschafft: Gustav gehört zu den Glücklichen, die auf der richtigen, Manhattan zugewandten Seite die Halle wieder verlassen dürfen. Die Erleichterung macht sich Luft. Ihre Stimmen heben sich wie Lerchen in den Himmel, während die Sonne des späten Nachmittags den Hudson und die Silhouette von Manhattan zum Glühen bringt. Goldbraun und gewaltig. Eine Welle der Euphorie gleitet durch die Menge und eint sie für eine kleine Weile. Sie alle sind da, haben ihre Papiere in der Hand. Und Gustav gehört zu ihnen! Einen solchen Augenblick hatte es auch an Bord gegeben, als sie noch an Deck standen, schweigend, weil überwältigt vom Anblick der Freiheitsstatue. »America, I kiss your ground«, rief plötzlich ein alter Jude. Da ging eine Bewegung durch die Menge, ein Räuspern und Schniefen. Für Sekunden verschmolz, was jeder Einzelne fühlte, es floss zusammen, als wären sie ein...


Ulrike Dotzer wurde in Kiel geboren und arbeitete nach einem Aufenthalt in Montreal zunächst als Journalistin für Tageszeitungen in West- und Ostdeutschland, u.a. das "Hamburger Abendblatt", die "Kieler Nachrichten" und die "Norddeutsche Zeitung" in Schwerin.

1997 ging sie zum Norddeutschen Rundfunk, wo sie seit 2001 für Programme des Europäischen Kulturkanals ARTE verantwortlich ist. Etliche der von ihr redaktionell verantworteten Sendungen wurden mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Europäische Filmpreis (für "Another day of life"), der Deutsche Fernsehpreis (für "Die Nacht der großen Flut") und zuletzt 2021 der Grimme-Preis (für "Afghanistan. Das verwundete Land"). Immer wieder widmet sich Ulrike Dotzer fürs Fernsehen historischen Stoffen und macht diese mit AutorInnen und ProduzentInnen für ein breites Publikum attraktiv, z.B. in "Eine Familie unterm Hakenkreuz" (2021). Sie fördert Erzählweisen, in denen sich Fiktion und Dokumentation verweben.

Ulrike Dotzer hat seit ihrer Jugend immer wieder Osteuropa bereist und fühlt sich besonders unseren polnischen Nachbarn verbunden. So unterstützt sie das Weimarer Dreieck der Frauen, das auf zivilgeschichtlicher Ebene Polinnen, Deutsche und Französinnen zusammenbringt. Lange ist sie den Spuren ihrer Familie nachgegangen, die 1945 aus Pommern nach Thüringen flüchtete und drei Jahre später aus der sowjetischen Besatzungszone nach Schleswig-Holstein. Die Lebenswege ihrer Vorfahren haben ihren ersten Roman inspiriert.



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